Ausstellungsbesprechungen

Degas & Rodin. Giganten der Moderne, Von der Heydt-Museum Wuppertal, bis 26. Februar 2017

Seit zehn Jahren leitet Gerhard Finckh das Wuppertaler Von der Heydt-Museum und hat es seither verstanden, mit seinen hervorragend konzipierten und exquisit inszenierten Ausstellungen, insbesondere zum französischen Impressionismus, ein breites Publikum zu gewinnen. Nach Ausstellungen zu Auguste Renoir, Claude Monet, Alfred Sisley und Camille Pissarro zeigt er nun in einer ebenso überraschenden wie hinreißenden Zusammenschau zwei Großmeister des Impressionismus, nämlich Degas und Rodin. Über die sehenswerte Schau berichtet Rainer K. Wick.

Edgar Degas, den meisten vor allem als Maler rassiger Rennpferde, graziler Balletteusen und intimer Badeszenen gegenwärtig, und Auguste Rodin, Schöpfer epochaler Skulpturen wie »Das Eherne Zeitalter«, »Der Denker«, »Die Bürger von Calais« und anderer, waren zwei Künstler im Frankreich der Dritten Republik und des Fin de Siècle, die sich gekannt haben und auch einige Male persönlich begegnet sind, ohne dass sich daraus eine engere Beziehung ergeben hätte. Überliefert ist etwa, dass Rodin 1894 an einem Essen bei Monet in Giverny teilgenommen hat, bei dem auch Degas zugegen waren, doch reicht dies als Klammer natürlich nicht aus, um beide Künstler gemeinsam in einer Ausstellung vorzuführen. Und die Tatsache, dass sie vor genau hundert Jahren, im Kriegsjahr 1917, kurz nacheinander verstorben sind, dürfte als Kriterium für ein derartiges Unternehmen ebenfalls kaum von ausschlaggebender Bedeutung sein. Entscheidend ist vielmehr die Frage nach möglichen Berührungsstellen, Schnittmengen, Gemeinsamkeiten zwischen Degas als Maler, der auch Plastiken geschaffen hat, und Rodin als Bildhauer, der anfänglich gelegentlich gemalt und später vor allem leidenschaftlich gezeichnet hat – eine Frage, die zu beantworten das Anliegen und Ziel der aktuellen, von Gerhard Finckh initiierten und kuratierten Wuppertaler Ausstellung mit dem etwas pathetischen Untertitel »Wettlauf der Giganten zur Moderne« ist. Dass diese Frage zwangsläufig zugleich die biografisch und künstlerisch beträchtlichen Unterschiede zwischen diesen beiden Stars des Impressionismus berührt, liegt auf der Hand.

Finckh bemerkt in dem materialreichen, 430 Seiten starken Katalogbuch (25,- €) daran, dass der Kunstkritiker Camille Mauclair, der u.a. mit Büchern über Degas und Rodin hervorgetreten ist, schon 1903 über Degas‘ Malerei folgendes geschrieben hat: »Bei seinen Akten fällt zunächst die Plastizität auf [...], so dass man [...] an Rodin [...] erinnert wird. [...] Seine Akte sehen aus wie Bronzen.« Abgesehen von der »Petite Danseuse«, die in Wuppertal bedauerlicherweise nicht gezeigt werden kann und nur als Großfoto figuriert, waren Mauclair zum damaligen Zeitpunkt die großartigen plastischen Arbeiten von Degas, die im Zusammenspiel mit einer Reihe Rodinscher Kleinplastiken einen der Höhepunkte der Ausstellung im Von der Heydt-Museum bilden, noch unbekannt. Neunzig Jahre nach Mauclair, 1993, hat Anne Pingeot, damals Kuratorin der Abteilung für Skulpturen des Louvre und des Musée d’Orsay, in einem Aufsatz erstmals eingehender Rodin und Degas zueinander in Beziehung gesetzt, und zwar unter besonderer Berücksichtigung des Umgangs dieser Künstler mit der Kunstkritik. Den Impuls dieses Aufsatzes (der im Katalogbuch in leicht überarbeiteter Fassung abgedruckt ist) aufnehmend, ist Gerhard Finckh nun eine überaus sehenswerte Ausstellung gelungen, die Korrespondierendes wie auch Kontrastierendes gleichsam dialogisch in Szene setzt.

Die Ausstellung ist in zwölf Kapitel gegliedert, und jedem dieser Kapitel ist ein eigener Raum zugeordnet. Im ersten Raum geht es um die künstlerischen Anfänge von Degas und Rodin – zwei Künstlern mit ganz unterschiedlichem sozial-kulturellen Background und Karriereverlauf. Edgar Degas, 1834 als Sohn eines betuchten Bankiers geboren, erhielt seine Schulbildung an einem Pariser Elitegymnasium, studierte in Paris an der Kunstakademie Malerei sowie zusätzlich Jura an der Sorbonne und war schon 1865 im offiziellen Salon vertreten. Der 1840 geborene Auguste Rodin stammte aus vergleichsweise bescheidenen familiären Verhältnissen, besuchte das von einem Verwandten in Beauvais geführte Internat und bewarb sich dreimal vergeblich an der Akademie. Seine Ausbildung erhielt er bei dem Bildhauer Carrier-Belleuse, dem er auch nach Brüssel folgte, um dort an bauplastischen Auftragsarbeiten mitzuwirken. 1864 wurde er mit seiner aus Gips gefertigten »Maske des Mannes mit der zerbrochenen Nase« von der Jury des Pariser Salons abgelehnt, erst 1875 gelang es ihm, im Salon mit einem Bronzeguss desselben Kopfes zugelassen zu werden. In den folgenden Jahrzehnten arrivierte er zu einem der erfolgreichsten Künstler seiner Zeit, der das große Publikum suchte und fand, während sich Degas, nicht zuletzt wegen eines fortschreitenden Augenleidens, mehr und mehr zurückzog und zu einem »menschenscheuen, eigenbrötlerischen Einzelgänger« (Katalog) entwickelte.

Die in Wuppertal in exemplarischer Auswahl gezeigten frühen Arbeiten beider Künstler machen deutlich, wie sehr für deren künstlerische Entwicklung anfänglich die Antike, die Renaissance und – besonders bei Degas – der Klassizismus bestimmend waren. Dies belegen Degas‘ zarte Bleistiftzeichnungen nach alten Meistern ebenso wie Rodins männliche Aktstudien, die ganz der französischen Akademietradition verpflichtet sind, und auch etliche seiner Skulpturen aus den 1870er Jahren, so etwa die Bauplastiken aus Brüssel (Kariatyde zwischen zwei Atlanten) lassen die Signatur des damals allgemein verbreiteten Historismus erkennen.

Dort, wo Rodin nicht auftragsgebunden arbeitete, hatte er schon früher versucht, die akademischen Bahnen zu verlassen, so mit der bereits erwähnten »Maske des Mannes mit der zerbrochenen Nase« von 1864, mit der er im Salon zunächst nicht zu reüssieren vermochte. Mögen sich hier auch Bezüge zum hellenistischen sog. Pseudo-Seneca und vor allem zu Daniele da Volterras Michelangelo-Büste herstellen lassen, so war doch neu, dass es sich bei diesem Porträt jenseits aller Idealisierung um das realistische Abbild eines Mannes vom Pferdemarkt, also aus der Pariser Unterschicht, handelte. Und nicht nur das: neu war auch die Behandlung der Oberfläche, hatte sich Rodin doch von der glatten Großflächigkeit der klassizistischen Plastik abgewendet zugunsten einer »unruhigen Buckel- und Löcher-Modellierung« (Katalog) mit lebendigen Licht-Schatten-Effekten und damit, so Gerhard Finckh, die Plastik des Impressionismus begründet.

Dieses sog. modelé wurde nicht nur zum Markenzeichen Rodins, sondern ist auch typisch für die Kleinplastiken, die Degas von Pferden und Tänzerinnen schuf. Die Wuppertaler Schau erinnert daran, dass sich Degas‘ Begeisterung für Pferde und Pferderennen nicht nur in Zeichnungen und Gemälden niederschlug, sondern auch in einigen grazilen, zum Teil ja fragil anmutenden Skulpturen aus den 1880er Jahren, die Pferde in Bewegung zeigen – ziehend, tänzelnd, springend – und in ihrer impressionistischen Skizzenhaftigkeit wesentlich »moderner« wirken als etwa Rodins Entwurf für das Denkmal des Generals Patrick Lynch (1886), der eher den traditionellen Erwartungen an ein repräsentatives Reiterstandbild entsprochen haben dürfte.

Dass die Fotografie und vor allem die Chronofotografie eines Eadweard Muybridge dem Interesse Rodins und Degas‘ an der Erfassung der Bewegung von Tier und Mensch in hohem Maße entgegenkam, da erst sie die genaue Kenntnis der einzelnen Phasen eines Bewegungsablaufs ermöglichte, wird in Wuppertal in einem separaten Raum (Kapitel 4) dargestellt. Um zum Beispiel herauszufinden, ob ein Pferd im Galopp den Boden berührt, schuf Muybridge mithilfe mehrerer sukzessive auslösender Fotoapparate bei schnellen Verschlusszeiten Reihenfotos, die tatsächlich den Nachweis erbrachten, dass sich für einen kurzen Moment alle Hufe des Tieres in der Luft befinden. Später setzte Muybridge diese Experimente auch mit – meist unbekleideten – Menschen fort, um so den Geheimnissen natürlicher Bewegungsabläufe auf die Spur zu kommen. Obwohl davon auszugehen ist, dass Rodin und Degas diese Reihenaufnahmen kannten, wird man die hinreißenden Kleinplastiken von nackten Figuren in Tanzbewegung, die Degas und Rodin im späteren 19. bzw. im frühen 20, Jahrhundert geschaffen haben und die im Mittelpunkt des Kapitels/Raum 8 der Wuppertaler Ausstellung stehen, nicht als direkte Rückübersetzungen der chronofotografischen Momentaufnahmen Muybridges missverstehen dürfen. Vielmehr sind sie eher das Resultat intensivster Beobachtung und der zeichnerischen Niederschrift des Beobachteten, wie Degas‘ Kohle- und Pastellzeichnungen und Rodins aquarellierte Bleistiftskizzen belegen.

Hier kommt ein Thema ins Spiel, nämlich das von Nacktheit und Erotik, das in einer Gesellschaft mit herrschender Doppelmoral die Gemüter auch noch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erregen konnte. Mythologisch oder biblisch verbrämt, etwa in Gestalt der Liebesgöttin Aphrodite/Venus oder als Susanna im Bade, war Nacktheit in der bildenden Kunst akzeptiert. Handelte es sich aber um Darstellungen unbekleideter Frauen in alltäglichen Situationen, etwa bei der Toilette, gar um Bordellszenen, oder auch nur um erotische Posen wie in Rodins Aktstudien, galt dies als obszön. Gerhard Finckh macht darauf aufmerksam, dass Degas seine Frauen meist so im Bild platzierte, »dass sich zwischen dem zudringlichen Blick des Betrachters und der nackten Person Gegenstände oder Möbel befinden«, die eine Blickschranke und für die Modelle so etwas wie eine Schutzzone bilden. Und im Fall der aus Marmor geschlagenen Frauenfiguren Rodins sei es der »Gegensatz zwischen der rohbelassenen Steinbosse und der fein ausgearbeiteten, glatt polierten Figur«, der gleichsam einen Distanz erzeugenden Effekt habe und dem Pornografieverdacht entgegenwirke.

Degas hatte mit seiner auf der 6. Ausstellung der Impressionisten 1881 in Paris präsentierten lebensgroßen Wachsfigur einer vierzehnjährigen Tänzerin mit echtem Tutu, seidenen Ballettschuhen, Echthaarperücke und Seidenschleife (»Petite Danseuse«) einen Skandal ausgelöst, und zwar erstens, weil ihm unterstellt wurde, es handele sich um einen Abguss vom lebenden Modell, und zweitens, weil man das Gesicht für »schrecklich hässlich« hielt und in dem jungen Mädchen eine zukünftige Prostituierte zu erkennen glaubte. Der Künstler reagierte gekränkt und hat seine in den folgenden Jahren entstandenen kleinen Ton- und Wachsfigürchen von Tänzerinnen in den verschiedensten Posen nie öffentlich gezeigt. Erst nach seinem Tod fand man sie, zum Teil schadhaft, in seinem Atelier und goss sie in Bronze – das Von der Heydt-Musdeum zeigt sie in einer repräsentativen Auswahl. Schon einige Jahre zuvor, 1877, hatte auch Rodin in Brüssel einen Skandal provoziert, und zwar mit der lebensgroßen Gipsplastik eines verwundeten Soldaten mit zerbrochener Lanze mit dem Titel »Der Besiegte«. Ähnlich wie später Degas wurde dem Bildhauer vorgeworfen, er habe sein Modell einfach abgeformt. Rodins Lehrer, Carrier-Belleuse, konnte diesen Vorwurf entkräften, der Gips wurde (ohne Lanze) in Bronze gegossen und in Paris als »Das Eherne Zeitalter« (»L’âge d’airain«) gezeigt. Mit dem Ankauf durch den französischen Staat begann eine beispiellose Erfolgsgeschichte, die den Meister rasch zum Star avancieren ließ. Stationen dieser Erfolgsgeschichte – mit Werken wie »Johannes der Täufer«, »Schreitender Mann«, »Der Denker«, »Die Bürger von Calais«, »Das Höllentor«, »Der Kuss«, »Balsac« und anderen – können in Wuppertal in unterschiedlichen Zustandsformen, etwa als kleines Modell, als Gips oder als finaler Guss besichtigt werden.

Fragt man abschließend noch einmal nach Gemeinsamkeiten zwischen Degas und Rodin, so drängt sich zuallererst das Figürliche auf, das für einen Bildhauer jener Zeit natürlich von zentraler Bedeutung war, für einen impressionistischen Maler aber keineswegs. Denn die meisten Impressionisten waren in erster Linie Landschafter, nimmt man einmal Manet (der nur bedingt als Impressionist durchgeht), Renoir und eben Degas aus. Schnittmengen ergeben sich auch im Hinblick auf bestimmte Sujets – hervorzuheben sind vor allem die Tänzerinnen – und hinsichtlich des Problems der Darstellung von Bewegung. Hinzu kommen Parallelen im Umgang mit dem »modelé«, das von beiden Künstlern in der Weise gehandhabt wurde, das sich, wie schon angedeutet, beim Modellieren in Ton oder Wachs unruhige Oberflächen mit einem bewegten Auf und Ab der Buckel und Höhlungen bildeten. Und zu erwähnen ist ein weiterer Aspekt, dem die Ausstellung ein eigenes Kapitel widmet und der mit Begriffen wie Torsierung, Nonfinito, Zerstückelung und assemblageartiges Zusammenführen zu neuen Formgebilden umschrieben werden kann. Als Paradebeispiel für den »Torso als Problem der modernen Kunst« (Werner Schnell) und für »das Unvollendete als künstlerische Form« (Schmoll gen. Eisenwerth) figuriert in Wuppertal Rodins »L’homme qui marche«, und einige der Pastelle Degas‘ beziehen ihre »Modernität« nicht nur aus der Tatsache, dass die Figuren angeschnitten sind, sondern dass der Künstler seine Blätter gelegentlich auch physisch zerschnitt, einen Streifen Papier anstückelte und das Ganze neu arrangierte.

Nach Degas‘ und Rodins »Wettlauf zur Moderne« steht in Wuppertal ab Oktober 2017 mit Édouard Manet das künstlerische Wirken eines anderen bedeutenden Wegbereiters der Moderne auf der Agenda. Ziel dieses Vorhabens ist es dem Vernehmen nach, Manet in den Kontext seines gesellschaftlichen Umfeldes im Zweiten Kaiserreich und in der frühen Dritten Republik zu stellen. Ob Gerhard Finckh damit seinen überaus erfolgreichen und publikumswirksamen Ausstellungszyklus zur französischen Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Abschluss bringen wird, oder ob weitere Ausstellungsaktivitäten zum Thema geplant sind, war bisher noch nicht zu erfahren.

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