Rezensionen

Kunst zum Hören: Gesamtkunstwerk Expressionismus 1905-1925, hrsg. von Ralf Beil, Hatje Cantz 2010

Bislang wurden die künstlerischen Gattungen des Expressionismus vorzugsweise separat behandelt: Der Original-Audioguide zur Ausstellung "Gesamtkunstwerk Expressionismus" und der begleitende Bildband hingegen widmen sich zum ersten Mal dezidiert den markanten Wechselwirkungen von Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur in den Jahren 1905 bis 1925. Walter Kayser hat den Audioguide für Sie unter die Lupe genommen.

Expressionismus©Hatje Cantz
Expressionismus©Hatje Cantz

»Du musst Caligari werden!« wirbt das Plakat des seinerzeit sehr berühmten Films. Auf dass die verstörten Massen der Nachkriegszeit die Kunstwelt des Kinos stürmen und verstört (wie seinerzeit Kafka) heraustaumeln und in ihrem Dusel fast von der vorbeirasenden Straßenbahn überfahren werden. Wer dieser Einladung tatsächlich folgte, vor dem spulte sich im Dunkel des Kinosaals eine haarsträubende Geschichte ab: Ein verrückt gewordener Irrenarzt gleichen Namens setzt die düsteren Mordprophezeiungen, welche zuvor ein somnambules Medium namens Cesare auf einem Jahrmarkt ausgestoßen hat, in die Tat um. Ein Kommissar kommt ihm auf die Schliche, wird dann aber selbst wahnsinnig und verschwindet im Irrenhaus. So kann das Morden weiter gehen. – Der deutsche Stummfilm »Das Cabinet des Dr. Caligari« (1919/20) von Robert Wiene ist nicht nur ein Meilenstein der Filmgeschichte, sondern auch so etwas wie ein Brennpunkt der Ausstellung »Gesamtkunstwerk Expressionismus« auf der Darmstädter Mathildenhöhe, die in den nächsten Tagen zu Ende geht.

Wurden bislang die einzelnen Sparten dieses Kunststils eher separat betrachtet, so ist es mit dieser Übersichtsschau eindrücklich gelungen. Film, Malerei, Architektur, Plakate, Raummodelle, Design, Fotos, Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Tanzdokumente werden zu einem großen Kulturpanorama zusammengeführt. Im Falle des »Caligari« ist der gattungsübergreifende Aspekt besonders offensichtlich. Die Verwandtschaft von Film und Drama, — nicht von ungefähr eine bevorzugte Ausdrucksform dieser Epoche — liegt in der emotionalisierenden Suggestion begründet. Aus Dichtern wurden Drehbuchautoren, die ihre affektiven Erschütterungen nun massenwirksam herausschleudern konnten. Dabei wurden die Kulissen zu diesem Film von den drei Malern Walter Reimann, Herrmann Warm und Walter Röhrig gefertigt. Es ist dieselbe Formensprache wie bei Kirchner oder Schmidt-Rottluff: aufreißende Diagonalen, gewagteste perspektivische Verkürzungen, harte Hell-Dunkel-Kontraste. Mit maskenhaften Gesichtern und greller Schminke, übertriebener Gestik und exaltierten Bewegungen wird das „Oh-Mensch“-Pathos geradezu choreografiert. Stark stilisierte Formen ersetzten die Außenräume (übrigens nicht zuletzt auch aus Budgetmangel) durch enge, bedrückende, gemalte Innenwelten.

Sicherlich war vielen Besuchern der Ausstellung bewusst, dass es manch dichtende Doppelbegabungen unter den Künstlern dieser Zeit gab: Kokoschka, Barlach, Schiele oder Else Lasker-Schüler, Arnold Schönberg. Aber die „Vernetzung“ aller Künste, wie man heute sagen würde, war ein Prinzip. Sie entspringt dem Bedürfnis nach einem totalen und kompromisslosen, allumspannenden Aufbruch, jenem lebensreformerischen Trend, der nicht erst mit dem Jugendstil begann, sondern spätestens in Richard Wagner 1849 seinen modernen Propagandisten fand. So war Oskar Kokoschka auch der Regisseur seines Skandalstückes »Mörder, Hoffnung der Frauen«. Er malte die Plakate, erschuf die Kulissen. Der Komponist Paul Hindemith setzte diese Tendenz zum Gesamtkunstwerk zwei Jahre später fort, indem er den Stoff in Frankfurt auf die Opernbühne brachte. Und Kokoschkas Verleger Herwarth Walden, den wir in erster Linie als Herausgeber der 1910 gegründeten Zeitschrift »Der Sturm« kennen, war beispielsweise zugleich auch Schriftsteller, Galerist, Theaterbesitzer, Maler und Komponist.

Dass man, auch ohne die Darmstädter Ausstellung auf der Luisenhöhe gesehen zu haben, einen vorzüglichen Eindruck von den Schwerpunkten und thematischen Verflechtungen bekommt, dafür sorgt wieder einmal der offizielle Audio-Guide, der in der Reihe »Kunst zum Hören« bei Hatje Cantz erschienen ist. Diese intermediäre Publikation — halb Kompaktausgabe des Kataloges, halb Hörbuch — ist an sich begrüßenswert und hat sich vermutlich auch pekuniär längst in einer geschickt besetzten Marktlücke ausgezahlt. Diesmal könnte man mit Fug und Recht sagen: Es ist die adäquate Antwort auf die Idee des Gesamtkunstwerks. Eine Glanzleistung an Design stellt speziell diese Reihe dar, ist es doch einfach wunderbar, wie hier mitten in das etwa 22 x 22 cm große schwarze Quadrat die Disc wie ein Mandala platziert wurde. Die beiden Sprecher der CD, Diana Gaul und Werner Haindl, tun genau das, was man von ihnen erwarten darf: Sie artikulieren klar und langsam und fallen nicht weiter auf.

Solche Audio-Guides sind nicht nur eine Ergänzung der häufig etwas bemüht und betulich wirkenden Museumspädagogik, sondern kommen dem wachsenden Individualismus entgegen, zumindest jenem Bedürfnis vieler stets elektronisch verkabelter Zeitgenossen, sich im je eigenen Rhythmus vom Alltagstrott abzunabeln und mit stierem Blick ins Wesenlose zu starren. Sie nehmen den feinsinnigen Kunstfreund als das ernst, was wir alle mehr oder weniger sind: halbwegs mündige Bürger mit leichtem Hang zum Autismus.

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