Buchrezensionen

Die Reise in den Westen. Ein klassischer chinesischer Roman. Mit 100 Holzschnitten nach alten Vorlagen. Übersetzt und kommentiert von Eva Lüdi Kong. Reclam 2016

Es ist ein gewaltiges und schweres Buch, aber trotz seines erstaunlichen Umfangs soll es eines der meistgelesenen Bücher der Welt überhaupt sein, der Bibel sozusagen dicht auf den Fersen. »Die Reise in den Westen«, der große Klassiker der chinesischen Literatur, kann in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden. Stefan Diebitz hat das Buch verschlungen.

Nein, ein Roman ist es gar nicht; es ist eher eine Novellensammlung oder ein Volksbuch, ein bunt zusammenfabuliertes Kaleidoskop, eine Mixtur aus Abenteuergeschichten mit Dämonen und Drachen, Göttern und Schurken und ganz vielen wüsten Prügeleien; es ist eine Burleske mit allerlei Absurditäten, ständigen Verwandlungen der Helden in Tiere und Naturgewalten, dazu ein allegorisch-alchemistisches Labyrinth und endlich ein Lehrbuch der Moral mit konfuzianischen, daoistischen und buddhistischen (Allerwelts-) Weisheiten. So ziemlich alles spielt also eine Rolle, nur leider die Liebe nicht, weil man damit frommen Wanderern keinesfalls kommen darf. Nein, vom Mond und Sonne-Spiel wollen die Pilger nichts wissen, sondern um ihres Karmas willen lieber unbefleckt bleiben.

Ein wenig Roman ist das Buch aber vielleicht ja doch, nämlich ein Bildungsroman, denn der Affenkönig Sun Wukong und der verfressene und auch sonst sinnliche Eber, Begleiter eines nach Indien wandernden buddhistischen Priesters, werden zusammen mit einem dritten Gehilfen, dem »Sandmönch«, auf ihrer unfassbar langen Reise von unkultivierten Berserkern, ja Mördern und Menschenfressern zu anständigen Menschen. Sie sollen »das Herz ablegen«, wie Eva Lüdi Kong den chinesischen Ausdruck für Selbsterziehung übersetzt hat, sie sollen der inneren Vervollkommnung einige Schritte näherkommen.

Man muss sich bis zum 12. Kapitel gedulden, bis die eigentliche Geschichte beginnt und der Kaiser Taizong, wie der reisende Mönch eine historische Gestalt, den ehrwürdigen Priester damit beauftragt, in den Westen zu reisen. Er soll nach Indien pilgern, »über Tausende von Gebirgen«, um die in seinem Reich bis dahin noch unbekannten buddhistischen Mahayana-Schriften ins Reich der Mitte zu holen. Für den Hinweg werden sie vierzehn Jahre brauchen, den Rückweg dagegen legen sie auf Wolken und in wenigen Tagen zurück.

Die Länge des Weges ist nicht allein und irgendwie ziemlich groß, sondern sprengt alle menschlichen Maßstäbe und symbolisiert damit die Schwierigkeiten der Selbsterziehung. Im 36. Kapitel sind »schon vier, fünf Jahre vergangen«, aber die kleine Gruppe ist »noch nicht mal zum Tor raus«. Ein kurzer Weg nämlich wäre keine Pilgerschaft. Als einer der Wanderer wie ein Kind fragt, ob es noch weit sei, bekommt er deshalb diese Antwort: »Nun, wenn Ihr von klein auf wandert, bis Ihr alt seid, im nächsten Leben wiederum von klein auf zu wandern beginnt, und so weiter, an die tausend Mal, dann ist das Ziel immer noch schwer zu erreichen.« Im vorletzten Kapitel dann endlich erfahren wir, dass der Mönch Tripitaka neun mal neun Prüfungen bestehen, neun mal neun Leiden erfahren muss.

Die mit Abstand interessanteste, weil in sich widersprüchliche und entwicklungsfähige Figur ist der ziemlich menschliche Affenkönig Sun Wukong. Und natürlich ist der Affe ein Symbol des Menschen – wie könnte das auch anders sein? In einem kleinen Kapitel seines berühmten Buches »Die Welt als Labyrinth«, »Monstrostät und Gesuchtheit«, spricht Gustav René Hocke über den Affen als ein Symbol des Menschen in der europäischen Kunst und Literatur, aber wie man sieht, hätte er außer auf lateinische und italienische Klassiker auch noch auf die chinesische Literatur zurückgreifen können.

Bei Sun Wukong handelt es sich um ein ungehobeltes, aber der Zauberei kundiges Wesen, das nicht allein zu kämpfen versteht, sondern das auch den »Wolkenüberschlag« beherrscht, mit dem es 108 000 Meilen in einem Augenblick zurücklegt. Warum also nicht Sun nach Indien zu Buddha schicken, damit er die Bücher holt? Weil es dann keine Pilgerschaft wäre! Und es gäbe nichts zu erzählen – weder ereigneten sich die Abenteuer des fromm-langweiligen und zusätzlich weinerlich-kleinmütigen Tripitaka, noch ließe sich von der Läuterung des anfangs brutalen, später mehr und mehr kultivierten, stets optimistischen Affen zu einem der Erlösung fähigen Wesen berichten. Dieser Affenkönig ist zwar schon zu Beginn des Buches intelligent und kennt allerlei magische Praktiken, mit denen er sogar den Himmel und seine vielen Götter aufmischt, aber vermag sich und seine Triebe, besonders aber seine Wut in keiner Weise zu kontrollieren.

Es gibt noch ein zweites und ein drittes der Läuterung bedürftiges Wesen, den Eber namens Zhu Wuneng alias Bajie, ebenso hässlich, aber anders als der hier mäßige Sun Wukong sehr verfressen, dazu kaum weniger kampfstark und deshalb als Reisekamerad nützlich. Insgesamt ist er der (Selbst-) Erziehung ähnlich bedürftig und damit der genau richtige Held für eine Bildungsgeschichte, die sich zieht. Hier wird kein Turboabitur abgelegt, sondern die beiden groben Gesellen müssen zusammen mit dem eher unauffälligen Sandmönch lange an sich arbeiten und hart geschliffen werden, bis sie endlich nützliche Glieder der Gesellschaft genannt werden dürfen.

Besonders der Affe leidet unter seinem Hochmut, und das wiegt sehr schwer. Denn die Akzeptanz der Rangfolge ist der östlichen Kultur äußerst wichtig; nicht nur vor dem Kaiser wird der »Stirnaufschlag« (Kotau) vollzogen, sondern auch den zahllosen Göttern und Dämonen, den heiligen Mönchen oder hohen Beamten hat man seine Höflichkeiten zu erweisen. Und der Himmel selbst ist in seiner inneren Gliederung geradezu eine Parodie menschlicher Verhältnisse. Oder ist es umgekehrt? Jedenfalls gibt es kaum Schlimmeres, als einem anderen Wesen ohne Rücksicht auf Rang und Würde zu begegnen, und vorsichtshalber bezeichnet sich deshalb fast jedermann als gering: »ich geringer Mönch«, sogar »ich geringer Gott«. Insofern ist die in diesem Buch vermittelte (buddhistische?) Ethik eine Schrumpfform der Moral, der wesentliche Teile fehlen.

Der Leser muss sich bis zum 78. Kapitel gedulden, bis Mitleid ein erstes Mal thematisiert wird, und überhaupt spielen ganz zum Ende hin noch andere Motiviationen eine gewisse Rolle. Aber sonst gilt: Man hat erstens die Stelle zu akzeptieren, an die man gestellt wird, und zweitens geht es darum, seine Leidenschaften zu unterdrücken, um eines fernen Tages aus dem Kreislauf des Lebens auszuscheren. Das ist denn aber auch schon. Die angestrebte Vervollkommnung ist ganz selbstbezogen. Es kann einem deshalb Max Schelers Bemerkung einfallen, dass es dem Buddhismus an einem positiven Menschenbild fehlt: Zumindest für dieses Buch stimmt das wirklich.

Ein großes Problem damit, seine gegenüber dem Priester untergeordnete Stelle einzunehmen, hat der Affenkönig. Sein Selbstgefühl drückt sich darin aus, dass er ähnlich wie sein Reisepartner von sich selbst halb in der ersten, halb in der dritten Person spricht: »ich alter Sun«, »ich alter Eber«. Schön sind sie übrigens nicht, sondern der eine ist über und über behaart, der andere trägt einen Schweinskopf mit einer sehr langen Schnauze vor sich her. Besonders am Ende des Buches, wenn die kleine Gruppe nach Indien kommt und mehr und mehr richtigen Menschen in Städten und nicht nur Dämonen in der freien Natur begegnet, kommt ihre abschreckende Hässlichkeit zum Tragen.

Mit seinen hundert Kapiteln ist »Die Reise in den Westen« ein Epos, eine im Prinzip unendlich dahinrollende Geschichte mit, wie es zunächst scheint, ganz willkürlich aneinander gereihten Kampf-, Prügel- und Zauber-Episoden. Viele Kapitel beginnen mit »betrachten wir nun«, und immer dann, wenn eine Figur nicht weiter wichtig ist, heißt es nur lapidar, »ihr weiteres Schicksal sei nicht weiter ausgeführt«, und schon wendet sich das Buch anderem zu. Allerdings weist die Übersetzerin daraufhin, dass das Geschehen einiger Teile des Buches, besonders aber die Kapitel 8 – 12, kunstvoll ineinander verflochten ist.

In aller Regel aber scheint die Erzählweise ebenso naiv wie überbordend, was auch mit den Zauberkünsten und nicht endenwollenden Verwandlungen diverser Gottheiten und Dämonen zu tun hat, auf die immer dann zurückgegriffen wird, wenn der fromme Tripitaka schwer in der Bredouille steckt – und er steckt oft, sehr oft in der Bredouille, ja eigentlich ist das sogar sein normaler Aufenthaltsort: er wartet gefesselt darauf, gefressen zu werden, oder er wird in einen Tiger verwandelt, oder er hat sich hoffnungslos verirrt, oder er soll mit einer vorsorglich in Wasser getauchten Peitsche gezüchtigt werden. Aber immer weiß der Leser, dass ihm nichts geschehen wird, obwohl die Dämonen in aller Regel recht unerfreuliche Pläne schmieden: »Wir können ihn vorläufig […] einweichen, nach ein paar Tagen pökeln wir ihn ein, dann haben wir was zum Schnaps.« Ein anderes Mal lautet die Frage des Kochs »gesotten oder gehackt?« Im Zweifel aber hilft die gute Göttin Bodhisattva Guanyin. Ein Wolkenüberschlag, und schon besucht der alte Sun sie auf ihrer Insel im Südlichen Ozean. Und sie verweigert niemals ihre Hilfe.

Es ist merkwürdig, dass diese Göttin auf den Holzstichen gelegentlich ein wenig wie die Heilige Jungfrau dargestellt wird, auch wegen ihres seitwärts geneigten Kopfes und ihrer süßlichen Erscheinung. Haben vielleicht europäische Vorbilder wie bei der Buddha-Statue, deren Vor- und Entstehungsgeschichte André Malraux in seinem berühmten Buch aufgezeigt hat, als Vorbild gedient? Denn obwohl weder Mutterschaft noch Jungfräulichkeit ein Thema sind, spielt sie sonst eine Rolle, die derjenigen Marias nicht ganz fern ist. Man muss zwar zu ihr reisen – Beten allein ist nicht ausreichend –, aber sie verweigert niemals ihre Hilfe. Und sie wird oft gebraucht.

Buddha erscheint etwas weniger ätherisch, als der Europäer sich das so vorstellt, zumal er sogar etwas rustikaleren Methoden gelegentlich nicht ganz abgeneigt ist. Einmal hilft er dem alten Sun gegen den Nashornkönig mit einem Zauber und verspricht dem Affen: »Dann kannst du ihn verhauen, wie du willst.« Na, und das lässt sich der nicht zweimal sagen.

Mit den kleinen gelben Reclambändchen, die man in der Schule gelesen hat, hat dieser Foliant allein die Farbe gemein, denn sonst ist das Buch gebunden, besitzt ein Lesebändchen und ist sehr schön auf hochwertigem Dünndruckpapier gesetzt. Dazu kommt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, je ein schwarzweißer Holzschnitt pro Kapitel. Sie stammen aus einer Ausgabe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die von einigen der berühmtesten Meister der Zeit geschaffen wurden. Weil es mehrere Künstler waren, sind sie nicht ganz einheitlich gestaltet; Sun zum Beispiel wird fast immer als Affe dargestellt, aber manchmal eben auch als Mensch. Diese Stiche, die meist den Kulminationspunkt des dramatischen Geschehens illustrieren, sind gut ausgesucht und scheinen mir schöner als die ein wenig zu bunten Drucke, die man im Internet bewundern kann. Allerdings wird das Vergnügen durch das durchscheinende Papier reduziert. Der Text orientiert sich an einer Ausgabe von 1663.

Der gewaltige und ziemlich unterhaltsame Schmöker enthält nicht allein die deutsche Übersetzung, sondern dazu ein ausführliches Nachwort der Übersetzerin, die nicht weniger als 17 Jahre an diesem Buch gearbeitet hat und nun den dankbaren Leser außer im Nachwort noch in zahlreichen Fußnoten an ihrem erstaunlichen Wissen teilnehmen lässt. Sie erläutert die Komposition des Buches, erklärt die Zahlensymbolik, kommentiert die buddhistischen, konfuzianischen und daoistischen Lehren und Allegorien und erstellte schließlich noch ein lückenloses Verzeichnis der im Buch auftauchenden Gottheiten. Ich alter Diebitz vollziehe den ehrerbietigen Stirnaufschlag vor ihr!

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