Ausstellungsbesprechungen

Chto Delat? in Baden-Baden. Das Lehrstück vom Un-Einverständnis, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, bis 12. Februar 2012

Russische Kunst steht derzeitig ganz im Fokus in Baden-Baden. Eine spannende Ausstellung wirdmet die Staatliche Kunsthalle der russischen Künstlergruppe »Chto Delat?« und ihrer Auseinandersetzung mit der russischen Politik. Elena Korowin hat die außergewöhnliche Ausstellung für PKG besucht.

»Chto Delat?« bedeutet ins Deutsche übersetzt »Was tun?« und ist seit mehr als 150 Jahren ein Topos der russischen Gesellschaft. Diese Frage verbindet das alte Russland mit dem neuen und zieht sich quer durch die Kunstgeschichte des Landes.

In Baden-Baden steht nun »Chto Delat?« auf den Fahnen der Staatlichen Kunsthalle, somit ist die ewige Frage ihren Landesmännern und Landesfrauen in die schöne Kurstadt gefolgt. »Chto Delat?« ist der Name eines russischen Künstlerkollektivs, dass sich der Untersuchung gesellschaftlicher, politischer und kultureller Entwicklung Russlands seit der Perestoika-Zeit widmet. Die Künstler, Kritiker, Schriftsteller und Philosophen haben sich im Jahr 2003 zusammengefunden, um gegen Missstände der russischen Politik zu protestieren. Das erste Ergebnis dieses Konvents war eine Zeitung, die von den Mitgliedern hergestellt und kostenlos auf Kulturevents verteilt wurde. In Baden-Baden blicken »Chto Delat?« auf die letzten Jahre ihres gemeinsamen Schaffens zurück. Die verschiedenen Ausgaben der Zeitung nehmen im Ausstellungsraum neben anderen künstlerischen Arbeiten Platz. Zum ersten Mal kann man die vier Songspiele der Künstler in einer Ausstellung sehen.

In diesen Filmen beschreiben die Künstler spannungsreiche Situationen der Geschichte, wie den Zusammenbruch der Sowjetunion oder die Vertreibung der Roma aus Belgrad 2009, sie wagen aber auch einen Ausblick in die Zukunft Europas im Film »Museum Songspiel. The Netherlands 20XX« Die Songspiele sind perfekt komponiert: Ein Chor kommentiert die Situation, während einzelne überzeichnete Protagonisten sich widersprechen. Dieses Format kann man auf die antike Tragödie sowie auf Bertold Brechts Lehrstücke zurückführen. Man betrachtet das Schauspiel mit einem lachenden und einem weinenden Auge und ist begeistert vom Scharfsinn der Künstler. Der Soundtrack bleibt für Wochen ein Ohrwurm, die Kostüme und Choreographien sind einmalig. Zur Ausstellungseröffnung führte das Kollektiv im großen Oberlichtsaal der Kunsthalle ein neues Singspiel auf: »Das Lehrstück vom Un-Einverständnis«.

Die konzertante Aufführung wurde in kürzester Zeit mit deutschen Schauspielern und Sängern vor Ort einstudiert und begeisterte das Vernissage-Publikum. Die weiteren Räume wurden größtenteils speziell für die Ausstellung konzipiert und entführen den Besucher in den Wald des russischen Unterbewusstseins oder laden ein, sich politisch weiterzubilden. Dafür wurde ein Leseraum mit Sitzgelegenheiten präpariert und mit Büchern bestückt, die von den Mitglieder von »Chto Delat?« zur politischen Weiterbildung empfohlen werden. Der Katalog zur Ausstellung bietet eine Übersicht bisheriger Projekte der Gruppe und rundet die umfassende Präsentation in Baden-Baden mit Interviews und Textbeiträgen ab. Mit dieser Ausstellung bietet Johan Holten eine erste Antwort auf die Frage, die er selbst mit seiner Auftaktausstellung in der Kunsthalle Baden-Baden stellte: Wenn es nicht die Aufgabe einer staatlichen Institution ist, den Geschmack ihres jeweiligen Direktors zu präsentieren, was ist sie dann?

Vielleicht hat man hiermit eine der besten Antworten gegeben. Man zeigt engagierte Kunst, die bunt und laut ist sowie dem Betrachter Fragen stellt, die ihn zum Nachdenken bringen. Vielleicht ist es die Kunst einer längst vergessenen Art, die Kunst eines Kollektivs, das in die jüngste Vergangenheit zurückblickt und für mehr Bildung und mehr Reflexion plädiert. Eine Kunst, die kein Blatt vor den Mund nimmt und von Neuem längst vergessene Fragen stellt. Diese aktivistische politische Kunst bietet einen größeren Beitrag als einen rein ästhetischen Genuss.

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