Ausstellungsbesprechungen

Ernst Wolf. Galerie der Stadt Tuttlingen, 23. Oktober – 22. November 2009

Dass die Musik mit dem Kalkül und der Zahlenästhetik der Mathematik verwandt ist, mag man hinnehmen, im Fall der Malerei geben wir uns, es mag ein Vorurteil sein, zu oft mit dem Vordergrund, mit der Oberflächlichkeit zufrieden. Ernst Wolf will mehr von uns, er gewährt uns tiefe Einblicke in seine Kunst...Günter Baumann gibt eine Einführung zum Werk des Künstlers.

Ernst Wolfs Kunst hat es in sich, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Vordergrund auf seinen Bildern gibt allerdings keine Kulisse ab für figurative, unmittelbar ablesbare Motive, Wolf spricht von »Figürchen«. Er opponiert dabei bewusst gegen die neu- oder jungrealistischen Schulen, die sich seinem Verständnis nach gern geheimnisvoll geben, aber– vom Markt getrieben – nicht selten kaum mehr als Rauch ablassen. Ernst Wolf unterscheidet hier klar zwischen Oberflächlichkeit und Oberfläche, zwischen figurativ und gegenständlich. Er misstraut jeglicher Form der nachgebildeten Naturvorlage zutiefst: Die Momentaufnahme, die ein figurativ arbeitender Maler einfängt, interessiert ihn nicht, er kann darin nur den Eskapismus in eine Scheinwirklichkeit erkennen. Das klingt hart, aber dieses entschiedene Urteil folgert aus einer bewundernswerten Konsequenz, und es verlangt auch dem Künstler einige Härte oder sagen wir: Unerbittlichkeit gegen sich selbst ab.

Gemessen am auffälligen Trend zu realistischen Positionen folgt Wolf anderen Spuren, doch auch die neuwilden Strömungen der 1980er Jahre, in die er offenkundig hineinwuchs, dienen ihm eher als Reibungsfläche. Während der 14 Jahre, in denen der 1948 in Heidenheim geborene Ernst Wolf nicht nur in Stuttgart, sondern bis 2005 auch in dem südfranzösischen Städtchen Lodève wohnte und arbeitete, begeisterte er sich für die aus tiefschwarzen Flächen hervorleuchtenden Gemälde von Pierre Soulages, der ganz in der Nähe wohnte. Aber mit schelmischem Blick weist er zurecht jeglichen Einfluss von sich. Seinem Naturell nach entwickle er zur rechten Zeit – wie er sagt – »Störsender« gegenüber verwandten oder bewunderten Positionen. Damals lag Paris 500 Kilometer weit weg, zu weit, um sich einem Kunstmarkt anzubiedern. Aber auch schon seine Studienzeit verbrachte er weitab von den Zentren der Gegenwartskunst. An der Akademie der bildenden Künste in Nürnberg erhielt er eine solide Ausbildung in allen Sparten, und würde man den Werdegang der ehemaligen Schüler von Günther Voglsamer beleuchten, käme eine große Bandbreite von hyperrealistischen bis hin zu rein abstrakten Positionen zum Vorschein.

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Viel prägender dürfte die wechselhafte Geschichte Nürnbergs gewesen sein, einst eine der bedeutendsten Städte des Heiligen Römischen Reichs, eine Trutzburg des Humanismus, die sich im Dritten Reich als Hochburg eines menschenverachtenden Ungeistes gebärdete und nach der Befreiung die Kraft hatte, sich ihren Wurzeln zu stellen und zum symbolischen Zentrum des Menschenrechtsgedankens emporzusteigen. Ernst Wolf bekennt sich als homo politicus zu einem progressiven Humanismus, der neben Soulages eben auch Albrecht Dürer im Gepäck hat, was jedoch allenfalls als intellektuelles Rüstzeug fungiert. Die individuelle Laufroute ist durchweg selbstbestimmt. Ich kenne nicht allzu viele Künstler, die über ein Vierteljahrhundert hinweg beharrlich einer großen Idee folgen, dabei nicht in einer Phase stecken bleiben, sondern die unendlichen Facetten dieser Idee in serienmäßig wechselnder Erkundung stetig zu umkreisen, wohl wissend, dass man sich Ideen nur annähern kann.

Ernst Wolf verwendet eine abstrakte Sprache, aber er verwahrt sich dagegen, als ungegenständlicher Maler tituliert zu werden. In der Tat lassen sich seine Arbeiten gleichermaßen gegenständlich wie abstrakt vorstellen. Nehmen wir eines der Diptychen, auf dem über changierenden, teilweise durchscheinenden, weißlich-grauen Mischfarbtönen schwarz umrandete beziehungsweise unterlegte Rechteckformen in blau, braun, lichtgrün oder rosa scheinbar zufällig über die Leinwand oder den Karton verteilt sind. Verwiese der Titel dieser Arbeit etwa auf eine Häuserzeile, würden wir bei den Farbfeldern automatisch Fenster assoziieren. Da Wolfs Gemälde in unserer Werkschau jedoch keine Titel tragen, wird die Farbe als solche zur Protagonistin, zum Gegenstand. Was der Betrachter noch im Bild sieht, liegt in seinem Ermessen, in seiner Phantasie. Was könnte uns etwa hindern zu glauben, im jeweils mittleren Feld des oberen Drittels von besagtem Werk eine menschliche Gestalt in rotem Kleid am gemutmaßten Fenster zu erkennen? Wir können getrost davon ausgehen, dass Ernst Wolf dies nicht konkret im Sinn hatte. Was mir hier aber wichtig ist zu bedenken: Die Grenzen zwischen abstrakt und gegenständlich sind keineswegs so deutlich zu ziehen, wie man annehmen könnte. Da fällt mir Johann Wolfgang Goethe ein, der meinte: Das Was bedenke, mehr bedenke das Wie. Letztlich ist auch eine realistische Darstellung nur Farbe auf Leinwand. Viel spannender ist doch die Frage, wie das, was der Künstler zum Ausdruck bringen möchte, gemacht ist.

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»Realität«, so Ernst Wolf, »ist die Summe aller Widersprüche«. Mit dieser lakonisch-irritierenden Formel lässt der Künstler uns unter die Oberfläche blicken. Bevor ein Maler irgendein Motiv verewigt hat, hat er bereits formal gesehen Statik und Dynamik, elementares Spiel und Gegenspiel, Vorder- und Hintergrund ausgelotet. Nichts anderes macht auch Wolf. Das Leben ist für ihn ein dauerhafter Prozess, in dem Ungleichzeitiges, Fragwürdiges und eben Widersprüchliches real passiert. Und das ist es, was Wolf uns zeigt. Wir leben doch nicht von einem Augenblick zum nächsten, wo sich eine Wahrnehmung an die andere reiht. Zum Glück sind unsere Sensorien komplexer: Während wir am Leben teilnehmen, fokussieren wir vielleicht den Blick auf einen Gegenstand und alles darum herum wird zum flüchtigen Beiwerk, mehr noch: Zwischendurch stürzen Erinnerungen und Assoziationen, Stimmen und Stimmungen auf uns herein, die mit dem Außenbild schlicht nichts zu tun haben. Unsere Wahrnehmung ist ein fortlaufendes Überlagern von zufälligen oder sagen wir: zugefallenen Eindrücken sowie bewussten und unbewussten Bildern, die ein Ganzes ergeben. Doch fertig sind die entstehenden Bilder nie, weil sich schon die nächsten Eindrücke herein drängen. – Rede ich von meiner Wahrnehmung oder schon über die Arbeiten von Ernst Wolf? Ausdrücklich versteht er sie als Teil eines Ganzen, als Facette, vielleicht auch – um noch einmal Goethe zu bemühen – als »Bruchstücke einer großen Konfession«, wenn auch säkular verstanden. Kaum hat er ein Bild beendet, entsteht das nächste bereits im Kopf, das sich im malerischen Prozess eigendynamisch entwickelt, sodass sich im Kopf wiederum eine künftige Variante anbahnt. Nach dem Bild ist vor dem Bild. Ad infinitum. Das erklärt die ungemeine Akribie, mit der Wolf ans Werk geht.

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Lassen Sie uns noch ein Stückchen tiefer eintauchen und die Fülle der Möglichkeiten ausloten, die uns Ernst Wolf erschließt. Unmittelbar fällt die fast durchgehend zweiteilige Anordnung des Werks auf und wir können nicht umhin, diese Diptychen dialogisch zu betrachten: Noch bevor wir uns dessen bewusst sind, springt der Blick jeweils hin und her, nimmt Farben, Flächen, Größen beziehungsreich wahr. In der Tat malt Wolf die Bildpaare parallel, das heißt: er legt sein Werk von vornherein auf dieses Eins und Doppelt an. So harmonisch diese Zweisamkeit auch ist, täuscht sie nicht über die Dissonanzen und Assonanzen innerhalb des Bildaufbaus hinweg. Zunächst drängt sich eine gestische Abstraktion nach vorn, die sich jedoch nicht in wilden Farbexzessen äußert, sondern in einer labilen Vielschichtigkeit, die von den verschiedenen Texturen herrührt. Die Farbe ist mit dem Pinsel aufgetragen, gewalzt oder gespachtelt, oder sie ist mit der Rakel abgezogen. Ein Geben und Nehmen bestimmt das Bildganze, das im Diptychon seine eigene Doppelgesichtigkeit und damit Fragwürdigkeit propagiert. Der Maler bringt damit zum Ausdruck, dass wir immer nur einen flüchtigen Ausschnitt der Umgebung, sagen wir ruhig: des Lebens wahrnehmen. Zugleich verbirgt er nichts. Selbst bei aller Flüchtigkeit hinterlassen die einzelnen Malschichten, die im dynamischen Entstehungsprozess durchaus als Lebensphasen gedeutet werden können, ihre Spuren: Farbe scheint durch, dringt an die Oberfläche, tritt zurück, Vorder- und Hintergrund vermischen sich.

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Wenn ich diesen Teil der Gemälde als emotionalen Bereich anspreche, so will ich keineswegs einer blinden Gefühligkeit das Wort reden. Ihnen ist längst aufgefallen, dass hiermit mindestens ein weiterer Bereich korrespondiert. Einmal mit einer kräftigen Linie abgeteilt, ein andermal durch die bloße Fläche gekennzeichnet, setzt sich ein undurchdringbares Weiß oder Schwarz oder eine monochrome Farbe von der lebhaft-bunten Farbigkeit ab. Wolf selbst spricht hier von Ahnungsbereichen. Ob wir diese Bereiche nun als Konkrete Malerei oder Minimalismus ausgeben, ist weniger entscheidend als die Symbolhaltigkeit. Wenn das ungreifbar-emotionale, stets sich wechselnde und wendende Farbenspiel eine Chiffre für das Leben ist, dann steht dieser rational überdachte Teil des Bildes eher für den transzendenten Bereich. Es geht dem Maler nicht so sehr um religiöse Aspekte, schließlich liegen jene übersinnliche Streifen dem philosophischen Denkraum näher: Sie folgen mathematischen Gesetzen, indem sie den Bildaufbau klar und ausgewogen strukturieren. Und sie folgen optischen Gesetzen (...). Die sinnlich-emotionalen und geistig-rationalen Felder setzt Ernst Wolf hart gegeneinander – es sind nicht nur zwei Seelen in einer Brust, sondern zwei grundverschiedene Haltungen, die unser Sein bestimmen. Doch wie der Blick des Betrachters angesichts der parallel rhythmisierten Diptychen dahin gelenkt wird, die Grenzen des Bildformats zu überspringen, bietet Wolf in der Farbkomposition Blickrichtungen und Übergänge an, die wiederum ein Ganzes erahnen lassen – in allen Widersprüchen und Brüchen, die das gelebte Leben begleiten und das Dasein lebenswert machen. (...)

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Nun können wir uns das Werk von Ernst Wolf auch ganz anders denken – der Künstler belegt uns nicht mit eindimensionalen Vorgaben. Eingangs merkte ich bereits an, dass wir uns mit konkretisierenden Titeln sicher hätten einfangen lassen von bestimmten Lesarten. Ich erinnere an die potentielle Häuserzeile. Bei waagerechten Bildaufteilungen kommen mir auch Landschaftsmotive in den Sinn, doch das nur nebenbei... Mögliche Titel könnten auch mit abstrakten Begriffen operieren. So würde sich für die vorhin beschriebene Sicht auf das menschliche Leben eine Redewendung anbieten, die Wolf im Gespräch tatsächlich verwendete, allerdings auf den humanistischen Hintergrund gemünzt war: Tempus fugit – die Zeit flieht dahin. Da mich diese Redewendung als Schlagwort auch an unseren vorangeschrittenen Abend erinnert, will ich hier nur noch eine weitere Lesart einflechten, die den schon angedeuteten Sichtweisen nicht entgegensteht, im Gegenteil: Es macht die Faszination von Wolfs Oeuvre aus, dass es so ungemein reichhaltig ist. Sie erinnern sich an sein Credo von der Realität als Summe aller Widersprüche oder auch nur aller Gegebenheiten.

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Die Ausstellung verzichtet auf einen übergeordneten Titel, der Name des Künstlers ist sozusagen Programm. Konsequent tragen auch die einzelnen Bilder ihren Freiraum. Wenn wir nun die gezeigten Arbeiten als Chiffre für das Leben aufgefasst haben, so können wir darin genauso gut eine Chiffre für die Kunst sehen. In diesem Fall würden die Elemente eines verhalten abstrakten Expressionismus auf Farbbahnen im Stil der Konkreten Kunst treffen. Es handelt sich um die zwei elementaren Positionen in den bildenden Künsten, die deren Entwicklung von jeher begleitet haben: hellenistisch gegen klassizistisch, schwungvolles Pathos gegen stille Größe usw., überall walten mal farbsinfonische Bewegtheit, mal nüchterne Statik. Dem Reinheitsgebot der minimalistisch angelegten Konkreten Kunst setzt Wolf die multikoloristische Vielfalt eines lyrisch-musikalisch gestimmten Expressionismus entgegen oder besser: gegenüber. Lassen wir den Blick von den großen zu den Kleinformaten schweifen, wird diese Coincidentia oppositorum, der Zusammenfall der Gegensätze noch deutlicher. Gerade in den kleineren Arbeiten scheinen die entgegenstehenden Farbwelten derart komprimiert zusammenzurücken, dass sie förmlich nach außen drängen und eine Monumentalität im Kleinen erzeugen. Fernab einer chiffrierten Sichtweise macht es ein – wie ich meine – unbändiges Vergnügen, dieses Zusammenspiel ungleicher Partner zu verfolgen, und nicht zuletzt die schon erwähnten Ausfließungen des Leinöls relativieren deren Unvereinbarkeit: So wie hier die Grenzen verwischt werden, kann unser Auge nicht umhin, die harten Übergänge aneinandergeratener Farbflächen mit- und gegeneinander zu verrechnen. Damit kommen wir der Intention des Künstlers näher: Ernst Wolf will den Betrachter dazu animieren, eine Beziehung zu seinen Arbeiten aufzunehmen. Eine Kunsttheorie legt er jedoch nicht zugrunde, und auch eine Message verkündet er nicht. (aus der Eröffnungsrede)

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Öffnungszeiten
Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr

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