Buchrezensionen, Rezensionen

Christian Welzbacher: Durchs wilde Rekonstruktistan. Über gebaute Geschichtsbilder, Parthas Verlag 2010

Sie galt für Faschisten, Nationalsozialisten und Kommunisten, sie galt vor ihnen und gilt heute noch immer: eine Formel, die George Orwell einst in dieser Weise auf den Punkt brachte: »Who controls the past, controls the future: who controls the present, controls the past«. Eine Formel, die Christian Welzbacher auf die Frage nach Sinn, Unsinn und Methode von Rekonstruktionsbemühungen im vergangenen und zeitgenössischen Deutschland anwendet, während er sich auf 95 Seiten in Rage und wieder zur Ruhe schreibt. Lennart Petersen folgte ihm auf diesem Pfad »durchs wilde Rekonstruktistan«.

Welzbacher © Cover Parthas Verlag
Welzbacher © Cover Parthas Verlag

Martin Luther, von Füßen und Sockel gerissen, liegt rücklings vor den Trümmern der Frauenkirche. Es ist das erste von vielen Bildern in Welzbachers »Rekonstruktistan«. Die ersten Worte, die er schreibt, sind von Karl May, ein Zitat; die letzten über Karl May. Kurz vor Ende teilt Welzbacher zwei Sätze in sechs Verse auseinander, dann lässt er eine leere graue Doppelseite folgen. Was ist das nur für ein Buch, das er da geschrieben hat?

Welzbacher hat keine trockene wissenschaftliche Monografie aus den Händen gegeben. Es ist vielmehr ein kleines, wohltuend essayistisches Manifest, eine kritische Betrachtung und Stellungnahme zur wiederkehrenden Frage, wie man mit alter Bausubstanz verfahren soll: abreißen und überbauen, konservieren und ausstellen oder re-konstruieren?

Es wäre naiv, zu glauben, der Wiederaufbau teilweiser oder gänzlich verfallener Gebäude oder Stätten sei nur die einsame Leidenschaft vereinzelter regionalpatriotischer Hobbyhistoriker, die hier einen Brunnen, da eine Burg oder dort ein Schloss 'wie früher' wieder zusammenpuzzeln wollen. So, wie die Geschichte eines Menschen bestimmender Faktor seiner eigenen Identität ist, so sind auch die Konstruktionen größerer Identitäten — wie beispielsweise einer Region, eines Staates oder auch einer politischen Partei oder Ideologie — verbunden mit dem Bild einer eigenen Geschichte. Und diese Vorstellungen von der eigenen Geschichte fallen nicht vom Himmel, sie werden von Menschenhand geschaffen: besonders deutlich dort, wo sie als herrschaftliche Residenzen, Triumphbögen, Kirchen und Denkmäler in den Himmel ragen.

Wenn der Bau von Gebäuden nun nicht nur pragmatischen und ästhetischen, sondern auch politischen oder ideologischen Ansichten folgt, wie ist es dann mit der Rekonstruktion solcher Architektur, die oftmals als Symbole die menschlichen Reiche, Staaten oder Ansichten in ihrer so offensichtlichen Vergänglichkeit überdauern? Oder anders gefragt: warum will man das Berliner Stadtschloss wiederaufbauen, nicht aber den Palast der Republik?

Welzbacher stellt sich Fragen dieser Art nicht nur, er verknüpft sie zu einem breiten Schauteppich über den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte. Er zeigt, wo sich Städte mit dem Wiederaufbau historischer Bausubstanz ein bestimmtes Gesicht geben wollen, Nachbesserungen des Originals hin zur gewünschten Identität inklusive; wo Historisches, weil es wirtschaftlichen Interessen im Wege steht, abgerissen oder instrumentalisiert wiedererrichtet wird als Konsumgut Geschichte; wo der kritische Umgang mit den Relikten vergangener Zeiten dem Diktat des kommerziellen, touristischen oder politischen Erfolgs weichen muss. Die Rekonstruktion des Vergangenen als Bilderbuch der Gegenwart, in dem es zu lesen lohnt — so breitet Welzbacher sein Panorama zur Frage nach dem Umgang mit historischer Bausubstanz aus. Und er weiß, seinen Leser zu überzeugen.

Was Welzbacher lesenswert macht, sind allerdings nicht nur seine klugen und weitsichtigen Darstellungen zum »wilden Rekonstruktistan« Deutschland. Es ist gleichsam die Art, wie er schreibt, seine prägnanten Sätze in jenem leicht schnodderigen, polarisierend-emotionalen Ton, in dem er auch Stellung zu beziehen weiß, dem Leser so Möglichkeit zur gedanklichen Kontroverse gibt:
»Die nüchtern-arbiträre Haltung von Aktenfressern und Fußnotenzählern störte die kollektive Hingabe an die Geschichte. Es ist sicher kein Zufall, dass die neue Altgier im Zeitalter der Popularisierung und Ironisierung sämtlicher Diskurse entstand, der Ära von Spaßkultur, Loveparade, Fusion-Food, Revival und Bad taste. 'History': Wer den Namen des öffentlich-rechtlichen Geschichtsfernsehens mit einem manischen Ausnahmezustand assoziiert, dürfte kaum verkehrt liegen«.

Welzbacher ist streitbar, das macht ihn aus. Er hält dem gesellschaftlichen Umgang mit der eigenen Geschichte den Spiegel vor. Was er an der Problematik der Wiedererrichtung vergangener Bauten durchdekliniert, ist mehr als nur eine bloße Abhandlung über eine bestimmte Form der Architektur. Es ist eine kleine Streitschrift gegen die Instrumentalisierung der Geschichte, was in einer Zeit, in der man sich aus Angst vor dem Islam auf den Sockel einer irgendwie gearteten 'christlich-jüdischen Tradition' stellen und dadurch abgrenzen will, auch bitter nötig ist.

Aber was hat dies alles schließlich mit Karl May zu tun? Nun, es ist dieselbe Geschichte um eben jene Machtfrage zwischen rekonstruierter Vorstellung und historischer Wirklichkeit. Und wer wissen will, wie diese im Fall May ausgeht, sollte sich eine dicke Biografie des Ernstthaler Schriftstellers zulegen — oder es bei Welzbacher nachlesen.

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