Buchrezensionen, Rezensionen

Arlette Farge: Der Geschmack des Archivs, Wallstein Verlag 2011

Die französische Historikerin Arlette Farge widmet sich in ihrem vom Wallstein Verlag erstmals in deutscher Sprache vorgelegten Essay »Der Geschmack des Archivs« dem für Geisteswissenschaftler gleichermaßen elementar wichtigen wie spannenden Forschungsort. Dabei wirbt die Autorin in ihren farbenfrohen und keineswegs verstaubten Überlegungen für Durchhaltevermögen ebenso wie Fantasie und Begeisterungsfähigkeit. Verena Paul hat das Buch für Sie gelesen.

Wie der Titel bereits erahnen lässt, geht es Arlette Farge um die Sinnlichkeit von Archivarbeit. Dabei entfaltet sie, wie Alf Lüdtke in seinem informativen Nachwort schreibt, »zahllose Nuancen des ›Geschmacks‹«, den die Autorin mit dem Archiv verbindet. Schließlich zeigt sie dem Leser Wege auf, »wie aus dem Geschmack ein Genuss des Archivs werden kann«. So wird von Archivalien berichtet, deren Materialität Farge zunächst mit den Fingern vorsichtig erkundet, von der mühevollen Feinarbeit beim Entziffern jahrhundertealter Handschriften oder der, wie sie es formuliert, »handwerkliche[n], langsame[n] und wenig einträgliche[n] Geste, mit der man Texte abschreibt, Stück für Stück«. Aber sie erzählt auch von der Euphorie bei Zufallsfunden und dem Risiko, vom Archiv regelrecht aufgesogen zu werden, sich zu stark mit dem vorgefundenen Material zu identifizieren, es nachzuahmen und auf diese Weise zu keiner präzisen Deutung mehr gelangen zu können. Arlette Farge selbst ist hingegen von einer schier unerschöpflichen Neugierde für die Schätze des Archivs angetrieben, wahrt gleichzeitig aber Distanz und sucht »den Fetzen wiedergefundener Sätze überschüssigen Sinn zu entreißen«. Dabei macht sie sich das Gefühl als Instrument zunutzen, »um den Stein zu meißeln — den der Vergangenheit, den der Stille.«

Neben diesen Berichten über die Erlebnisse beim Durchforsten von Akten und Schriftstücken streut die Autorin kontinuierlich humoristische Anekdoten der alltäglichen Arbeit im Archiv ein, die die Leser unweigerlich schmunzeln lassen. Angefangen beim Wettstreit der Archivbesucher um einen der begehrten hellen Arbeitsplätze, über das komplizierte Procedere bei diversen Antragstellungen im Archiv, bis hin zu den Geräuschen der Sitznachbarn, die sich in der Stille des Lesesaals zu nervtötenden Störungen auswachsen. Jene Schilderungen werden jedem, der schon einmal im Archiv gearbeitet hat, bekannt vorkommen. So präsentiert Arlette Farge dem Leser beispielsweise jenen verschnupften Sitznachbarn, dem man nichts sehnlicher in die Hände wünscht als ein Taschentuch oder die auf Highheels tippelnde Dame, von der es heißt: »Sie macht das sicher mit Absicht: mit ihren aus der Mode gekommenen hohen Absätzen auf das Parkett einzuhämmern, wobei sie ständig zwischen zwei verschobenen Dielen hängen bleibt. Warum läuft sie seit der Öffnung schon zum fünften Mal zwischen ihrem Tisch und den Regalen mit den Bänden der großen Enzyklopädie hin und her? Warum setzt sie sich nicht einfach irgendwo einmal hin, so früh am Morgen?« Mag das Verhalten noch so unauffällig, die Geste noch so bedeutungslos sein, im Lesesaal nehmen sie »eine derartige Dimension an, dass sie ins Reich des Fantastischen übergehen«, wie Farge resümiert. Die Beobachterin jener »Katastrophenlandschaft« weiß also in jeder Hinsicht um das Ablenkungspotenzial der Sitznachbarn. Diese eingestreuten, zumeist komisch anmutenden Partien, die aus dem eigenen Erleben der Autorin gespeist sind, besitzen sprachlichen Eigenwert und tragen in hohem Maße dazu bei, dass man das Bändchen in einem Zug, aber dennoch genussvoll verschlingt.

Obgleich Arlette Farge in ihrem Essay den Fokus auf das Gerichtsarchiv lenkt und sie aus der Perspektive der Historikerin berichtet, ist die Lektüre auch für andere Geisteswissenschaftler eine große Bereicherung. Denn der Weg ins Archiv mit all seinen verschlungenen Pfaden und seiner schier endlos erscheinenden Fülle an Materialien ist letztlich auch für Romanisten, Germanisten, Kunsthistoriker etc. unumgänglich. Insofern stimmt Farge die zukünftigen Archivnutzer — und das scheint mir ausschlaggebend — in einem farbenfrohen und keineswegs verstaubten Erfahrungsbericht auf die Archivarbeit ein. Darüber hinaus wirbt sie für Durchhaltevermögen ebenso wie Fantasie und Begeisterungsfähigkeit, was der Archivarbeit ihre zu Unrecht anhaftende ›Langweiligkeit‹ nimmt. Denn »[d]er Geschmack des Archivs ist offensichtlich eine Irrfahrt durch die Worte anderer, zugleich die Suche nach einer Sprache, die deren Triftigkeiten rettet. Vielleicht«, so Arlette Farges Überlegung, »ist er auch eine Irrfahrt durch die Worte von heute, die unvernünftige Überzeugung, dass man Geschichte schreibt, nicht um sie zu erzählen, sondern um eine tote Vergangenheit sprachlich zu artikulieren und so den ›Austausch zwischen Lebenden‹ zu erzeugen.«

Resümee: Mit »Der Geschmack des Archivs« legt Arlette Farge eine Publikation vor, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in Beschlag nimmt: klar strukturiert, lebendig und scharfsinnig erzählt sowie inhaltlich überzeugend. Ein tolles Bändchen, das ich allen Archivnutzern — und denjenigen, die es noch werden wollen — empfehlen möchte!

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