Buchrezensionen

Georges Perec: Der Condottiere, Hanser 2013

Gaspard Winckler ist versierter Kunstfälscher und führt dank seines Talents ein komfortables Leben. Bis er eines Tages, scheinbar aus heiterem Himmel, seinem Auftraggeber Anatole Madera die Kehle durchschneidet und flieht. Rowena Fuß hat die spannende, reflexive Krimigeschichte gelesen.

Ausgangspunkt und Titelgeber der Geschichte ist Antonello da Messinas berühmtes Gemälde »Der Condottiere«. Es ist ein Bild, das im Louvre hängt und 1475 datiert ist. In Venedig entstanden, zeigt es das Porträt einen Mann mit braunen Haaren, dunkler Kappe und dunklem Obergewand. Sein klarer, beobachtender Blick und ein resoluter Zug um den Mund lassen ihn wie einen Richter wirken. Niemand weiß, ob das Bild tatsächlich einen Söldnerführer darstellt. Im Louvre wird es daher auch unter dem Titel »Porträt eines Mannes« geführt. Perec hat diesen Spekulationsraum für sich genutzt.

Seit 12 Jahren fälscht Gaspard Kunstwerke für Madera. Dafür schlüpfte er in die verschiedensten Rollen: Leonardo da Vinci, Edgar Degas, Francisco de Goya, Giovanni Bellini uvm. »12 Jahre ein Leben als Zombie, 12 Jahre als Fantômas« bilanziert er später. Denn um die Authentizität seiner gefälschten Werke nicht in Zweifel zu ziehen und ihren Erfolg zu garantieren, existiert Gaspard faktisch nicht. Er wandelt in den »Gewändern der Toten«, ohne ein eigenes Gesicht zu besitzen. Aktuell sollte er das Antonellos anziehen und einen Söldnerführer fälschen. Aber er scheiterte. Er hatte es »verbockt«, ein authentisches Meisterwerk der Vergangenheit – genauer: der Renaissance – zu schaffen. Was nur logisch ist, denn was vergangen ist, kann nicht mehr zum Leben erweckt, ins Jetzt gesetzt werden.

Nun könnte man meinen, dass Gaspard Madera aus Frust getötet hat, aber das stimmt nicht. Auf der Suche nach einem Motiv enthüllt Perec dem Leser Stück für Stück die Gedankenwelt des Fälschers, dessen Suche nach sich selbst, dessen Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation, in der er sich befindet. In dieser Sinnsuche mag man einen biografischen Touch spüren. Perecs Eltern waren polnische Juden, sein Vater starb im Zweiten Weltkrieg auf dem Feld, seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Wie geht man damit um? Wie überwindet man die Geschichte und findet seinen eigenen Platz im Weltgeschehen? Der Roman reflektiert dieses Dilemma.

Es beginnt in Gaspards Arbeitskeller. Dieser lässt den gerade begangenen Mord und was dazu führte in einem Zwiegespräch mit sich selbst Revue passieren, während er auf den Galeristen Rufus König und dessen Handlanger Otto wartet. Sie gehören zur Fälscherbande, für die Gaspard gearbeitet hatte und deren Kopf der tote Madera war. Was waren die Gründe für diese Tat? »Der Abend bei Rufus? Die Nacht in der Werkstatt in Belgrad? Die überstürzte Rückkehr nach Gstaad? Die Begegnung mit Jérôme? Die Begegnung mit Mila? Die Begegnung mit Geneviève? Oder aber die durchzechte Nacht in ebendiesem Keller?« Die Beantwortung hängt eng mit dem Grund des Scheiterns am Condottiere zusammen.

»Du warst fasziniert von diesem Blick, der nicht der deine war, der niemals der deine sein konnte … Um einen Condottiere zu malen, muss man in dieselbe Richtung schauen wie er« sinniert die Stimme des Wincklerschen Bewusstseins. Denn »In ganz gleich welchem Werk, bei ganz gleich welchem Menschen verwirklicht sich eine Art Selbstgewissheit.« Und: »Der Condottiere ist mehr als das: Er hat es nicht mehr nötig, irgendetwas zu verwirklichen. […] Er sucht nicht, die Welt zu beherrschen. Er beherrscht sie schon. Er beherrscht sie im Voraus. Er ist Der Condottiere. Wo ist seine Methode? Nirgends. Er ist da, auf den Begriff gebracht mit einem Blick.« Diese Selbstgewissheit, die sich im Blick spiegelt, muss man sich aneignen. Das funktioniert nur, wenn man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt und sie überwindet. Dann weiß man die Antwort auf die Frage: Wer bin ich? Gaspard hat sie mit Hilfe des Porträts gefunden und flieht nach einem zähen inneren Kampf durch einen Tunnel aus dem Keller.

»Der Condottiere« ist die Geschichte einer Emanzipation, einer Befreiung von erdrückenden Vorbildern. Knapp 50 Jahre lag dieser Roman unbeachtet in einem Pappkarton herum, bevor er 2012 in Frankreich veröffentlicht wurde. George Perec (1936-1982) hatte ihn mit Anfang Zwanzig geschrieben und 1960 dem Pariser Verlag Gallimard angeboten, wo er abgelehnt wurde und dann dem Vergessen anheim fiel. Es ist zu hoffen, dass das nicht wieder passiert, denn die existenzielle Frage, die in die Kriminalhandlung gebettet ist, ist auch für heutige Leser aktuell und bereichernd. (Wie wohl Herr Beltracchi darüber denkt?)

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