Buchrezensionen

Elger Esser: Combray 2005-2016, Schirmer/Mosel 2016

Elger Esser wurde für seine mit historischen Techniken aufgenommenen, atmosphärisch dichten Bilder in diesem Jahr mit dem Oskar-Schlemmer-Preis ausgezeichnet. Ganz neu ist außerdem der Fotoband, in dem er den fiktiven Ort Combray abbildet, den Marcel Proust in »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« beschrieb. Walter Kayser hat sich auf die Reise in das seltsam stille Örtchen gemacht.

Ernst Bloch hat in seinem »Prinzip Hoffnung« einmal eine Definition von Heimat gegeben, die berühmt geworden ist. Sie sei das, was noch nicht eingelöst sei, ein prägender »Vorschein« und Fluchtpunkt für alle Utopien, denn »der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten […] so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«.

Was der Schriftsteller Marcel Proust in seinem Monumentalwerk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« immer aufs Neue und in unendlich langen Ergänzungen und Korrekturfahnen um- und einkreiste, war demnach nicht die Erinnerung einer vergangenen Zeit; es war das Suchbild einer Vision, die annäherungsweise Verdeutlichung und Belichtung eines inneren Bildes.

So ist auch das Unternehmen des Fotografen Elger Esser zu verstehen. Er ist ein Wanderer durch die Zeiten, und wie allen echten Fotografen geht es ihm nicht um die Abbildung des Wirklichen, sondern um etwas nicht Greifbares, was hinter der Sichtbarkeit steht. Seine Bilder zu der Werkserie »Combray« sind über zehn Jahre hinweg entstanden. Es sind Annäherungen an den Raum der Proustschen Kindheit, ausschließlich in Frankreich aufgenommen, jenem Land also, das zwar die Metropole Paris hat, aber daneben noch eine ländliche »Provinz«, die diese Bezeichnung wirklich verdient. Nun gibt es im Proustschen Œuvre, vor allem im Band II mit dem schönen poetischen Titel »À l’ombre des jeunes filles en fleurs«, lange Passagen über die Wirkung, die in der Psyche des sensiblen Kindes und jedes Menschen Ortsnamen auszulösen vermögen. So ist es auch mit »Combray«. Diesen Ort gibt es nicht. Es hat ihn auch nie gegeben, selbst wenn sich seit Prousts hundertstem Geburtstag das Städtchen Illiers im Département Eure-et-Loir stolz so nennt, damit auf diese Weise noch ein wenig von dem Licht des berühmten Romanciers auf es fallen möge.

Ohne Zweifel strahlen die Fotos schon auf den ersten Blick eine traurig-süße Melancholie und nostalgische Stimmung aus. Auch die Wahl des Verfahrens spricht dafür: ausschließlich Schwarz-Weiß in der aufwendigen Technik der Heliogravüre. In dieser Weiterentwicklung der Aquatintaradierung sah man im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ungewohnte Möglichkeiten, malerische Tonigkeit äußerst differenziert wiedergeben zu können. Es ist, als seien die Motive einem Geheimarchiv des Schriftstellers Marcel Proust entnommen, das dieser gelegentlich als Inspirationsquelle in seinem exterritorialem, korkgetäfelten Zimmer aus eine Mahagonischublade gezogen hätte.

Sie entsprechen zu genau den Ausführungen über die unterschiedlichen Wege, auf denen man sich den Kirchtürmen von Martinville näherte. Man denkt auch an die drei Bäume, die im zweiten Band das Motiv sind, mit denen sich exemplarisch eine Topografie der Imagination verknüpft, welche sich über den gesamten Roman ausbreitet. Der Ich-Erzähler sinniert da, wie er »eben drei Bäume erblickt, die offenbar den Eingang bildeten zu einer überwölbten Allee und deren Form sich in einer Weise abzeichnete, wie ich sie nicht zum ersten Mal sah; es gelang mir nicht zu erkennen, von welchem Ort sie sich losgelöst haben mochten, doch hatte ich das Gefühl, er sei mir von früher her vertraut; nachdem mein Geist in dieser Weise einen Augenblick lang zwischen irgendeinem entlegenen Jahr und dem gegenwärtigen Augenblick hin und her gestrauchelt war, geriet die Umgebung von Balbec rings um mich her ins Schwanken, und ich fragte mich, ob diese Spazierfahrt nicht das Werk meiner Einbildung sei, Balbec ein Ort, den ich niemals anders denn in der Phantasie aufgesucht […]« (Bd. II S. 417f.). Immer wieder sind da die Feldsteinmauern mit den Eidechsenritzen (das Auge ergänzt unweigerlich die warmen Sandsteintöne in Grün-Blau und Gelb), abgelegene Gehöfte, verwitterte Ruinenromantik, umgeben von entlaubtem Gesträuch, kleine romanische Abteikirchen, in deren Innenräumen die Zeit stehen geblieben ist. Und nicht von ungefähr gleitet der Blick oft über breite Ströme oder Altarme von Flüssen, über Teiche und Brücken, öffentliche Brunnen und Waschhäuser – Gewässer also, die Spiegelungen einfangen. Wasser ist das magische Element der Lethe und Mnemosyne, das Geschenk des Vergessens und Erinnerns. Das ist der Grundton der Proustschen Erinnerungskunst, auf den sich all diese Fotos einschwingen. Ihre Topografie ist nicht zu verorten. Sie beschränken sich auch keineswegs auf die Stätten, die in Prousts Erinnerungskosmos auftauchen; vielmehr bilden sie ein eigenes Überall und Nirgendwo, künstlich zum auratischen Ort verwittert, bis sie wie heraus gefallen sind aus jeglicher chronologischer Bestimmbarkeit.

»Zeitigen« - so heißt der Titel der Ausstellung, die bis zum 20. Juli in der Karlsruher Kunsthalle zu sehen sein wird, um dann zu Beginn des nächsten Jahres in die Landesgalerie Linz zu wandern. »Zeitigen« – ein merkwürdiges Wort mit direktem Akkusativ aus der Heideggerschen Ecke; das bedeutet ja etwa soviel wie Wirkung erzeugen, Effekte hervorrufen können. Es ist damit nicht nur der Aspekt der zeitlichen Verortung, sondern zugleich auch das Grundprinzip des kreativen Schaffens angedeutet: das Evozieren und Hervorbringen ganz neuer Erfahrungsräume. Bei Elger Esser ist es das Sichtbarmachen einer eigenen seelischen Zeitordnung, eines Gestern im Heute.

Für den Schwaben Esser stellt das auch eine autobiografische Erinnerungsarbeit dar, stammt doch seine Familie aus Bordeaux. Sein Großvater heiratete als deutscher Soldat eine Französin. Der Sohn einer Fotografin und eines Schriftstellers, 1967 in Stuttgart geboren, wird dieser Tage mit dem Oskar-Schlemmer-Preis das Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. Er war unter anderem von 2006 bis 2009 Professor für Fotografie an der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Karlsruhe. Esser ist erst der zweite Preisträger dieses Großen Staatspreises für Bildende Kunst, der mit 25 000 Euro dotiert ist.

Ohne Zweifel kann man das ästhetische Programm dieses Fotografen als »retro«, als nostalgische Weltflucht, als filmischen Kulissenbau für Szenen aus einem morbiden Fin de Siècle diffamieren. Aber das wäre zu platt. Esser kam es nach eigenen Aussagen immer auf den Unterschied zwischen einem Foto und einem Bild an, wobei er den zweiten Begriff als den eigentlich künstlerischen und höherstehenden ansieht. Er bezieht sich gern auf einen Text von Charles Baudelaire aus dem Jahre 1859. Der Dichter, der selbst von Anfang an dem neuen Medium brennend interessiert war, wie auch Nadars Porträts von ihm belegen, unterscheidet da zwischen denen, die Bilder machen, als wäre kein Mensch anwesend, und den eigentlich fantasievollen Fotografen, welche allein für sich in Anspruch nehmen dürfen, dass »die Dinge durch [ihren] Geist erleuchten und ihren Widerschein auf die anderen Geister abstrahlen«.

Die im Format, in der Druckqualität und im großzügigen Layout optimal edierte Bucherscheinung des Verlags Schirmer/Mosel führt in den Katalog mit zwei hervorragenden Aufsätzen ein, dem der Karlsruher Kuratorin Kirsten Claudia Voigt und dem des Konstanzers Bernd Stiegler. Dieser führende Theoretiker der Fotografie arbeitet heraus, wie das Medium von Anfang an »eine Allianz mit dem Gedächtnis« einging. Schon 1927 stellte Siegfried Kracauer die These auf, dass die Allgegenwart von fotografischen Abbildungen, das, was wir heute so gern abschätzig als Bilderflut bezeichnen, ein Zeichen des Verschwindens von Geschichte sei, da hier nur die Gegenwart der Aufnahme erkennbar werde, ohne die dazu gehörige Mündlichkeit der Überlieferung.

Essers Bilder gehen völlig konträr gegen die absolute Gegenwärtigkeit des Gezeigten an; sie sind eine Recherche des Verblichenen und eröffnen verschüttete Erinnerungsräume. Novalis definierte das als Programm der romantischen Poetisierung. Vielleicht muss man nicht so hoch greifen, aber die Poetisierungskunst Elger Essers ist zumindest ein systematisches Umformen, das die Fotografie erneuert, indem es inhaltlich und technisch noch einmal an die unausgeschöpfte Geschichte der piktoralistischen Fotografie anknüpft. In jedem Fall hat es etwas Beglückendes, dass im 21. Jahrhundert noch solche Bilder möglich sind, die uns vertraut erscheinen, auch wenn sie Orte zeigen, an denen wir noch nie waren.

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