Ausstellungsbesprechungen

Alfred Ehrhardt: Das Watt, Alfred-Erhardt-Stiftung Berlin, bis 27. April 2014

Im Jahr 2002 wurde in Köln, der Stadt der »photokina« und Sitz der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh), die Alfred Ehrhardt Stiftung gegründet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Nachlass eines Künstlers zu pflegen, zu erforschen und öffentlich zugänglich zu machen, der schwerpunktmäßig als Fotograf und Filmemacher im Umfeld des Bauhauses hervorgetreten ist. 2010 ist die Stiftung nach Berlin in die unmittelbare Nähe der S-Bahn-Station Oranienburger Straße übergesiedelt, wo sie jetzt in einer exquisiten Bilderschau das erste große Fotoprojekt Ehrhardts (dem zahlreiche andere und etliche Filme nachfolgten), nämlich Aufnahmen zu dem 1937 erschienenen Bildband »Das Watt«, zeigt. Rainer K. Wick hat sie sich angesehen.

Obwohl der 1901 geborene und 1984 gestorbene Alfred Ehrhardt seit den 1930er Jahren ein erfolgreicher Fotograf und Kameramann war, ist sein Name heute nur Wenigen bekannt. Er war, modern gesprochen, ein Multitalent: Bevor er sich professionell der Fotografie und dem Film zuwandte, war er Organist, Chorleiter, Komponist, Maler und Kunsterzieher. Seine ästhetischen Vorstellungen wurden entscheidend vom Dessauer Bauhaus geprägt, was umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass er sich 1928/29 nur wenige Monate an dieser bedeutenden Kunstschule der Moderne aufgehalten hat. Von 1930 bis zu seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten 1933 leitete er an der Hamburger Landeskunstschule den nach dem Vorbild des Bauhauses neu eingerichteten Vorkurs, eine propädeutische Veranstaltung, die zur Einführung der Studierenden in elementare Gestaltungsprinzipien und Bildgesetzlichkeiten diente. Nach Hitlers Machtübernahme ohne feste Anstellung, erschloss sich Ehrhardt als neues Arbeitsgebiet die Naturfotografie. Politisch unverfänglich, fand er hier eine Nische, die es ihm ermöglichte, künstlerisch tätig zu sein, ohne mit der NS-Kunstdoktrin in Kollision zu geraten. Er unternahm erste Fotoexkursionen ins Watt, deren Ergebnisse er 1936 in einer Ausstellung in Hamburg zeigen konnte. Ein Jahr später kam im Verlag Heinrich Ellermann, Hamburg, das oben bereits erwähnte, heute antiquarisch sehr gesuchte Fotobuch »Das Watt« mit einem Vorwort von Kurt Dingelstedt heraus. Anlässlich der aktuellen Ausstellung in der Alfred Ehrhardt Stiftung ist nun in exzellenter Druckqualität ein Faksimile-Reprint dieser Erstausgabe erschienen.

Die in der Ausstellung gezeigten und im Buch ganzseitig abgebildeten Schwarzweiß-Fotografien beziehen ihre besondere Faszination aus der meist nahsichtigen Herangehensweise des Fotografen. Nur selten finden sich Panoramaansichten der norddeutschen Wattlandschaft; vielmehr zeigt Ehrhardt den Formenreichtum von Sand, Schlick und Wasser vorwiegend ausschnittweise. Dazu hielt er seine 6x9-Zeiß-Ikon-Kamera in der Regel in Augenhöhe und richtete sie mehr oder weniger schräg nach unten, um so die vielfältigsten Strukturen, die das Wattenmeer hervorbringt, zu erfassen.

Hilfreich dürften ihm dabei die Erfahrungen gewesen sein, die er am Bauhaus gesammelt hatte. Denn die Auseinandersetzung mit dem Material, seiner ästhetischen Erscheinung und seinen Eigenschaften, war, seitdem Johannes Itten im Jahr 1919 am Bauhaus den Vorkurs eingeführt hatte, ein Kernstück der propädeutischen Ausbildung der jungen Bauhäusler. Im strengen Sinn zeigen Ehrhardts Fotos aus dem Wattenmeer keine »Strukturen«, sondern »Fakturen« (von facere = machen), um die Begrifflichkeit des Bauhaus-Künstlers László Moholy-Nagy aufzugreifen. So spricht der Fotograf selbst von den »großen Gestaltekräften«, die die Oberflächen im Watt formend bearbeiten und nennt als solche das strömende Wasser und die strömende Luft (Wind und Sturm). Und das Material, das diese Kräfte im immerwährenden Zyklus von Ebbe und Flut gestalten, sind der quarzige Sand und der feine Schlick, ist – allgemein gesagt – die Erde: »Wasser, Luft und Erde, die ‚Elemente’, sind die ewigen Kräfte des Watts.«

Das Wirken dieser Kräfte fotografisch zu erfassen, war für Ehrhardt mehr als eine formalästhetische Angelegenheit. Eher wird man dem Künstler, der auch als Naturphilosoph mit der Kamera tituliert worden ist, gerecht, wenn man ihn als Gottsucher mit den Mitteln der Fotografie bezeichnet. Im kosmischen Geschehen, wie es sich im Wattenmeer als aus Sand geformten Wellenfakturen, als reizvoll geriffelte Linien- und Flächengebilde, manifestiert, sah er die Signatur des göttlichen Schöpfungsaktes und »die gleiche Gotteskraft«, die den Menschen selbst durchdringt. Hier erfährt die nüchtern registrierende Fotografie der Neuen Sachlichkeit, wie sie in den 1920er Jahren maßgeblich von Albert Renger-Patzsch vertreten wurde, eine geistige Fundierung, ja eine metaphysische Überhöhung. Und auch die Maximen der mit der Neuen Sachlichkeit rivalisierenden Fotografie des sogenannten Neuen Sehens mit ihren radikalen Naheinstellungen, ungewohnten Perspektiven und unkonventionellen Kompositionsprinzipien, wie Moholy-Nagy sie exemplarisch vorgeführt hat, waren für Ehrhardt nicht ästhetischer Selbstzweck oder Instrumente zur Konditionierung eines befreiten und erweiterten Wahrnehmens, sondern dienten, wie er sich ausgedrückt hat, der Offenbarung des »Wesentlichen der Dinge«. Dass eine so verstandene und praktizierte Fotografie »ein hohes Maß von Takt und Ehrfurcht … den realen Erscheinungen unserer Umwelt gegenüber« voraussetzte, war für ihn eine Selbstverständlichkeit – anders als in unseren Tagen, in denen gigantische Offshore-Windparks die norddeutsche Küstenlandschaft wenn nicht ökologisch gefährden, so aber doch visuell verschandeln.

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