Ausstellungsbesprechungen

Auf den Spuren Marc Chagalls

Kalenderbilder können unerbittlich sein: Alle Jahre wieder entblättern sich unter der Rubrik Kunst die gängigen Im- und die Expressionisten und dazu so manche Maler fürs Gemüt und für die Fantasie – darunter gerne Marc Chagall, dessen Bilder sich allemal als Postkartenmotiv auf jede Pinnwand passt.

Setzt sich erst einmal so ein Bild ins Gedächtnis fest, entkommt man ihm nur schwer; gleichwohl nimmt man beim Museumsbesuch die Parade vor wenigstens einem Bild des modernen Klassikers als gegeben hin und verbucht es in der Regel als bekannt. Ein hartes Los.

Und allen, die jetzt schon aufschreien und unter Protest den russischen Maler-Poeten in Schutz nehmen und ins schwärmen geraten, sei versichert: Sie haben recht! War schon die Ausstellung der keramischen Arbeiten in Balingen im vergangenen Jahr geeignet, die Vielfalt im Schaffen Chagalls bewundern zu können, setzt sich nun Ahlen – ist’s ein Zufall, dass die wirklichen Entdeckungen hier in der Provinz gemacht werden? – an die Spitze der Chagall-Enthusiasten (und Würzburg, immerhin, wird die Schau übernehmen). Anlässlich seines zehnjährigen Bestehens gönnt sich das Museum Ahlen eine grandiose Jubelausstellung, die sich nicht damit begnügt, das Augenmerk auf weniger vertraute Phasen im Werk des Künstlers, sondern die auch das Zusammenspiel mit russischen und polnischen Kollegen beleuchtet. So staunt der Kunstfreund über bislang wenig bekannte Schätze der Malerei. 

170 Arbeiten mit einem Versicherungswert von rund 50 Millionen Euro haben die Ausstellungsmacher zusammengetragen. Dabei dürfen freilich so bekannte »Chagalls« wie der »Spaziergang« nicht fehlen, aber der wahre Reiz der Präsentation sind zum einen Werke des Meisters aus den eher vernachlässigen Winkeln seiner Ateliers zwischen Moskau und Paris, zum Beispiel das fulminante, den Kubismus schon ins Transzendent-märchenhafte hebende Bild »Der Spiegel«.  

Spannend wird die Ausstellung zum anderen durch die Korrespondenzen mit vielen jüdischen Kollegen aus Russland und Polen, die sich vom Joch der Gängelei und Ausgrenzung im vorrevolutionären Russland befreiten und in der französischen Metropole ihr Glück suchten. Chagall war der Star in der Kolonie der Exilanten, er gab der jüdischen Kunst ein sinnstiftendes Gesicht. Und obwohl er seinen Status nicht zu Markte trug, eher zurückgezogen arbeitete, prägte er so wichtige Künstler wie Jacques Lipchitz, El Lissitzky, Chaim Soutine und Ossip Zadkine, die sich dann durchaus auch an Chagall rieben und dabei ganz neue Wege einschlugen – hin zu einem internationalistischen Stil, während Chagall gerade sein Stück Heimat nachhaltig in der großen weiten Welt verankerte (möglicherweise ein Grund für die große Popularität heutzutage). Er prägte aber auch das Werk von Malern, die sich wohler in der Märchenwelt ihres Vorbildes als auf dem kosmopolitischen Terrain fühlten, die den faszinierenden Nervenkitzel spürten, der in der Berührung des jüdischen Bilderverbots mit der farbenprächtig-phantastischen Linie der russischen und schließlich französischen Avantgarde liegt, und die es hierzulande erst zu entdecken gilt: Natan Altman, Henri Epstein, Norbert Falk, Moise Kisling, Pinchus Krémègne, Mané-Katz und Marek Szwarc (die die jüdische Tradition wohl am nachdrücklichsten pflegten), Joseph Solomonowitsch Schkolnik, David Sterenberg (sicher der modernste unter den Chagall-Nachfolgern), nicht zuletzt die Bildhauer Léon Indenbaum und Morice Lipsi.  

Als Kuriosum wartet Ahlen auch noch mit einer in Bewegung gekommenen Immobilie auf: Chagalls Wohnzimmer aus Witebsk, wo Chagall nach 1918 sein möglichstes gab, die russischen Künstler wieder in ihre Heimat zu locken, wurde detailgetreu nachgebaut bzw. transferiert; es zeigt auch die Lampe und den Spiegel aus dem oben genannten Gemälde – Malerei und Wahrheit sind hier ganz dicht beieinander. Übringens: Die erste große Einzelausstellung Chagalls fand nicht in Russland und nicht in Frankreich statt, wo er fast hundertjährig 1985 starb, sondern 1914 in Berlin – da war die jüdische Tradition noch unersetzlicher Bestandteil der deutschen Kultur: gerade hier nahm er 1922 auch an der »Ausstellung der Drei« teil, zusammen mit Altman und Sterenberg.

Das Kunst-Museum in Ahlen hat sich zum zehnjährigen Geburtstag ein schönes Geschenk gemacht – es ist zu wünschen, dass mit dieser außerordentlichen Ausstellung auch reichlich Geburtstagsgäste in die westfälische Stadt finden.
 

Weitere Informationen 

Öffnungszeiten
Dienstag – Freitag 11–18 Uhr
Samstag – Sonntag 10–18 Uhr 

Eintrittspreise (Ahlen) 
Einzelkarte € 6,- / ermäßigt € 4,-

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