KunstGeschichten

Erich Wurth: Die Venus im Keller

Liebe Leser, hier wieder etwas zu Ihrer Unterhaltung: Genießen Sie die spannenden Kurzgeschichte aus Wien von Erich Wurth, die 2006 für den Kunstkrimipreis des VDG nominiert war.

Bildung macht sich bezahlt! Auch, wenn man sie erst auf dem „zweiten Bildungsweg“ erlangt.

Der Platten - Rudi erwarb sich die Bildung, derer er bedurfte, um seinen Coup zu landen, auf einem etwas seltsamen zweiten Bildungsweg, und zwar legte er den Grundstock zu seinem Wissen im „Häfen“ des „Zweier“ (was in allgemein verständlichen Worten das Gefängnis des Landesgerichts II bedeutet).
Platten - Rudi, der in der Szene so genannt wurde, weil er immer wieder versuchte, eine „Platte“, also eine Gaunerbande nach alt Wiener Muster zu organisieren und immer wieder dabei scheiterte, war „Meier gegangen“, also festgenommen worden, als er zufälligerweise gerade einmal unschuldig war wie ein neugeborenes Baby. Er war nur in der Nähe gewesen, als einer seiner Berufskollegen die Schaufensterscheibe eines Fotogeschäftes nahe der Wiener Innenstadt zertrümmerte.
Die Beamten des Streifenwagens, die wenig später eintrafen, erkannten den hoch gewachsenen, drahtigen Platten - Rudi sofort als Stammkunden und baten ihn, auf dem Rücksitz ihres Dienstfahrzeuges Platz zu nehmen.
Rudi, der sich immer sehr gehütet hatte, gegenüber Polizisten Gewalt anzuwenden, nahm also folgsam Platz, beschwerte sich zwar über seine ungerechtfertigte Festnahme, ja, nannte die beiden Beamten in seinem redlichen Zorn sogar „Wappler“, entschuldigte sich aber sofort dafür. Dann wurde er in jenes nüchtern, aber bedrohlich wirkende Amtsgebäude am Hernalser Gürtel, das jeder, der in Wien mit dem Gesetz in Konflikt kommt, nur zu gut kennt, eingeliefert.
Es war ein strahlender Sonntagnachmittag im April und Rudi hatte eigentlich besseres vorgehabt, als in einer Zelle mit Ausblick auf den Innenhof zu sitzen. Er hatte keine Hoffnung, noch am selben Tag wieder raus zu kommen. Ja, wahrscheinlich waren an einem so schönen Sonntag nicht einmal genug Beamte im Dienst, um ihn zu verhören. Rudi war sauer. Stocksauer.

Trotzdem bemühte er sich, dem jungen Burschen, den er in der Zelle vorfand, als er seine neue Behausung bezog, seine miserable Laune nicht allzu sehr fühlen zu lassen.

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Sein Mitbewohner war etwa 25 Jahre alt, ziemlich rundlich, trug einen sehr eigenwilligen Schnauzbart, langes, ungepflegtes Haar und hatte Brillen mit dicken Gläsern. Er las als Rudi eintrat und blickte nur kurz auf, um seinen neuen Zellengenossen flüchtig anzusehen, dann las er wortlos weiter.
Rudi wunderte sich. Jemand, der in einem Buch las! Bücher kannte der Platten-Rudi zwar, war sich aber über deren Zweck nicht ganz klar. Wozu lesen, wenn eh alles irgendwann verfilmt wurde und ins Fernsehen kam? Immerhin war ja sogar das Telefonbuch bereits verfilmt worden, so dass man die Telefonnummern aus dem Internet runterladen konnte. Er näherte sich seinem Zellengenossen und sah ihm über die Schulter, um festzustellen, was den Burschen so interessierte.
Der Schnauzbärtige sah wieder kurz auf. „Schleich di!“, sagte er unfreundlich und Rudi erkannte sofort an der Aussprache dieser Aufforderung, sich zu entfernen (insbesondere der Betonung des Buchstabens „L“ im Verbum „schleichen“), dass er es mit einem Kind des zwölften Wiener Gemeindebezirks zu tun hatte.
„Wappler!“, konterte Rudi mit seinem Lieblingsschimpfwort und zog sich auf eine der beiden Pritschen zurück. Er legte sich auf den Rücken und gab sich seinem Selbstmitleid hin. Anstatt heut abends mit seiner momentanen Flamme, der Krankenschwester Sabine, eine gepflegte Nummer zu schieben, lag er da im Zweier mit einem unfreundlichen Zellengenossen. Und das völlig unschuldig!
Unbewusst seufzte Rudi leise und erst jetzt wurde der dicke Schnauzbart auf ihn aufmerksam. Was er denn ausgefressen habe, wollte er wissen.
„Nix“, erklärte Rudi. „Glasscherbentanz in der Neubaugassen. Aber i war’s net. War nur zufällig in der Näh’.“
Der dicke Brillenträger lächelte wissend. „Eh klar.“
Aber das Eis war gebrochen. Rudi gab sich als gebürtiger Penzinger zu erkennen, also sozusagen als Beinahenachbar seines Zellengenossen und dieser begann daraufhin, von sich zu erzählen. Er hörte auf den Modenamen Oliver und war Student der Kunstgeschichte gewesen, bevor er seiner beruflichen Laufbahn eine andere Richtung gegeben hatte.  
„Zu was braucht man des?“, wollte Rudi in Bezug auf Kunstgeschichte wissen.
Worauf ihm Oliver erklärte, dass es sehr vorteilhaft wäre, über die Gegenstände, die man anlässlich von Besuchen außerhalb der Geschäftszeiten an sich nahm, Bescheid zu wissen, insbesondere was deren Wert in Sammlerkreisen betraf. Oliver hatte sich auf Einbrüche in Antiquitätenläden spezialisiert.
Der Platten - Rudi war ehrlich beeindruckt, als er erfuhr, dass alte, goldene oder silberne Schnupftabaksdosen mitunter einige Tausender einbrachten, ebenso Uhren, Schmuckschatullen und ähnliches. Natürlich kam es auf Alter und Material solcher Gegenstände an und in dieser Hinsicht hatte sich die Kunstgeschichte als wertvolle Hilfswissenschaft herausgestellt.
Jetzt erfuhr Rudi auch, was Oliver gelesen hatte: Ein Kapitel über verschollene Kunstwerke in Wien in einer Monografie über barocke Kunst in Österreich. Oliver hatte die Vermutung, einigen der verschollenen Stücke während seiner Besuche bei nicht ganz seriösen Antiquitätenhändlern bereits begegnet zu sein. „Die meisten san ja net so schwer wie die Venus von Penzing. Unwahrscheinlich, dass die jemals wieder auftaucht.“
Was denn ein Stern mit Kunst zu tun habe, fragte Rudi.
Rudi wäre ein „vertrottelter Vollkoffer“, wenn er noch nichts von der römischen Göttin gehört habe und nur an idiotische Science Fiction Filme denke, stellte Oliver fest. Die Venus von Penzing wäre eine lebensgroße Sandsteinfigur unbekannter Herkunft, die bis vor einigen Jahrzehnten erst im Gemeindehaus von Penzing und dann in einem Wirtshausgarten gestanden hätte. Eines Tages war sie dann plötzlich weg.
„Und wie schaut so was aus, a Venus?“, fragte Rudi.
Na ja, ein nackertes Weib halt mit einem Delphin.
„Mit an was?“
„Mit an Delphin! So was ähnliches wie a Fisch! A Säugetier, des wie a Fisch ausschaut. Du bist a bissl gehirnamputiert, wenn du des net kennst!“.
Rudi konterte mit dem Hinweis, dass ein gelernter Bauhilfsarbeiter wohl solche wissenschaftlichen Details nicht zu wissen brauche. Viel wichtiger wäre es doch, durch eine Wand in ein Juweliergeschäft gelangen zu können, als sich bei Fischen auszukennen.
„Was? Durch die Wand?“ Oliver war plötzlich interessiert.
Klar! Wäre doch einfacher, als sich mit Schlössern und so Zeug herumzuplagen. Ein paar Ziegel raus und fertig! Und übrigens könne er sich an eine Nackerte mit einem Fisch dunkel erinnern. So was habe er schon einmal gesehen.
Oliver war perplex. „Wo hast denn so was gsehn?“
Na, eh draußen im vierzehnten Bezirk, in Penzing. In einem Keller in der Nähe von Schönbrunn. „Wenn dir des so wichtig is, kann i di ja einmal hinführen.“
Das besiegelte das gute Einvernehmen zwischen den Beiden. Oliver erzählte noch eine Menge über Kunsthandwerk im Allgemeinen und seine Einbrüche im Besonderen und Rudi fand es seltsamerweise gar nicht langweilig.
Am nächsten Tag wurde der Platten - Rudi auf freien Fuß gesetzt.
Der tatsächlich Schuldige an dem Einbruch war gefasst worden, ein Bosnier, der sich erst seit kurzem in Wien aufhielt. Rudi schimpfte wie ein Rohrspatz sowohl auf die „Amtskappeln“, die unbescholtene Bürger grundlos festnahmen, als auch auf die unfaire Konkurrenz vom Balkan und die Globalisierung überhaupt, dann zog er ab, nicht ohne vorher mit Oliver die Telefonnummern ausgetauscht zu haben. 

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Es wurde Herbst und Oliver hatte sich noch nicht gemeldet. Schließlich rief er eines Tages doch an, sein Anwalt hatte ihn endlich frei bekommen.
Immer noch war er ganz gierig auf die Venus und Rudi machte mit ihm noch für denselben Abend ein Treffen vor dem Schloss Schönbrunn aus.
Sie hatten nicht weit zu gehen. Nachdem sie die stark befahrene Hadikgasse überquert hatten, führte Rudi seinen Kumpan die Schlossallee ein Stück nach Norden. Es war bereits dunkel und recht kühl, unter den Bäumen auf dem Gehweg zwischen dem Park des Palais Cumberland und dem Gleiskörper der Straßenbahn war niemand unterwegs. Der Autoverkehr auf der Schlossallee war zwar erheblich, aber der kümmerte Rudi nicht. Kaum ein Autofahrer würde dem durch die Straßenbahngleise von der Fahrbahn getrennten Gehweg Aufmerksamkeit schenken, noch dazu bei dieser Dunkelheit.
Das Gitter, das den nicht öffentlich zugänglichen Park begrenzt, war für Rudi kein Hindernis. Für den rundlichen Oliver, der auch in der Haft nicht abgespeckt hatte, allerdings schon. Rudi musste seinem Kumpan hinüber helfen und er sparte nicht mit Kraftausdrücken dabei, von denen „verfressene, fette Sau“ noch einer der harmlosesten war.
Dann war es geschafft und die beiden konnten sich sicher fühlen. Dichtes Gebüsch deckte sie zur Straße hin und die Fenster der Gebäude im Norden, in denen die tschechische Botschaft sowie die Schauspielschule untergebracht sind, waren dunkel.
Offenbar fand Rudi nicht sofort, was er suchte. Dann hatte er aber die Metallabdeckung eines Schachts ausfindig gemacht, hob den Deckel an und deutete nach unten. Oliver stieg, nachdem er mit einer starken Taschenlampe den Schacht ausgeleuchtet und sich orientiert hatte, an der Metallleiter, die an einer Wand angebracht war, hinunter. Rudi folgte und schloss über seinem Kopf die Abdeckung.
Dann standen beide auf dem Boden eines Wasserschachts. Hier verlief die Hauptwasserleitung und hier waren die Abzweigung und die Ventile zur Versorgung des Palais. Die Wände des Schachts waren gemauert, nicht betoniert, und in einer der Wände konnte man am Boden eine etwa 70 cm hohe Öffnung im Licht der Taschenlampen erkennen. Rudi bückte sich und begann, in diese Öffnung hineinzukriechen.
Oliver fühlte sich gar nicht wohl, als er Rudi folgte. Außerdem hatte er größte Mühe, durch diese niedrige Öffnung zu kommen.
Zum Glück war die Strecke, die er kriechen musste, nur kurz. Nach wenigen Metern stieß Oliver auf Steinstufen, die seitwärts weiter nach unten führten.
Es roch modrig, nach Erde, ähnlich wie in einem Kartoffelkeller. Aber die Luft war sonst durchaus gut und Oliver bemerkte auch keine übermäßige Feuchtigkeit hier. Am Fuß der Treppe wartete Rudi auf ihn und leuchtete mit seiner Taschenlampe.
Staunend sah sich Oliver um. Es war zweifellos ein alter Kellerraum, in dem er sich befand. Die Wände bestanden aus Ziegeln und auch die Decke war in gewölbter Ziegelbauweise ausgeführt.
Rudi erklärte ihm, wie er diesen Keller entdeckt hatte. Er hatte Grund gehabt, der Begegnung mit einem Polizeibeamten aus dem Weg zu gehen und war deshalb in diesen Park eingestiegen. Aus Angst, der Beamte könnte ihn hier aufstöbern, war er in den Wasserschacht geschlüpft.
Rudi sprach mit ganz normaler Stimme, ohne Angst, dass ihn jemand hören könnte, während er Oliver um ein paar Ecken herum voranging.
Und da stand sie.
Zweifellos die verschollene Venus. Oliver hatte zwar nie eine Abbildung der Statue gesehen, wohl aber Beschreibungen gelesen. Sie musste es sein.
Oliver nahm sie genau in Augenschein, nahm dazu die dicke Brille ab und brachte seine Augen ganz nah an die Skulptur heran. Der Sandstein war zwar etwas verwittert, aber die Figur war hervorragend gearbeitet. Oliver schätzte ihre Entstehungszeit auf etwa 1650. Es handelte sich eindeutig um ein Werk aus dem Barock.
„Na, nimm dir’s, steck’s in Sack und Abmarsch!“, spottete Rudi. Das Standbild wog mindestens eine halbe Tonne. „Trottel!“, kommentierte Oliver, aber in seinem Hirn arbeitete es bereits: Wie konnte man, heimlich natürlich, diese Statue da heraus kriegen? Dass sie eine schöne Stange Geld Wert war, stand für Oliver fest.
„Bleib da picken!“ Mit dieser unmissverständlichen Aufforderung, zu warten, verschwand Oliver in der Dunkelheit der unterirdischen Räume. Rudi blieb zurück und fingerte nach seinen Zigaretten.
Nach zehn Minuten war die Zigarette längst aufgeraucht und Oliver noch nicht zurück. Rudi wurde etwas nervös. So groß konnte der Keller ja wohl nicht sein!
Er begann, mit gedämpfter Stimme nach Oliver zu rufen. „Blader! Komm! Geh’n ma!“

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Keine Antwort. Rudi knipste seine Taschenlampe aus und versuchte, einen Schimmer von Olivers Handleuchte in der Dunkelheit zu erkennen. Nichts.
Na schön. Wenn Oliver so ein Vollkoffer war, sich in diesem Keller zu verirren, sollte er selber sehen, wie er wieder raus kam. Rudi hatte nicht die Absicht, hier Wurzeln zu schlagen. Er machte sich auf den Rückweg, die Treppe hinauf zu dem Wasserschacht.
Als er grade in den Verbindungstunnel zum Schacht kriechen wollte, hörte er seinen Namen rufen. Er drehte um und stieg wieder in den Keller hinunter.
Da stand Oliver und hatte einen Säbel in der Hand, dessen Klinge dort, wo sich nicht mit Rost bedeckt war, im Licht der Taschenlampe blitzte.
„Wo hast’n den her?“ fragte Rudi überrascht.
„G’funden! Und jetzt waß i a, was des für a Keller is“ Es wäre angebracht, die Sache irgendwo zu besprechen.
Der Zaun an der Grundstücksgrenze machte Oliver wieder gehörig zu schaffen und der Platten - Rudi sparte nicht mit Kommentaren. „Verfressener Pfosten, beweg’ di, du wamperter Wappler!“
Dann saßen sie in einem der Vorstadtbeisel, die es noch vor zwanzig Jahren beinahe an jeder Straßenecke gab, die mittlerweile aber selten geworden sind. Sie waren unbelauscht, um sie herum wurde lebhaft serbokroatisch und türkisch gesprochen.
Oliver war hellauf begeistert. Seine Augen hinter den dicken Gläsern funkelten und er bewies, dass er ein „Studierter“ war, indem er Rudi in möglichst einfachen Worten klar machte, was dieser auf seiner Flucht vor der „Schmier“ entdeckt hatte. Auch diesmal fand Rudi seine Erklärungen nicht langweilig.
An der Stelle, wo sich heute der Park des Palais erstreckt, hatte bis zum Jahr 1839 eine Kavalleriekaserne gestanden, die Mitte des 18. Jahrhunderts auf Anordnung Maria Theresias errichtet worden war. Der Säbel, den Oliver gefunden hatte, stammte zweifellos aus den Waffenbeständen dieser Kaserne.
Außerdem hatte Oliver bei seinem Rundgang durch den Keller einen gemauerten Tunnel entdeckt, der sich ungefähr in Richtung Osten erstreckte. Dies war zweifellos der geheime Tunnel zwischen Hofburg und Schönbrunn, von dessen Existenz die Wiener seit jeher überzeugt sind, der aber laut Stadtverwaltung nie existiert hat.
Klar, dass man den Gang nicht gefunden hätte, meinte Oliver, wenn man in Schönbrunn danach gesucht habe. Dabei wäre es logisch, den Tunnel unter der Kavalleriekaserne enden zu lassen, weil man sich erstens die kostspielige Unterquerung des Wien – Flusses ersparen konnte und zweitens der Tunnelausgang dadurch unter militärischer Bewachung gestanden hätte.
Hier unterbrach Rudi seinen Kumpan. „Und was bringt des? Mi interessiert nur cash, alles andere is mir wurscht!“
Oh – das könne möglicherweise einen ganzen Haufen einbringen, meinte Oliver. Der Tunnel war offenbar noch zu der Zeit der napoleonischen Kriege in Gebrauch gewesen. Wer konnte sagen, was in diesem Geheimgang noch an Werten lagerte? Man müsse nur dem Tunnel folgen und die ganze Anlage systematisch erkunden. Außerdem fände man vielleicht eine Möglichkeit, die Venus von Penzing irgendwo heimlich ans Tageslicht zu bringen. Durch den Wasserschacht wäre das undurchführbar, dazu sei die Figur zu schwer.
„Des nackerte Weib kann man verscherbeln?“, fragte Rudi ungläubig.  „Die is ja noch schwerer als du! Wer kauft denn so was?“
Na, neureiche Russen oder Chinesen. Er, Oliver, wüsste schon, an wen er sich wenden müsse. „Was is? Machst mit? Mit Flaschenzug und Wagenheber kriegt man die schon raus von da unten, wenn’s wo an andern Zugang gibt. Fifty – fifty, einverstanden?“
„Okay“, sagte Rudi und hielt Oliver die geöffnete Hand hin. „Her mit der Marie!“
Oliver lachte. Bis jetzt hätten sie die Venus ja nicht heraus und auch sonst noch nichts gefunden!
Doch. Den Säbel.
„Der ist nix wert.“
Oho! Rudi wisse nunmehr durch Olivers Nachhilfeunterricht, dass solche Dinge sehr wohl ihren Wert hätten! Und das Ding sei ja immerhin schon recht alt!
Oliver druckste herum. Na ja, vielleicht. Aber da müsse er ihn erst einmal verkaufen. Und im Übrigen sei er blank. Völlig abgebrannt. Er müsse Rudi sogar ersuchen, die Zeche zu übernehmen, so total stier sei er.
Zähneknirschend zahlte der Platten - Rudi, nachdem man die Erkundung des Tunnels für das kommende Wochenende vereinbart hatte. Rudi kündigte an, einen „Hasen“ mitzubringen, seine derzeitige Freundin, die in einem Architekturbüro arbeitete und die bei der Erforschung des Tunnels nützlich sein könnte.

Und so traf man einander am Freitagabend um halb neun vor dem Park des Palais.

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Es war sehr finster unter den Bäumen, neblig und es nieselte leicht. Als Oliver aus der Dunkelheit auftauchte, hatte er einen Rucksack umgebunden und eine junge Frau an seiner Seite, die er als Mira vorstellte. Tatsächlich hieß sie Kasimira, war Polin und Rudi fand sie ganz hübsch, als er sie später im Licht ihrer Handscheinwerfer genauer sah. Eine etwas große, kräftige Nase, stellte er fest, aber zu diesem Mädchen passte sie.
Man wartete noch einen stadteinwärts fahrenden Zug der Straßenbahnlinie 58 ab und stieg dann über das Gitter. Mira erwies sich als sehr geschickt, aber Oliver hatte wieder seine Probleme und Mira kicherte. Sie schien an der bevorstehenden Expedition ihren Spaß zu haben.
Als sie den Wasserschacht und die Kellertreppe hinter sich hatten, zog Oliver aus seinem Rucksack drei starke Handscheinwerfer. Er gab Mira und Rudi je einen und übernahm dann die Führung zu dem Geheimgang.
Der Tunnel war etwas mehr als zwei Meter breit, sauber ausgemauert und trocken, die Luft erstaunlich gut. Es musste hier ein effizientes Belüftungssystem geben.
Mira hatte einen großen Stadtplan dabei, außerdem ein langes Maßband und eine Bussole. Oliver erklärte, dass sie den ungefähren Verlauf des Stollens im Stadtplan einzeichnen würde, so dass man informiert war, wo man sich gerade befand.  
Zunächst ging es ziemlich eben gerade nach Osten, dann kam eine leichte Biegung nach Nordosten und der Tunnel stieg leicht an. Oliver fluchte ein bisschen und äußerte die Befürchtung, dass der Stollen zu den Kellern des Technischen Museums führen könnte, die als Nachbau eines Kohlebergwerks ausgeführt sind. Aber der Tunnel bog wieder nach Osten und senkte sich leicht ab, eine Verbindung zum Technischen Museum war offenbar nicht vorhanden.
Mira vermaß den Gang mit dem Maßband, das 30 Meter lang war und sich selbst aufrollte, wenn Rudi, der regelmäßig stehen blieb und das Band festhielt, es los ließ.
Laut Miras Aufzeichnungen verlief der Tunnel südlich parallel zur äußeren Mariahilfer Straße, wobei sie allerdings keine Möglichkeit hatte, festzustellen, wie tief man sich unter der Erdoberfläche befand.
Nach etwas mehr als einem Kilometer stieg der Boden wieder an und der Tunnel bog deutlich nach Norden ab, dem Straßenverlauf folgend. Dann schrie Mira plötzlich auf. Eine Ratte war vor ihren Füßen über den Weg gehuscht und in einer kleinen Öffnung in der Seitenwand verschwunden.
Rudi, der gerade in ihrer Nähe war, legte seinen Arm um Miras Schultern. „Na, na, Mädel! Hast Angst vor Ratzen?“
Sofort war Oliver neben ihm und zog Rudis Hand von Miras Schulter. „Das Berühren der Figüren mit den Pfoten ist verboten!“, sagte er.
„Wappler“, brummte Rudi, vermied aber künftig jeden Körperkontakt mit dem Mädchen.
Der Gang verlief jetzt exakt nach Nordosten und senkte sich wieder. Oliver grunzte zufrieden. „Unter dem ehemaligen Linienwall durch.“, stellte er fest. „Und wahrscheinlich auch unter der U6 durch, sonst hätte man den Gang schon vor hundert Jahren angekratzt.“
Tatsächlich hörten sie ein Rumpeln, als sie den tiefsten Punkt des Tunnels erreicht hatten und der Gang wieder anstieg. Ein U-Bahnzug war über sie hinweg gefahren.

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Der Tunnel wurde nun sogar noch etwas breiter und links und rechts waren nischenartige Abzweigungen in dem Mauerwerk, die aber nach wenigen Metern sorgsam mit Ziegeln verschlossen waren.
„Keller“, kommentierte Oliver. Das hatte er erwartet. „Kannst da durch?“, fragte er Rudi.
Rudi inspizierte eine der Abmauerungen. „Klar! Meißel und Hammer und in fünf Minuten bin i durch. Soll i?“
„Net jetzt. Jetzt mach ma Pause.“ Oliver zog in Plastikfolie verpackte Wurstsemmeln aus seinem Rucksack und verteilte sie.
„Klar, dass du’s Fressen net vergessen hast, Blader.“, kommentierte Rudi und biss mit Genuss in seine Semmel.
Während sie aßen, hörten sie mehrmals leise das Geräusch von U-Bahnzügen. Oliver sah sich Miras Zeichnung an und deutete auf die nördliche Stollenwand. „U3“, sagte er. „Genau parallel.“ Es wäre erstaunlich, dass man anlässlich des U-Bahnbaus nicht auf den Tunnel gestoßen sei.
Während des Imbisses im Licht der Handscheinwerfer begegneten sich Rudis und Miras Blicke mehrfach und Rudi glaubte, so etwas wie Sympathie in den Augen des Mädchens lesen zu können. Er hütete sich aber, mit Mira ein Gespräch zu beginnen. Oliver hatte seine Ansprüche auf sie ja bereits unzweifelhaft zu verstehen gegeben.
Sie rasteten etwa 20 Minuten, dann ging es weiter. Nach knapp einem weiteren Kilometer – nach Miras Zeichnung verlief der Stollen jetzt weiter von der Mariahilfer Straße entfernt – stießen sie links auf die Abzweigung eines größeren Seitenstollens. Nach Miras Plan waren sie unterhalb der Mariahilfer Pfarrkirche.
„Gibt’s da eine Krypta?“, fragte Oliver. Es war eine rein rhetorische Frage. Rudi zuckte die Schultern, da er nicht wusste, was damit gemeint war. „1686 gebaut – wenn’s da eine gibt, dann muss die vom Vorgängerbau sein, den die Türken demoliert haben. Kannst’ da durch?“ Oliver zeigte auf die Ziegelwand, die den Seitengang verschloss und holte Hammer und Meißel aus seinem Rucksack. Er reichte beides Rudi, der sich sofort an die Arbeit machte.
Der Mörtel war solide gemischt und setzte dem Meißel einigen Widerstand entgegen. Zum Glück war die Wand nur dünn, aus einer einzigen Ziegelschicht bestehend, und Rudi kam gut voran. Nach einer Viertelstunde war das Loch in der Mauer groß genug, um Rudi und Mira durchschlüpfen zu lassen, jedoch nicht ausreichend für den dicken Oliver.
Der überließ daher die Erkundung des abzweigenden Ganges seinen beiden Kollegen und machte es sich mittlerweile im Hauptgang gemütlich. Er unterzog den Boden des Ganges, der aus gestampfter Erde bestand, einer Untersuchung und stellte fest, dass hier Wagenspuren vorhanden waren. Hier war eine Kutsche gefahren, und zwar mehrmals.
Logisch, dachte Oliver, der Kaiser wird die gut fünf Kilometer wohl nicht zu Fuß gegangen sein. Für eine normale Kutsche, wie sie vor zweihundert Jahren gebräuchlich war, gab es zwar hier nicht ausreichend Platz, aber der Monarch hatte wohl eine Spezialanfertigung benutzt.
Während er diese logistischen Überlegungen anstellte, holte er noch eine Wurstsemmel aus seinem Rucksack.
Inzwischen waren Mira und Rudi etwa 30 Meter in den Seitengang vorgedrungen und standen vor einer massiven, etwa ein Meter siebzig hohen Wand aus Natursteinen. Die Steinmauer bildete eine Art Stufe, über der der Gang weiterführte. Offenbar hatte hier eine Leiter oder Holztreppe den Aufstieg zum höheren Niveau ermöglicht, aber eine solche war nicht mehr vorhanden. Rudi sah Mira fragend an.
„Hilf mir rauf!“, verlangte Mira. Rudi grinste, fasste Mira um die Taille und hob sie hoch. Sie fühlte sich in seinen Händen gut an.

„Nicht so!“ Mira wollte, dass Rudi sie in seine verschränkten Hände steigen ließ. Rudi ließ sie wieder zu Boden, Mira stellte ihren Fuß in seine Hände und turnte hinauf. Dann war sie verschwunden.

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Es dauerte etwa fünf Minuten, dann sah Rudi das Licht von Miras Handleuchte und kurze Zeit später sprang sie vom oberen Abschnitt des Ganges herunter. Rudi tat, als ob er sie auffangen wollte und drückte sie fest an sich, wobei er sich fragte, ob er jetzt wohl eine „Watschen“ beziehen würde.
Nein. Mira protestierte nicht gegen seine aufdringliche Geste und fast schien es Rudi, als ob sie den Druck sogar leicht erwidern würde. Dann machte sie sich von Rudi los, ging zurück zu der Öffnung in der Ziegelmauer und schlüpfte durch.
Rudi folgte ihr und begann, die heraus gebrochenen Ziegel wieder an ihre Stelle zu schieben. Natürlich konnte er das Loch nicht vollständig damit schließen, aber wenn man nur flüchtig hinsah, fiel es gar nicht auf.
Mira berichtete, dass man hier nicht an die Oberfläche könne. Vom oberen Teil des Seitenganges war sie in einen Raum gelangt, in dem mehrere Särge standen und der offenbar keinen Ausgang hatte. Ganz offensichtlich eine Gruft, mit einer Steinplatte verschlossen.
 „Okay. Wir finden schon noch eine Möglichkeit, die Venus da raus zu kriegen“, tröstete Oliver.
Sie setzten ihre Expedition fort. Nach kurzer Zeit senkte sich der Tunnel wieder einmal und bog gleichzeitig mehr nach Norden.
„Laimgrube“, kommentierte Oliver zufrieden. Jetzt änderte sich auch die Beschaffenheit der Tunnelwände. Teilweise war die Ausmauerung nun mit Natursteinen, aber auch mit Ziegelbruchstücken ausgeführt. Die Arbeit machte hier den Eindruck von Flüchtigkeit und Eile, was Oliver nicht entging. „Türkischer Minenstollen“, sagte er. „Wahrscheinlich gegen die Burgbastei.“ Rudi verstand nur Bahnhof.
Sein fragender Blick veranlasste Oliver, mit seinem Wissen zu prahlen. Er begann, wie ein Fremdenführer zu erklären. 1683 wurden vom Türkischen Belagerungsheer vom Spittelberg und der Laimgrube aus gegen Burgravelin und Burgbastei mehrere unterirdische Stollen angelegt und unter den Verteidigungswerken mit Unmengen Schießpulver gefüllt. Die meisten dieser Minen wurden von den Wienern entdeckt, von der Stadtseite her wurden Gegenminen vor getrieben und die Pulverfüllung als willkommene Munition erbeutet. Andere Minen gingen tatsächlich hoch und verursachten beträchtliche Schäden an Ravelins, Bastei  und Kurtine.
Rudi hörte gar nicht zu. Was interessierten ihn Kriege in grauer Vorzeit?
Dann warf Oliver wieder einmal einen Blick auf Miras Zeichnung und wurde nervös. Nach ihren Vermessungen befanden sie sich fast direkt unter dem Kunsthistorischen Museum.
„Wände absuchen nach einem Seitengang!“
Diese, im Befehlston gesprochene Anordnung Olivers erregte Rudis Widerspruchsgeist. „Sag einmal, bist du der Boss da?“, fragte er lauernd.
Selbstverständlich! „Immerhin bin i der, der si da auskennt. Und du bist nur a Trottel, klar?“
Na und?
Wissen ist Macht! Ohne sein, Olivers, Wissen wären die andern beiden aufgeschmissen und die Entdeckung des geheimen Ganges wäre völlig wertlos. Darum sei er automatisch der Boss hier. Kapiert?
Mira stieß Rudi heimlich mit dem Ellbogen an und sagte „Alles klar.“
„Na also.“ Oliver war anscheinend zufrieden und Rudi machte sich brummend auf die Suche nach einer auffälligen Stelle in der Ausmauerung des Stollens.
Bald war eine solche gefunden. In der eher schlampig ausgeführten Wand fand Rudi eine etwa zwei Meter breite Stelle, die sehr sorgfältig gemauert aussah. Er zeigte Oliver diese Stelle und der drückte ihm sofort Hammer und Meißel in die Hand.
Diesmal brauchte Rudi länger, um durchzubrechen. Die herausgeschlagenen Ziegel wiesen ein eingedrücktes Relief mit dem k und k Doppeladler auf und stammten offenbar aus der Zeit des Museumsbaus, also wahrscheinlich aus dem Jahr 1871. Man war also beim Aushub des Kellers auf den alten Gang gestoßen, hatte dieser Tatsache aber anscheinend keine Bedeutung beigemessen.
Oliver ermahnte Rudi, besonders vorsichtig zu sein und die heraus gebrochenen Ziegel möglichst nicht zu beschädigen, damit man sie später wieder einfügen konnte.
Dann war es geschafft und Rudi erweiterte den Durchbruch so, dass auch der rundliche Oliver die Bresche leicht passieren konnte.
Vorerst war es aber noch nicht möglich, den hinter der Tunnelwand liegenden Raum zu betreten, weil hier Bretter an der Wand lehnten, die erst vorsichtig entfernt werden mussten. Dann konnten sie durch und standen in einem Lagerraum für Tischlerwerkzeug und –material, wie es für Ausbesserungsarbeiten an Vitrinen und Schränken benötigt wurde.

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Die Tür des Lagerraumes, die zum Kellergang führte, war nicht abgeschlossen. Leise drangen sie zu dritt vor und folgten dem Kellergang. Eine Metalltür versperrte ihnen den Weg, Olivers Nachschlüssel, die er stets bei sich trug, öffneten sie aber nach kurzer Bemühung.
Oliver winkte Mira und Rudi, zu warten, dann drang er weiter vor und kehrte nach nicht einmal zwei Minuten mit vor Aufregung rotem Kopf zurück. Wortlos winkte er den beiden andern, ihm zu folgen und man trat den Rückzug durch den Holzlagerraum und den Wanddurchbruch an.
 Während Rudi die Ziegel wieder einfügte, ging Oliver nervös auf und ab und murmelte vor sich hin. „Bingo!“, sagte er mehrmals und „Ich scheiß mich an!“
Was denn an der Sache so aufregend sei, wollte Rudi wissen.
Rudi habe seinen Kopf wohl nur auf den Schultern, um kleine Kinder zu schrecken, meinte Oliver. Man hätte doch nun die Möglichkeit, ins Kunsthistorische Museum zu gelangen! Ob sich Rudi nicht an den Diebstahl der Saliera von Cellini erinnern könne, die vor einiger Zeit so großes Aufsehen gemacht habe. Dort gäbe es noch mehr solcher Kostbarkeiten! Man brauche sie doch nur mehr abzuholen!
Langsam verstand Rudi. „Und du kennst Leut, die was brennen dafür?“
Klar! So mache sich sein Studium eben bezahlt! Er kenne sogar eine ganze Menge Leute, die Interesse an solchen Dingen hätten. Und auch das nötige Kleingeld!
Und die Venus von Penzing?
Ach, die solle bleiben, wo sie ist. „Dort im Keller wird s’ wenigstens net von den Tauben angeschissen“, grinste Oliver. „Zum Teufel mit dem schweren Glumpert! Im Museum gibt’s an Haufen Sachen, die ganz leicht zum tragen sind! Aus Gold zum Beispiel.“  
Die erste Strecke des Rückweges durch den geheimen Tunnel legten die drei schweigend zurück. Sie kamen jetzt viel schneller voran, weil Mira nichts mehr vermessen musste. Dann fragte Oliver plötzlich, ob man die Sache gemeinsam machen wolle.
Mira und Rudi waren einverstanden.
„Gut. Übermorgen um zehn vor dem Museum. Lokalaugenschein.“
In Rudis Hirn regte sich ein ganz vager Gedanke, den er gar nicht so recht formulieren konnte. Etwas von Misstrauen war bei diesem Gedanken dabei und auch etwas von instinktivem Widerstand gegen die Autorität Olivers. Aber Rudi schob den Gedanken vorerst beiseite.
Später steckte ihm Mira schweigend einen Zettel zu, auf dem eine Mobiltelefonnummer notiert war. Rudi ließ den Zettel sofort in der Hosentasche verschwinden.
Es war bereits nach Mitternacht, als sie den geheimen Tunnel an seinem westlichen Endpunkt verließen und sich vor dem Zaun des Cumberlandpalais trennten.   
Am Samstag wählte Rudi die Telefonnummer, die ihm Mira zugesteckt hatte.
Zu seiner Überraschung schlug ihm Mira eine zweite Erkundung des Ganges vor, bei der Oliver aber nicht dabei sein sollte. Natürlich stimmte Rudi zu, erfreut über die Möglichkeit, mit Mira ohne Olivers störende Anwesenheit sprechen zu können.
Es wurde eine anregende Nacht im Untergrund. Erstaunlicherweise wusste Mira auch eine Menge über die Geschichte Wiens und die Bauten der Stadt. Und sie war eine wesentlich angenehmere Führerin als es Oliver gewesen war.
Obwohl er sich gemeinsam mit Mira fast die ganze Nacht von Samstag auf Sonntag um die Ohren geschlagen hatte, war Rudi pünktlich um zehn Uhr vor dem Museum. Es war sein erster Museumsbesuch überhaupt und er war ehrlich beeindruckt.
Nicht von der künstlerischen Qualität der Arbeiten (davon hatte er keine blasse Ahnung), sondern vom Gold! Und Gold gab es da einen ganzen Haufen! Oliver hatte ihn und Mira nämlich sofort in die im Hochparterre gelegene Abteilung für Plastik und Kunstgewerbe geführt.
In einem der Schaukästen stand ein goldener Gegenstand, der als „Surtout des Herzogs Karl Alexander von Lothringern, Brüssel 1755“ bezeichnet wurde. Rudi konnte weder mit der Bezeichnung „Surtout“ etwas anfangen, noch aus der Form des Ausstellungsstückes auf dessen Verwendung schließen. Aber sehr viel Gold war hier benutzt worden und ein Haufen Edelsteine. Oliver erklärte dann, dass es sich um einen Ständer für Gefäße handelte, in denen Essig, Öl, Zucker und ähnliche Dinge aufbewahrt wurden und der in die Mitte einer gedeckten Tafel gestellt wurde. „Merk dir, wo des Zeug steht“, befahl er.
Desgleichen verlangte er bei einer „Prunkkanne von Christoph Jamnitzer, Nürnberg, um 1605“ und bei einer etwa 30 Zentimeter hohen Statue „Venus Felix von Jacopo Alari – Bonacolsi, genannt Antico, Mantua, um 1500“ und Rudi kommentierte die Auswahl mit der Bemerkung, da hätte Oliver dann sein nackertes Weib, halt kleiner als die Penzinger Venus, aber dafür zum Teil vergoldet.

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Leise befahl Oliver, Rudi möge die „Goschen“ halten.
Mira stand etwas abseits und mischte sich nicht ein. Dann beharrte sie aber darauf, auch noch den Rest zumindest dieser Abteilung zu besichtigen. Ohne auf Olivers Einwände zu hören, ging sie in die angrenzenden Räume weiter.
Vor einem Pokal blieb sie längere Zeit stehen. Es handelte sich um den „Wiltener Kelch“ aus den Jahren 1160 bis 1170, ein besonders elegantes und schönes Stück aus vergoldetem Silber.
„Den nicht“, flüsterte Oliver. „Is net bestellt.“
Mira sah Rudi verschmitzt lächelnd an und ging dann wortlos weiter.
Oliver drängte zum Aufbruch. Schließlich wäre man ja nicht zum Vergnügen hier und es gäbe noch einiges zu besprechen. Mira wollte noch in die Gemäldegalerie, wurde aber von Oliver scharf zu recht gewiesen.
Dann saßen sie in einem nahen Hamburgerrestaurant und Oliver erwies sich als so großzügig, die Hamburger und das Cola zu bezahlen. Wahrscheinlich hatte er Vorschuss von seinem Hehler kassiert.
Dienstagnacht, schlug Oliver vor. Zu zweit. „Mira kommt net mit, das is nix für Weiber, die tät nur stören.“
Das wäre schon okay, meinte Rudi, aber es passe ihm nicht, wie Oliver mit seiner Freundin umginge, er behandle sie wie einen buckligen Hund.
„Rudi, wenn di des viel angeht, dann geht’s di einen Scheißdreck an! Die Mira is mei’ Katz und net deine!“
Gut, lenkte Rudi ein, aber wie stehe es mit gewissen Sicherheiten? Wenn er Oliver jetzt dabei behilflich wäre, die gewünschten Gegenstände zu beschaffen, wer garantiere ihm, dass er auch seinen fairen Anteil an der Sache kriege?
Niemand, gab Oliver zu. Aber ob es Rudi lieber wäre, die heiße Ware selbst zu verscherbeln? Das werde ihm nämlich schwer fallen, ohne Beziehungen zu interessierten Käufern. Er möge brav seine Rolle bei dem Einbruch spielen und ihm, Oliver, vertrauen. Dann könnten sie noch einige solche Dinger gemeinsam durchziehen. Nämlich, wenn sie das dann noch nötig hätten, die drei ausgesuchten Gegenstände brächten einen schönen Haufen Marie ein.
Rudi hatte kein Gegenargument. Wenn Oliver ihn aber bescheißen sollte, würde er ihn mit einem nassen Fetzen erschlagen, kündigte er an.
Damit war Oliver einverstanden und man trennte sich.
Dienstag um 22 Uhr wartet Oliver schon vor dem Gitter des Palais in der Schlossallee. Rudi begrüßte ihn mit der Bemerkung, dass ein professioneller Einbrecher gut daran täte, nicht so viel zu fressen, dass er nicht einmal mehr einen Gartenzaun ohne Hilfe überklettern könne. Oliver zog es vor, keine Antwort zu geben.
Den Weg zum Museum legten sie im Tunnel zügig zurück. Oliver schnaufte hörbar.
Den Durchstieg zum Museumskeller hatten sie schnell frei gemacht und Oliver übernahm die Führung durch die Kellergänge, öffnete die metallene Brandschutztür wieder mit seinem Sperrhaken und nur wenige Sekunden später waren sie an der Haupttreppe.
Das Hochparterre war gedämpft beleuchtet, Wachpersonal war keines zu sehen. Oliver beeilte sich, in die Ausstellungsräume zu gelangen. Rudi folgte ihm dichtauf.
Im vierten Raum, den sie zu durchqueren hatten, hielt Rudi seinen Kumpan plötzlich an der Schulter fest. Oliver drehte sich überrascht um.
„Alter, wenn du uns schon bescheißen willst, dann pass besser auf! Hättest die Mira nimmer zu dir mitnehmen sollen, oder des Flugticket besser verstecken!“
Mit diesen Worten griff Rudi nach Olivers Brille, riss sie ihm vom Gesicht, warf sie zu Boden und zertrat die dicken Gläser. Fast gleichzeitig schmetterte er den Maurerhammer, den er bei sich trug, in das Glas der ihm zunächst stehenden Vitrine. Das Glas zerbarst, eine Alarmsirene ertönte, die Beleuchtung flammte voll auf, Rudi griff nach dem „Wiltener Kelch“ und sprintete damit zur Haupttreppe.
Oliver, in seiner Kurzsichtigkeit fast blind, versuchte, ihm zu folgen und rannte gegen eine andere Vitrine. Aus dem Obergeschoß kamen mehrere Wachleute die Haupttreppe herunter, aber Rudi war bereits im Keller und lief die Gänge entlang zur metallenen Brandschutztür. Olivers Sperrhaken steckte noch im Schloss. Rudi sperrte die Tür hinter sich ab und wenig später war er im Geheimgang angelangt. Sorgfältig schob er die Ziegel der durchbrochenen Wand wieder an ihre Stelle und dann wandte er sich im Geheimgang nicht nach Südwesten, der Richtung, aus der sie gekommen waren, sondern in die Gegenrichtung.
Mit flotten Schritten wanderte er den Gang entlang und leuchtete dabei die Wand rechts von ihm ab, um das Kreidezeichen nicht zu verpassen, das er bei seiner Erkundung mit Mira hier angebracht hatte.
Als er nach etwa einem halben Kilometer das Zeichen fand, bog er rechts in einen Seitengang ab, kam nach weiteren zweihundert Metern zu der Abmauerung, die er mit Mira gemeinsam bereits durchbrochen hatte und schlüpfte durch.
Hier war der Gang wesentlich schmäler und niedriger. Er gehörte zu den Katakomben von Sankt Stephan, jenem geheimnisvollen, unterirdischen Bau, dessen Ausdehnung und auch dessen ursprünglicher Zweck noch immer unbekannt sind und der im Mittelalter als Begräbnisstätte genutzt wurde.
Rudi kam an Nischen vorbei, die mit menschlichen Schädeln angefüllt waren und an anderen, in denen Haufen von Knochen lagen. Die Luft war hier lang nicht so gut wie im Geheimgang.
Dann ging es zwei Treppen nach oben. Auch dort, zwei Geschoße höher, das gleiche Bild, Schädel, Knochen, auch ganze Skelette und dazu mehrere Abzweigungen in Seitengänge. Aber Rudi hielt sich an die von Mira angebrachten Markierungen und gelangte sicher zu einem Brunnenschacht, in dem eine alte, halb verrostete Metalleiter nach oben führte.
Rudi kletterte hoch, sorgfältig darauf achtend, dass der wertvolle Pokal in seiner Hand nicht beschädigt wurde.
Oben wartete Mira. Rudi schwang sich über den Brunnenrand in den Innenhof eines Hauses der Bäckerstraße und überreichte Mira den Kelch.
Und Mira umarmte den Platten – Rudi und küsste ihn.
Eineinhalb Stunden später passierten Mira und Rudi in Miras kleinem Auto die slowakische Grenze. In Bratislava übergab Mira den Kelch einem seriös aussehenden älteren Herrn und übernahm dafür einen kleinen Koffer voll Euro Banknoten.
Zu diesem Zeitpunkt saß Oliver bereits wieder in einer Zelle des „Zweier“ am Hernalser Gürtel.
Rudi wird vorläufig in Polen bleiben. Mit Mira versteht er sich ausgezeichnet und es gefällt ihm gut in Krakau. Geldsorgen hat er keine. Und die „Venus von Penzing“ ist nach wie vor verschollen.
Neuerdings interessiert sich der Platten – Rudi übrigens sehr für die prächtigen, alten Bauten der Stadt Krakau, ihre Geschichte und vor allem ihre Keller…
 
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