Porträts

Arte Concreta, Muralismo & Co.

Ehrengäste auf der Frankfurter Buchmesse, Austragungsort der Fußball-WM und Kunstmarkt der Zukunft: Die Länder Lateinamerikas drängen sich in unser Blickfeld. In Sachen lateinamerikanische Kunst mag man in Europa zuerst an die indigene Volkskunst denken oder den magischen Surrealismus mit seinen Aushängeschildern Frida Kahlo und ihrem Mann Diego Rivera. Doch versteckt sich mehr hinter dem Kontinent der leuchtenden Farben. Ähnlich wie im alten Europa setzten und setzen sich auch die Künstler der Neuen Welt mit ihrer Gegenwart und Vergangenheit auseinander.

Für Umwälzungen sorgte besonders das 20. Jahrhundert. Sowohl im gesellschaftlichen als auch im politischen Bereich war die zweite brasilianische Republik (1946 bis 1964) durch eine starke Instabilität gekennzeichnet, der Künstler wie Judith Lauand zu begegnen suchten. Gleich einer Morgendämmerung für die brasilianische Malerin und die abstrakte Kunst war die Präsentation einiger Arbeiten des Schweizer Architekten und Designers Max Bill, der Anfang der 1950er Südamerika bereiste. Inspiriert durch seine Werke fand Lauand zu einer konstruktivistischen Sprache, die den bisher vorherrschenden abstrakten Expressionismus ihrer Bilder ablöste. »I love synthesis, precision, exact thinking« sagte sie anlässlich ihrer ersten Einzelausstellung in der Londoner Galerie Friedman 2013, in der sie Arbeiten aus der Zeit präsentierte. Lauland stand auch der Gruppe Ruptura in São Paulo nahe. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Versammlung von Avantgarde-Künstlern der Arte Concreta, die das Alte zu überwinden suchen, sondern um eine Strömung, die auch weitere Länder Süd- und Mittelamerikas erfasst hatte.

Mónica Espinel, Kuratorin der Schau »Then & Now: Abstraction in Latin American Art from 1950 to Present« (2010 in New York), formulierte es so: »Abstraktion wurde als Sprache begriffen, die nationale Grenzen überwindet, aber zugleich auch neue kulturelle Grenzen markiert. Es ist interessant zu beobachten, wie sich die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede in den einzelnen Ländern entwickelt haben: in Venezuela ging es vor allem um optische Phänomene und kinetische Kunst, in Brasilien um den Körper, in Argentinien um phänomenologische und kinetische Ansätze. Mit der Kultur der Anden-Region setzte man sich in Kolumbien und Uruguay auseinander, während konzeptuelle Ansätze vor allem in Venezuela und Argentinien zu finden sind.«

Bis heute prägt aber noch eine andere Kunst die öffentlichen Räume Lateinamerikas: die Wandmalerei. In Mexiko verbindet sie sich vor allem mit den Namen José Clemente Orozco, Diego Rivera und David Alfaro Siqueiros. Letzterer stellte durch seine zahlreichen Reisen in fast alle lateinamerikanischen Länder einen direkten Kontakt her. Die sogenannten Murales verhandeln politische und soziale Themen. »Wie soll das Mexiko von heute und morgen aussehen?« fragten sich 1934 vermutlich nicht nur der abgebildete Maurer und der Intellektuelle mit Marx’ Kapital unter dem Arm in Riveras Arbeit im Nationalpalast von Mexiko Stadt. Der mexikanische Bildungsminister und Philosoph José Vasconcelos Calderón beauftragte nach der Revolution 1920 junge Künstler damit, ausgewählte Auszüge aus der mexikanischen Geschichte und bestimmte Traditionen in monumentalen Malereien auf öffentliche Gebäude zu bringen. Damit wollte er der Landesbevölkerung eine Basis für eine neue nationale Identitätsfindung bieten. Jeder der drei genannten »Granden des Muralismo« interpretierte den Gesellschaftsauftrag jedoch ein wenig anders und nutzte auch verschiedene Techniken. Siqueiros etwa verwendete gefärbten Zement, der durch Sprühpistolen aufgetragen wurde.

Von hier scheint es nur ein kleiner Schritt bis zur Urban Art, die neben den Murales das öffentliche Straßenbild lateinamerikanischer Metropolen kennzeichnet. Farbenfroh, gesellschaftskritisch und leicht zugänglich sind Pixaçãos und Graffitis immer ein Hingucker – und im Gegensatz zu ihren Pendants in Europa toleriert und anerkannt. Neben Rio de Janeiro und Curitiba gilt São Paulo als herausragendes Zentrum. Nach dem Ende der zwanzigjährigen Militärdiktatur war im Brasilien der 1980er Jahre der Wunsch nach öffentlicher Meinungsäußerung groß und erzeugte eine politisch motivierte Gegenkultur. Wer etwa an der Stadtautobahn »23. Mai« im Stau steht, kann ein 700 Quadratmeter großes surrealistisches Wunderland entdecken: gelbe Gestalten mit dünnen Gliedmaßen oder ein sitzender Mann, der sein eigenes Gesicht weit von sich gestreckt in den Händen hält. Das Schöpferpaar »Os Gêmeos«, zwei Brüder, gehört zu den Superstars der Branche und hat schon einige internationale Ausstellungen in New York, Los Angeles, San Francisco und London bestritten.

Lateinamerikanische Kunst, ein Wachstumsmarkt? Zumindest zeigten sich einige Galeristen auf der Art Basel 2012 sehr zuversichtlich. Chantal Crousel aus Paris prophezeite in der ZEIT, dass sich der lateinamerikanische Markt in Zukunft nicht mehr so stark nach Miami oder Spanien orientieren, sondern stärker in der eigenen Region organisieren wird. Jay Jopling, der mit seiner Londoner Galerie White Cube Künstler wie Damien Hirst und die Chapman-Brüder groß gemacht hat, hat schon eine Dependance in São Paulo eröffnet.

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