Ausstellungsbesprechungen

Der Blick auf Fränzi und Marcella. Zwei Modelle der Brücke-Künstler Heckel, Kirchner und Pechstein, Sprengel Museum Hannover, bis 9. Januar 2011

Die Ausstellung ist den zwei jugendlichen Modellen aus Dresden, Fränzi und Marcella, gewidmet, die Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Max Pechstein in vielen Gemälden aus den Jahren 1909 bis 1912, in farbigen Blättern und einer fast unüberschaubaren Anzahl von Zeichnungen abgebildet haben. Rainer K. Wick hat sich die Ausstellung angesehen.

1909, vier Jahre nach Gründung der expressionistischen Künstlervereinigung „Brücke“ in Dresden, taucht in den Zeichnungen und Gemälden von Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Max Pechstein ein junges Modell auf, Fränzi, damals noch nicht einmal neun Jahre alt. Und kurz danach kommt Marcella hinzu, mit ihren vierzehn Lenzen ebenfalls noch blutjung. Lange galten diese beiden Modelle als Schwestern, Kinder eines verstorbenen Artisten. Es ist das Verdienst einer schönen Ausstellung, die derzeit im Sprengel-Museum in Hannover zu besichtigen ist, und natürlich das Resultat vorangegangener intensiver Forschungen, dass wir heute nicht nur wissen, dass es sich bei Fränzi und Marcella nicht um Geschwister gehandelt hat, wie jahrzehntelang angenommen wurde, sondern dass wir auch die Identität dieser beiden jugendlichen Modelle kennen. Fränzi, geboren 1900 und um 1910 als vorpubertäre Göre Lieblingsmodell der Brücke-Künstler, hieß mit vollem Namen Lina Franziska Fehrmann und war das zwölfte Kind einer Dresdner Arbeiterfamilie. Marcella, Jahrgang 1895, stammte ebenfalls aus Dresden, hieß mit Nachnamen Sprentzel und kam aus ähnlich einfachen Verhältnissen. Obwohl schon einige Jahre älter als Fränzi, war sie körperlich offenbar kaum entwickelt und wirkte fast noch knabenhaft.

Neben anderen Frauen waren es diese beide zarten Mädchen, die den Brücke-Künstlern für zahllose Zeichnungen, für eine Reihe von Ölgemälden und für etliche druckgrafische Arbeiten als Modelle dienten.

In den jetzt in Hannover ausgestellten Werken werden wie in einem Brennglas die unterschiedlichsten Reformtendenzen der damaligen Zeit deutlich: eine dezidiert antiakademische Haltung, eine entschiedene Hinwendung zum Kind als Inbegriff von Reinheit und Unverdorbenheit und ein begeistertes „Zurück zur Natur“.
Im bewussten Gegensatz zur sterilen Manier des akademischen Aktzeichnens, zum peniblen Detailstudium der menschlichen Figur, praktizierten die Brücke-Künstler mit Vorliebe zunächst den sog. Viertelstundenakt, der auf ein rasches Erfassen der hauptsächlichen Formmerkmale zielte. Später wurde das Tempo erhöht. Im kleinen Format entstanden in kürzester Zeit knappste Aktnotate, hieroglyphenartige Abbreviaturen – im herkömmlichen Sinne nicht immer „richtig“, dafür aber von gesteigertem Ausdruck. Für eine derart antiakademische Praxis waren Berufsmodelle mit ihren einstudierten Routineposen kaum geeignet. In Fränzi und Marcella fanden Kirchner und seine Künstlerfreunde Modelle, die nicht durch die übliche „Akademiedressur“ deformiert, ja denaturiert waren, sondern die sich unverbraucht als „natürliche“ Geschöpfe mit ungezwungenen Haltungen und Bewegungen präsentierten. Neben den kaum bekannten, spontan niedergeschriebenen Zeichnungen (oft aus Privatbesitz) dominieren in der Ausstellung natürlich die farbprächtigen Ölgemälde, die längst zu Ikonen der Malerei des Expressionismus geworden sind.

Bedauerlich ist, dass in der Ausstellung – von biografischen Wandtexten abgesehen – erklärende Sach- und Hintergrundinformationen fehlen. Ist es das verbreitete Grauen der Ausstellungsmacher vor der Pädagogik und allem Pädagogischen oder ihre Arroganz gegenüber dem Museumsbesucher, die sie allein auf die vermeintlich auratische Ausstrahlung der Kunstwerke und ihr selbsterklärendes Potential bauen lässt? Eine behutsam flankierende Didaktik wäre der schön gehängten Ausstellung sicherlich gut bekommen. Dies gilt ganz besonders im Hinblick auf eine Frage, die sich angesichts des Missbrauchsdiskurses der letzten Zeit in imperativer Weise aufdrängt. So zeigt eine kleine Zeichnung Kirchners den Künstlerkollegen Erich Heckel „im Gespräch“ mit der nackten Fränzi (so der behelfsweise Titel des Blattes), eine andere einen nicht näher bezeichneten Mann, der das unbekleidete Modell umarmt. Obwohl hier Aufklärung dringend vonnöten wäre, präsentieren sich derartige Arbeiten unkommentiert. So bleibt der Besucher auf den Audioguide oder, besser noch, auf das gut recherchierte Katalogbuch mit seinen fundierten Beiträgen angewiesen. Darin hat die Religions- und Kulturwissenschaftlerin Irene Berkel zur Problematik des Verdachts des sexuellen Missbrauchs einen sehr lesenswerten, überaus differenzierten Beitrag geleistet. Im Hinblick auf die Brücke-Künstler gibt sie „Entwarnung“, wenn sie abschließend feststellt, dass angesichts der aktuellen Debatte „einst als unverdächtig betrachtete Formen der Zärtlichkeit und Zuneigung zwischen Erwachsenen und Kindern … den Eindruck einer unverfänglichen Vertrautheit verloren“ haben.

Weitere Informationen

Die Ausstellung ist vom 6. Februar bis zum 1. Mai 2011 auch in der Stiftung Moritzburg Halle/Saale zu sehen.

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