Ausstellungsbesprechungen

Die Kunst der Entschleunigung. Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei, Kunstmuseum Wolfsburg, bis 9. April 2012

Die Geschichte der Moderne ist eng mit der Geschichte der Beschleunigung verknüpft. Besonders in der Gegenwart wird jedoch der Ruf nach Entschleunigung immer lauter. Der Mensch ist keine Maschine. Die Häufung von Burn out-Kranken beweist es. Anhand der Kunst verdichtet die Ausstellung ein Thema, das den Nerv der Gesellschaft trifft und fokussiert mit den polaren Begriffen Beschleunigung/Entschleunigung zahlreiche aktuelle Probleme wie Zeitkrise, Stresssyndrome und Kontrollverlust. Bettina Maria Brosowsky stellt sich jedoch kritisch gegenüber der gesellschaftlichen Dimension von Kunstausstellungen.

Woran mag es liegen, dass sich Direktoren und Kuratoren anerkannter Institutionen moderner Kunst zunehmend Themen widmen, die enge disziplinenimmanente Reflexionen sprengen? Warum nimmt man sich stattdessen hochkomplexer Zusammenhänge wie dem Diktat des Wachstums oder der rasenden Beschleunigung unserer globalisierten Lebensumstände an? Hat sich vielleicht die zeitgenössische Kunst, um deren Erklärung es den Institutionen eigentlich gehen sollte, in weiten Teilen zu bequem in unserer Gesellschaft eingerichtet, hat sie sich zu sehr mit allen Systemen gemein gemacht, um noch zu eindringlichen Haltungen aus sich selbst heraus, fähig zu sein?

Ein wenig, zumindest, beschleicht einen dieser Einruck in der neusten Produktion des Kunstmuseums Wolfsburg »Die Kunst der Entschleunigung«. In vier chronologischen Zeitabschnitten, untergliedert in 15 Kapitel und einen Prolog, wird ein gedanklicher Bogen geschlagen vom Beginn der westlichen Industrialisierung bis zu unregierbaren, sich selbst blockierenden Megacities von Heute und deren Populationen in Asien, Afrika und Südamerika. Historische und aktuelle Ausdruckformen aus Malerei, Skulptur und Medienkunst thematisieren Aspekte einer enthusiastischen Geschwindigkeitsverherrlichung. Ihnen sind dialektisch Momente der Verlangsamung entgegen gestellt.

Die Zuordnung der Artefakte erfolgt in Präsentation und Katalog zuweilen sehr assoziativ, was zu ungewohnten ästhetischen Konfrontationen führt. Der Prolog »1776: Freiheit – Goethe – Dampfmaschine« beispielsweise setzt die Unabhängigkeitserklärung der 13 Gründungsstaaten der USA von ihrem englischen Mutterland ideengeschichtlich gleich mit dem wirtschaftsliberalen Traktat Adam Smith's »Der Wohlstand der Nationen« und der physischen Entfesselungsdynamik der ersten Dampfmaschine. Goethe stellte derartig 'veloziferischer' Betriebsamkeit 1777 seinen »Stein des guten Glücks« in den Weimarer Ilmwiesen entgegenstellte. Diesen – eine Kugel auf einem Würfel – interpretierte Goethe als die optimale Balance (s)eines Lebens zwischen dem launischen Glück und der Unbestechlichkeit der Ruhe. Des Dichterfürsten Geistesfriede setzte J.H.W. Tischbein dann, am Vorabend der französischen Revolution, alle Zeichen der Zeit ignorierend, in der römischen Campagna selbstgewiss in Szene. Dieser Geistesfriede erfährt in der Ausstellung nun eine ganz andere Brechung: durch die futuristische Raumkapsel des britischen Modeschöpfers Hussein Chalayan aus dem Jahr 2003. Das Video, das die Kapsel durch tischbeinartige Landschaften sausend zeigt, in denen statt römischer nun postindustrielle Architekturzitate die Staffage bilden, läuft im letzten Kapitel zu den Turbocities als ungewollte Entschleunigungswüsten.

Mit 160 Arbeiten von 85 Künstlern zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg erneut eine überwältigende Materialfülle an Originalen, die an einer 70 Meter langen gekrümmten Wand, der Speedline, Werke der Akzeleration versammelt, während in beigestellten Kuben die stille Moderne ihren Auftritt erhält. Doch alle Facetten bleiben glücklicherweise mehrdeutig, entziehen sich der messerscharfen Zuordnung in Bewegung und Ruhe. So sind zum Beispiel die kinematografischen Urerfahrungen um 1900 in den Genen einer architektonischen Moderne als fließende, gleichwohl bergende Räume aufs Beste synthetisiert. Die Kunst als »Frühwarnsystem« gesellschaftlicher Zustände – um mit Museumsdirektor Markus Brüderlin zu sprechen – scheint sich holzschnittartiger Antipoden wie denen der Be- oder Entschleunigung zu entziehen. Oder, wie Byung-Chul Han in seinem Katalogbeitrag feststellt: Die Zeitkrise von heute beruht nicht auf der Beschleunigung, folglich wäre die Entschleunigung auch nicht deren Lösung. Er thematisiert eine narrative Dimension der Zeit, die Szenografie des Sinns und der Bedeutung. Jede andere Vorstellung ist nur »spectaculum«.

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