Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnungsrede: Die südwestdeutsche Avantgarde im Wirkungsfeld Oskar Schlemmers | Adolf Hölzel – Figurativ, Galerie Schlichtenmaier Stuttgart, bis 7. März 2015

Die Süddeutsche Avantgarde hat mit Namen wie Oskar Schlemmer, Willi Baumeister oder Adolf Hölzel ihren festen Platz in der Kunstwelt und auch in der Kunstgeschichte. Daher verwundert es nicht, wenn die Galerie Schlichtenmaier sich nun mit einer Doppelausstellung den Künstlern rund um die Stuttgarter Kunstakademie. Günter Baumann hat sie eröffnet und hält einige interessante Details bereit.

(…) es handelt sich um eine Doppelausstellung, einmal mit Werken von Weggefährten, Kollegen und Freunden Oskar Schlemmers, zum anderen mit zeichnerischen Arbeiten von Adolf Hölzel, der als Lehrer nahezu all die hier präsentierten Künstler einschließlich Schlemmer in Stuttgart unterrichtete. Wo könnte man also besser diese Avantgarde der Moderne zeigen als hier, wo man mit Fug und Recht von einer attraktiven Schwabenmetropole sprechen kann: Hierher zogen zahlreiche angehende Künstler, angelockt von der unkonventionellen Pädagogik Hölzels und seiner innovativen Kunsttheorie – wenn sie nicht ohnehin schon hier geboren waren.

Willi Baumeister rühmte Stuttgart als eine »der schönsten Städte des Kontinents«. Wie ernst es ihm war, müssen Sie selbst beurteilen, wenn Sie seine so gewitzte wie zeitgeraffte Legende zur Stadtgründung hören, die er 1929 veröffentlichte und die schnurstracks auf die Kunststadt mit kritischem Hintersinn abzielte: »Stuttgart wurde entdeckt im Jahre 1193 von Eberhard mit dem Barte, als er sich von Wildbad aus auf der Saupirsch befand. Er ritt über die Spargel- und Sauerkrautfelder von Untertürkheim, folgte den Römerwällen bei Cannstatt bis zum Familienbad im Mineralsprudel Leutze, und weiter und weiter dem Geruch des Nesenbachs. Er legte alsbald einen ›Stutengarten‹ an … In der Urbanstraße gründete er die Württembergische Akademie der bildenden Künste, die heute noch zu dem ewigen Dank seine Kunstanschauung zu pflegen hat.«

Der Ewigkeitsanspruch lässt wenig Raum für Änderungen. Als kunstpädagogischen Ausrutscher muss man also die Berufung Adolf Hölzels ansehen, der Ende 1905 gegen die offiziellen Erwartungen nicht seine Dachauer Freilichtmalerei an den Neckar brachte, sondern die Kunst als Bildfindung allein aus den künstlerischen Mitteln, ja: aus dem Handgelenk heraus einforderte. Insgeheim hatte er die abstrakte Kunst bereits im Koffer – noch vor Kandinsky und all den anderen Pionieren der gegenstandslosen Malerei. 1919 versetzte man den »Wolf im Farbpelz«, wie Baumeister ihn sah, in den Ruhestand, was Hölzel nicht abhielt, seine Kreise privat weiterzuziehen. In doppelter Hinsicht: die Künstler um ihn herum empfanden sich seit ihrer gemeinsamen Ausstellung 1916 tatsächlich als Kreis. Tausend Striche jeden Tag verlangte Hölzel zudem von seinen Anhängern. Also kreiselten sie allmorgendlich mit dem Stift übers Papier, um den Kopf frei zu bekommen, der Lehrer vorneweg. Halb bewusst entstanden Linien, die sich hier zum durchkomponierten Gerüstbau für seine Pastelle formten, oder dort sich zu zauberhaften Capriccios verwandelten, wie wir sie selten zu sehen bekommen: Er erdachte sich die Welt unabhängig vom Naturvorbild völlig neu, um eine gänzlich freie Figuration zu erschaffen – mit bravourösem, frechem Strich und erfrischendem Witz.

Entsprechend locker hielt er die Zügel in seiner Lehre, oder anders formuliert: unerbittlich war er in der Forderung an seine Schüler, diese seine Lehre je selbständig mit- und weiterzuentwickeln, und sei es eben auch ganz anders. Das machten sie denn auch, mal mehr, mal weniger. »Die Stärkeren«, so Oskar Schlemmer, »fühlten sich von der Freiheit in der allgemeinen Gesinnung angezogen, die Schwächeren von der – Unfreiheit seiner Theorien.« Schlemmer meinte selbstverständlich sich selbst und Baumeister, was die unabhängigen Geister anging. Doch gab es viel mehr starke Positionen, auch mit eigenen Verantwortungen: Ida Kerkovius wurde Hölzels Assistentin und vertrat ihn kongenial mit poetisch leichten Kompositionen und kühnen Bildphantasien. Der Farbklangmeister Johannes Itten übernahm auch eine stellvertretende Rolle und prägte insbesondere Albert Mueller, bevor er eigene Wege ging. Gottfried Graf, ein technisch brillanter Grafiker zwischen Futurismus und Expressionismus, wurde Leiter der Holzschnittklasse an der Akademie und konnte immerhin dadurch die Lehre Hölzels nach dessen Demissionierung hochhalten, nachdem der Versuch der Hölzel-Zöglinge gescheitert war, Paul Klee nach Stuttgart zu holen. Albert Mueller, der Vertreter eines magischen Symbolismus, ja: Kubismus, wurde einige Jahre später, 1928, Lehrer in der graphischen Abteilung der Kunstgewerbeschule in Stuttgart, Baumeister im selben Jahr Professor an der Städelschule in Frankfurt. Dem Kreis, wie er sich hier und heute in der Galerie darstellt, auch zugehörig waren Josef Eberz, Adolf Fleischmann und Edmund Daniel Kinzinger. Über die starke Schweizer Anhängerschaft im Hölzelkreis nahm Johannes Molzahn Anteil an der Avantgarde-Bewegung im Südwesten – seine Farben nehmen schon die Pop und Op Art vorweg.

Unterschiedlicher konnte ein Schülerkreis kaum sein. Als zusammengehörige Gruppe wurde er sicher nicht wahrgenommen – im Unterschied zum Blauen Reiter in München und Murnau oder zur Brücke in Dresden und Berlin. Auch gab es kein manifestes Bekenntnis, wohl aber ein Stuttgarter Feeling. Es ist so unscheinbar wie rührend, wenn Albert Mueller ein Aquarell, das wir hier sehen, mit Mueller-Stuttgart unterzeichnet, um seinen geläufigen Namen hervorzuheben. Er war genauso wenig gebürtiger Stuttgarter, wie Otto Meyer aus Amden kam, der sich nach besagtem Schweizer Ort nannte – er war eine entscheidende Lebensstation, die ihn u.a. mit Baumeister zusammenbrachte. Die Verflechtungen bleiben über Jahrzehnte in verschiedenen Konstellationen erhalten. Enge Kontakte gab es im ganzen Südwesten inklusive der Schweiz, auch darüber hinaus. Als das Bauhaus in Weimar, wo Schlemmer, Itten und Molzahn wirkten, 1925 seine Türen schloss, um seine Zelte woanders aufzubauen, war auch kurz Stuttgart im Gespräch. Das Rennen machte bekanntlich Dessau, aber Stuttgart hatte schon einen guten Klang und bekam wenig später mit der Weißenhofsiedlung ein internationales Flair, wie Baumeister mit Augenzwinkern festhielt: »Der Schlossplatz erinnert an Paris, der Hasenberg an Florenz, die Weißenhof-Gegend an Algier.« Da wusste er noch nicht, dass diese Vorzeigesiedlung unter den Nazis als Araberviertel denunziert werden würde.

Schlemmer schrieb an Meyer-Amden 1930, unter dem Eindruck der Kubisten in Paris: »wie kehrt Frühes, Stuttgarterisches, Abstraktes bei den neuen Franzosen wieder, so dass dieses Frühe, Abstrakte wieder aktuell erscheint.« Die Prämissen variierten: mal ging es um Intuition und Emotion, mal um Mechanisierung und Menschenbild, mal um Imagination und Revolution. Auch das ist ein Grund der Vielfalt der Stile, auch wenn man Gemeinsamkeiten nicht abstreiten kann. Von Willi Baumeister und Oskar Schlemmer gibt es zwischen 1912 und 1920 Arbeiten, die leicht zu verwechseln sind, auch wenn sich Ersterer daraufhin weiter in das Unbekannte der abstrakten Kunst hineinbegab, während der andere am Bild des neuen Menschen arbeitete. Beim Wettbewerb für die Wandgestaltung im Folkwangmuseum Ende der 1920er Jahre konkurrierten Schlemmer, Baumeister und Erich Heckel miteinander. Schlemmer bekam den Auftrag, doch Baumeister entwickelte aus seiner Idee der Sportlermotive eine ganze Serie von Einzelarbeiten, die zu den fulminanten Höhepunkten unserer Ausstellung zählen.

Die Tagespolitik gehörte nicht zu den Themen dieser Avantgarde, aber sie veränderte die Positionen – 1914 und 1919 sahen sie anders aus als 1933. Der erklärtermaßen unpolitische Schlemmer hatte den Mut, Goebbels 1933 an den Karren zu fahren: »Wir zogen für die Ideale der Kunst … in den Krieg! Im Namen meiner gefallenen Kameraden protestiere ich gegen die Diffamierung ihres Wollens und ihrer Werke …. Die Künstler sind im Grunde ihres Wesens unpolitisch und müssen es sein, da ihr Reich von einer anderen Welt ist.« Erstaunlich viele der ehemaligen Kreisfreunde blieben im Land, als das Dritte Reich die moderne Kunst für entartet erklärte. In diesem Klima kam es sogar zur schicksalhaften Einbindung des Freiburgers Julius Bissier, der nicht direkt von Hölzel geprägt wurde, in die Avantgarde-Bewegung. Was Schlemmer, Baumeister und Bissier in der Zurückgezogenheit der Inneren Emigration schufen, gehört zum besten, was die innerdeutsche Malerei der 1930er und frühen 1940er Jahre zur internationalen Kunst beigetragen hat – und das in bitterer existenzieller Not. Andere schafften den Sprung ins Ausland. Kinzinger unterrichtete in Paris, bevor er – dank früherer Kontakte in die USA – eine Professorenstelle in Waco (Texas) bekam. Auch Molzahn, konnte in die USA flüchten, wo er in Seattle zum Professor ernannt wurde. Der Schweizer Itten hielt es bis 1938 als Kunstdozent in Deutschland aus, dann floh er über Amsterdam nach Zürich, wo er Direktor des Kunstgewerbemuseums und der Kunstgewerbeschule wurde.

Mit einigen Ausnahmen, die vor 1914 zurückweisen oder über 1945 hinausgehen, konzentriert sich unsre Ausstellung auf die wechselhafte Zeit zwischen etwa 1916 und den frühen 1940er Jahren. Glücklicherweise traf die von Schlemmer beklagte Todesrate im Ersten Weltkrieg weniger die südwestdeutsche Avantgarde, sodass sich deren Geist weiter verbreiten konnte. Trotz schmerzlicher materieller Verluste – Bissiers verlor bei einem Brand an der Freiburger Universität nahezu sein gesamtes Frühwerk - können wir am Werk der hier vertretenen Künstler eine Geschichte der Moderne schreiben. Den Hölzelkreis habe ich schon erwähnt. Daraus trat etwa Johannes Itten 1916 eigenmächtig mit seinem Bach-Sänger hervor, ein Höhepunkt der modernen Malerei, den wir im Kunstmuseum drüben bewundern können. Hier sind drei Studien dazu zu sehen, die nicht nur Seltenheitswert haben, weil Itten die meisten seiner Entwurfsarbeiten vernichtete, sondern auch das Ringen um eine absolut konstruierte Figur zeigt, die Itten unter hochkomplexen Berechnungen und analytischen Kontrasten entwickelte und zugleich so locker gestaltet aussehen ließ, dass der Betrachter angesichts des Gemäldes selbst ein natürlich klingendes, ganz aus geometrischen Formen sich entfaltendes Porträt eines Sängers, konkret Helge Lindbergs, erkennt.

Ich bleibe aber bei den gruppendynamischen Wegmarken. Einige ehemalige Hölzelschüler, darunter Baumeister, Graf, Kinzinger, Mueller und Schlemmer, gründeten die Gruppe »Üecht«, einen süddeutschen Ableger der Berliner Novembergruppe, zudem auch eng mit der dortigen Expressionistenzeitschrift und -galerie »Sturm« verbunden – »hoch geht die Welle der Revolution, und besonders hoch bei uns in Stuttgart«, schreibt Schlemmer 1918. Mit apokalyptischen, expressiv oder auch visionär aufgeladenen Bildern forderten die Schwaben die Welt heraus. Graf und Mueller stehen exemplarisch dafür. Das Wort »Üecht« ist nicht eindeutig zu klären: es soll von althochdeutsch »uohta«, Morgendämmerung, kommen; Üecht war zudem das Pseudonym von Otto Meyer-Amden, der das Wort auch als schweizerische Beifallsbekundung verwendete. Hier und da regten sich auch Gedanken an das Gesamtkunstwerk, das dann im Bauhaus aufgegriffen wurden, an dessen Aufbau direkt neben Schlemmer auch Itten und Molzahn beteiligt waren, indirekt aber auch Ida Kerkovius und letztlich sogar Baumeister, wenn man den Baugedanken weiterdenkt, mit dem der stets unabhängige Maler umging.

Auch nach der Schließung bzw. Vertreibung des Bauhauses durch die neuen Machthaber fand man sich zusammen: Baumeister und Schlemmer etwa bei der Wuppertaler Lackfabrik Dr. Herberts, wo sie sich als experimentierfreudige Lackkünstler tarnen konnten. Für uns hier ist die Freundschaft der beiden zu Julius Bissier wichtiger, weil sich hier ein Kreis schließt. Anlässlich einer Gedenkausstellung für den 1933 verstorbenen Hölzel-Schüler Otto Meyer-Amden brachte Baumeister Bissier und Schlemmer zusammen, was der Avantgarde ein neues Gepräge gab. Bissier hatte 1919 den Ethnologen Ernst Grosse kennengelernt, der ihm als Sammler ostasiatischer Kunst eine andere Welt erschloss – übrigens eine, die Adolf Hölzel seinen Schülern auch schon zu empfehlen wusste. Bissier ging am sensibelsten mit der ostasiatischen Tuschmalerei um, durchdrang sie ähnlich wie Itten auch philosophisch. Über Grosse schrieb er, dass mit ihm »ein Mann gekommen sei, dem es auferlegt war, mir die Augen zu öffnen, indem er mich lehrte, sie zu schließen«.

Der neue Mensch, wie ihn die Apologeten Hölzels gern ins Visier nahmen, wurde vom ideologischen Zerrbild des Menschen im Dritten Reich verdrängt. Unbeeinträchtigt blieben jedoch die ästhetischen Rückzugsgebiete des inneren, nicht bloß in sich gekehrten Menschen, Rückzugsgebiete, welche die hier vorgestellten Künstler – die meisten interessanterweise auch ausübende Musiker oder zumindest musikalisch sehr begabt – mit bewegten Rhythmen und akzentuierten Farbklängen veranschaulichten, aber auch mit einem mathematischen oder philosophischen Harmoniestreben, das dem Lärm von außen eine meditative Ernsthaftigkeit entgegensetzte. Die Vision einer neuen Welt bezieht hieraus ihre Kraft. Am Anfang steht eine Bewegung aus dem Handgelenk, am Ende eine gültige Form. Sogar der Begriff der Ewigkeit spielt wieder herein. Bissier schrieb 1941 an Schlemmer, »nachts«, wie es heißt, »müde von der Reise«: »Ob Abstrakt oder Darstellerisch ist völlig gleich. Das ›ewige Herz‹, das Inne-Wohnende, das Heilige (nicht als religiöses Moment) als Erschütterung, wie es Heidegger nannte, ist alles. Schaffensgrund: innere Stimme«. Da war es einerlei, ob Hölzel oder Laotse die Richtung wies. Von letzterem stammt der poetische Aphorismus: »Wer aber ist imstande, ein quirlend Wasser durch die Behutsamkeit der Stille zu klären? Wer aber ist imstande, die Ruhe durch die Behutsamkeit dauernder Bewegung zu erzeugen?« Dies zu ergründen, laden wir Sie in Stuttgart herzlich ein.
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