Ausstellungsbesprechungen

Hélio Oiticica – Das große Labyrinth, Museum für moderne Kunst, Frankfurt/Main, bis 2. Februar 2014

Das MMK Frankfurt am Main zeigt die bislang größte Retrospektive des brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica in Deutschland. In ihrer Chronologie vermittelt die Ausstellung das sich zuspitzende künstlerische Streben Oiticicas hin zu einer Einheit von Kunst und Leben. Constanze Musterer hat es sich angeschaut.

Auffällig oft hängt an den Museumswänden ein Schild mit einer rot umrandeten Hand darauf, das besagt »Anfassen erlaubt«. Weitere Beschilderungen bitten, vor Betreten der Räume die Schuhe auszuziehen. Hier vermittelt sich bereits der andere Kunstbegriff, der das künstlerische Schaffen von Hélio Oiticica (1937-1980) durchzieht. Die Werke dieser umfassenden Retrospektive des in Rio de Janeiro geborenen Künstlers haben kaum etwas von ihrer Unmittelbarkeit der 1960/70er Jahre eingebüßt. Nach dem Ausstellungsparcours mit nackten Füßen im Sand, tobend mit geometrischen Schaumstoffskulpturen oder verkleidet mit farbenfrohen Textilien kristallisiert sich eine Idee heraus, was es wohl mit der brasilianischen Avantgarde-Bewegung Tropicália damals auf sich hatte.

»Der Mythos von Tropicália ist viel mehr als Papageien und Bananenbäume, er ist das Bewusstsein von einer De-Konditionierung im Verhältnis zu den etablierten Strukturen und deshalb in hohem Maße revolutionär.«, schrieb Hélio Oiticica in einem seiner zahlreichen Thesenpapiere. Doch auch in Brasilien scheiterte die Revolution durch die Kunst. Die Diktatur mit ihren sich verschärfenden Repressionen zum Ende der 1960er Jahre hielt sich bis 1985 im Land. Der Kreis von bildenden Künstlern dieser neuen Avantgarde nach dem Neokonkretismus mit ihren wegweisenden Vertretern Lygia Clark und Hélio Oiticica blieb marginal, während die Musiker das Label Tropicália in der breiten Öffentlichkeit bis heute besetzen. Namenspatron der Bewegung war eines der zentralen Werke von Oiticica, die Rauminstallation »Tropicália«, die 1967 im Museu de Arte Moderne in Rio de Janeiro erstmals gezeigt wurde. Kleine labyrinthische Hütten konstruiert aus farbigen Trennwänden inspiriert von den Baustrukturen der Favelas, Sand, Kieswege, Papageien, Pflanzen und ein Fernseher am Ende eines Labyrinths kreieren einen kuratierten Erfahrungsraum. Oitcica ging es um das individuelle Erleben, noch mehr um das Experiment, zu dem er das Publikum einlud und aus dem er die stete Erweiterung für seine eigene Kunst schöpfte.

Die »Metaesquemas« (Meta-Schemen) sind Anfänge der Lossagung Oiticicas Mitte der 1950er Jahre von der abstrakten Kunst Europas, insbesondere Mondrians, die ihn bislang prägte. Geometrische einfarbige Formen fangen durch leichte Verzerrungen zu tanzen an, während das Bild eine Räumlichkeit entwickelt. Schon bald verlässt Oiticica den zweidimensionalen Bildraum und hängt farbige Holzkonstruktionen in den Raum. Der Besucher muss diese »Revelos especiais« umwandern, um die changierenden Farbentwicklungen und Raumveränderungen zu erfahren. Gesteigert wird die initiierte Farbwahrnehmung im Werk »Penetrável PN1« von 1960, das gleichzeitig den Beginn eines partizipatorischen Kunstschaffens markiert und aus dem Oiticica über Jahre die Werkserie der »Penetráveis« weiter entwickelte. Farbige Trennwände bilden eine freistehende Kabine im Raum, in die der Besucher eintreten und die Farbwände verschieben kann. Oiticica war in der Gruppe der Neokonkretisten aktiv, nach denen Kunst organisch und subjektiv sein solle. Theoretisch wollten sie das Verhältnis zwischen ästhetischer Praxis und Gesellschaft neu definieren. Mit den »Bolidos«, die seit 1963 entstehen, führt Oiticica die Farbe in ihre Körperlichkeit zurück. Pigmente, Kaffeebohnen, Muscheln, Erde oder Wasser sind neue Materialien seiner Kunst, die vom Besucher in eigens geschaffenen Behältern berührt, gerochen und erspürt werden.

Eine andere Realität faszinierte Oiticica zunehmend und hatte starken Einfluss auf seine Kunst: Das Leben in der Favela Mangueira mit der gleichnamigen Sambaschule, deren Mitglied er seit den frühen 1960er Jahren war. Aus diesen Erfahrungen entstanden die »Parangolés«, farbige bunte Textilien zum Anprobieren. Körperlichkeit, Unmittelbarkeit, De-Intellektualisierung und das Sich-lösen von den eigenen bourgeoisen Wurzeln wurde zum Impetus seiner Kunstauffassung. Zur Ikone avancierte hierbei der Siebdruck »Seja marginal, seja um herói« (Sei ein Außenseiter, sei ein Held) von 1968, der den von einer polizeilichen Spezialeinheit erschossenen Freund Oiticicas und legendären Gangster der Favela Mangueira, Cara de Cavalo, zeigt. Denkt man an die Gated Communities der heutigen Mittelschicht in Brasilien, hat die politische wie soziale Strahlkraft hier nichts von ihrer Stärke verloren. »Rhodislândia« (1971) hingegen ist eine sinnlich-poetische Raumintervention, deren Bahnen aus zarter Gaze durchscheinende Raumeinheiten schaffen und zum Verweilen einladen. Ähnlich kontemplativ wirkt das Durchschreiten der hängenden blauen Gummischläuche von »Penetrável gal«.

In New York, wo Oiticica von 1970 bis 1978 lebte, entstanden u.a. mit dem Filmemacher Neville D'Almeida die Serien »Cosmococa«. Projizierte Fotografien von Plattencover und Pop-Magazinen wie dem Rolling Stone, deren Konturen mit Kokain nachgezeichnet und in verschiedene Raumsituationen eingebettet wurden. Im MMK lädt der Raum mit den psychedelischen Wandprojektionen mit weichem Boden und großen farbigen geometrischen Schaumstoffobjekten zum Spielen, Balancieren oder Experimentieren mit dem ganzen Körper ein.

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