Buchrezensionen

Christa Lichtenstern: Strömung und Form. Gedichte, StrzeleckiBooks 2013

Das bei StrzeleckiBooks erschienene Bändchen »Strömung und Form« versammelt Lyrik, die durch ihre sonore Tonalität, den melodischen Sprachfluss sowie die außergewöhnliche Bildkraft aus der Reizüberflutung unserer Zeit heraussticht. Die zumeist nur wenige Verse umfassenden Gedichte Christa Lichtensterns halten – etwa bei der Betrachtung von Kunst – Momente absoluter Ruhe und tief empfundenen Glücks fest. Dass die lyrischen Texte darüber hinaus klassisches Gedankengut mit spielerischer Leichtigkeit einbinden, macht sie zum Lesegenuss, findet Verena Paul.

»Vom Kopf ins Herz / ich springe, / öffne die Tore / sprachenweit,« heißt es in einem der wohl schönsten Gedichte, die Christa Lichtenstern in ihrem aktuellen Lyrikband »Strömung und Form« versammelt. Diese Verse bezeugen die Verwandlung von einer nüchternen, an Fakten orientierten Wissenschaftlichkeit in subtile, den Horizont erweiternde Beobachtungen, sodass der Wesenskern des jeweiligen Objektes freigelegt ist. Die Ratio erfasst die äußeren Gegebenheiten, aber nur wenn der Funke ins Herz übergesprungen ist, können die Tore sprachmächtig geöffnet werden und zwar »dorthin, / wo das Licht wartet, / im Fächerschutz der Strahlen / Neues zu formen.« Die Sprache ist der Schlüssel zu neuen Erfahrungsräumen künstlerischen Schaffens. Sie vermag mit Worten Formen zum Schwingen und Farben zum Leuchten zu bringen und erschafft dergestalt eine Welt, in der freier gedacht und tiefer empfunden werden kann als in unserer auf Geschwindigkeit und Effizienz gedrillten Wirklichkeit.

Es scheint ein Befreiungsschlag von der mit Fachtermini unterfütterten und nicht selten überfrachteten Wissenschaftssprache. Doch es ist weniger eine Loslösung als vielmehr eine neue Form der sprachlichen Annäherung an Themen wie Natur, Mythos und den Facettenreichtum von Kunst. »Christa Lichtensterns Gedichte verdichten wahrgenommene Konstellationen, untergründige Bewegungen, die zur Form führen«, erklärt Kirsten Voigt in ihrem Nachwort, und fährt fort: »Sie bedienen sich eines hohen Tons, nutzen Elemente der Hymne, der Ode, des Gesangs, der Anrufung« und »wenden sich an den Mythos.« Neben Ovid und Goethe hat vor allem die Begegnung mit der Lyrik von Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann und Paul Celan filigrane Sprachspuren bei Christa Lichtenstern hinterlassen. Denn sie hat, so Kirsten Voigt, »die Poesie stets als elementares Existenzial für ihr persönliches Leben und als bedeutsame ikonographische Quelle der Kunst begriffen.«

Neben den literarischen Einflüssen zeugen viele der in dem Bändchen versammelten Gedichte zudem von der intensiven Begegnung mit modernen künstlerischen Positionen, die für Christa Lichtenstern besonders dann anziehend sind, wenn klassisches Gedankengut eingespeist ist oder wenn die Werke eine über kunstimmanente Problemstellungen hinaus weisende Dimension besitzen. Auf diese Weise sucht die Autorin in ihrer Lyrik ein intensives Zwiegespräch mit Werken von Marc Chagall, Jacques Lipchitz, Otto Freundlich, Eduardo Chillida, Karl Hartung sowie mit Tony Cragg oder der ihr freundschaftlich eng verbundenen Bildhauerin und Dichterin Annemarie Avramidis. Und so beschreibt Christa Lichtenstern nach der Begegnung mit einem »Mädchentorso« von Annemarie Avramidis das Ergriffensein von der Ästhetik der Skulptur, die aus dem behutsamen Spiel des Lichts auf der marmornen Epidermis und der damit verbundenen Wandlungsfähigkeit resultiert: »Es lächelt der Marmor / im Licht seiner Flächen / verwandelt mir zu. // Schönheit ist da!« Fraglos wohnen diesen Versen pathetische Züge inne, die jedoch durch Interruption des Sprachflusses in Teilen gebrochen werden. Das im Gedicht sprechende Ich ist verzaubert und weiß doch in jeder Sekunde, in der es diese Marmorgestalt betrachtet um die eigene Zeit: »Aber so nah? / Wie kann / immer noch Griechenland sein?« Diese Fragen dürfen weder mit dem Etikett ›naiv‹ versehen werden noch sind sie als ironische Bruchstellen zu verstehen. Nein, sie geben Auskunft über den Stellenwert, welchen das Kunstobjekt für das Ich hat: Der Mädchentorso braucht den Vergleich mit antiken Skulpturen nicht zu scheuen. Kirsten Voigt hat diesen Prozess von analytischer und sprachlicher Konvergenz sehr präzise erfasst, wenn sie schreibt: »Christa Lichtensterns Fähigkeit zu Analyse und Synthese verwandelt sich in ihren Gedichten in eine Fähigkeit zur sprachmächtigen Empathie.«

Sich in die Kunst einfühlen, ihr ganz nahe kommen und das tiefste Innere der Werke durchdringen – darum geht es auch in dem Gedicht »Strömung und Form«, das den Lesern einen konkreten Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt Christa Lichtensterns gibt. »Was lebendig bleibt, / ist Rhythmus, / was ersteht: / Gestalt. // Hügelweit / flutet der Raum / hinein und hindurch. // Schwingend in sich / findet Bewegung / Form.« Wenn man bedenkt, dass sich die Kunsthistorikerin über viele Jahre hinweg – und zwar sehr intensiv – mit dem Œuvre Henry Moores beschäftigt hat, werden wir in diesen Zeilen einerseits die zentralen Begriffe herausfiltern können, die in Christa Lichtensterns wissenschaftlichen Werkbeschreibungen stets den Maßstab für künstlerische Qualität bilden. Andererseits werden wir den Einfluss des englischen Bildhauers auf die Poetin erkennen. Moore war sowohl für die Wissenschaftlerin als auch für die Lyrikerin in vielerlei Hinsicht Impulsgeber, weshalb einige ihrer wohl schönsten ›poetischen‹ Skulpturenbeschreibungen seine Arbeiten zum Gegenstand haben. Neben ›Lebendigkeit‹, ›Formrhythmus‹, ›Bewegung‹ wird hier dem ›Raum‹ als integralem Bestandteil der Skulpturen und Objekte große Bedeutung beigemessen. Während die erste Strophe des oben zitierten Gedichts schildert, wie sich durch lebendigen Rhythmus die Gestaltwerdung vollzieht, spielt in der nachfolgenden Strophe der Kontext der Skulptur eine tragende Rolle. Zu denken wäre etwa an die in ganz unterschiedliche Landschaften integrierten liegenden Frauengestalten Moores, deren mächtige, von Hohlformen bestimmte Körper den Raum in sich aufnehmen und ihn zugleich zur eigenen Entfaltung nutzen. In den Schlussversen kulminieren dann die Beobachtungen in der Erkenntnis, dass erst die innere Bewegtheit dem Kunstwerk seine Form verleiht.

Insofern setzt Christa Lichtenstern bei der Form innere Impulse voraus, die dafür sorgen, dass die Skulptur oder das Objekt aus seiner Tiefe heraus lebt. Dabei spielt es keine Rolle, ob das skulpturale Werk aus Stein oder Metall besteht. Deshalb überrascht es kaum, dass die Poetin mit ihrem Gedicht »November« eine Hommage auf die Form geschrieben hat: »Eichblatt im Frost, / kältegeschmiedet: // greift, umklammert, / sinkt, erstarrt. // Im Tod / lebt noch die Form.« Diese Verse sprechen für sich, denn die Autorin reduziert ihre lyrischen Texte auf das Wesentliche und forciert so ihre Aussagekraft. Durch exakte Metaphern, ein versiertes Spiel mit Klimaxen sowie Antiklimaxen und durch die vorsichtig eingeflochtenen Oxymora entsteht Lyrik, die der Kunst in einer kraftvollen, vielschichtigen Sprache Heimat gibt.

Resümee: Wie eine behutsame, aber zielsicher voranschreitende Schlafwandlerin hält Christa Lichtenstern ihre lyrischen Texte in einer aufregend unaufgeregten Balance – angesiedelt irgendwo zwischen Schlaf und Wachzustand, zwischen farbtrunkenen, formexpressiven Traumlandschaften und einer pointierten Metaphorik, die den Blick für unsere Welt schärft. Ein zutiefst berührendes, unzeitgeistiges und nachdenklich stimmendes Buch, das ich nicht nur Liebhabern einer geschliffenen Sprache empfehlen möchte, sondern auch und vor allem Kunstinteressierten. Denn wohl selten sind kühle Fakten der Kunstgeschichte so einfühlsam und konzentriert in Verse gegossen worden wie in diesen lyrischen Texten.

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