Mitte der 90-er Jahre wurde in Moskau mit dem Moskauer Haus für Fotografie das erste staatliche Fotomuseum eröffnet. Anhand eines reichen Bestandes an Sammlungen wurde hier die Geschichte der russischen und sowjetischen Fotografie rekonstruiert.
In diesem Kontext ist die vorliegende Publikation zu sehen, die als Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung von Olga Sviblowa konzipiert und vom Moskauer Haus für Fotografie herausgegeben wurde. Das Buch ist zweisprachig gestaltet und enthält in deutscher und englischer Sprache Textbeiträge von Alexander Lawrentjew und Olga Sviblowa, in denen drei Richtungen innerhalb der sowjetischen Fotografie mit ihren Bezügen zueinander vorgestellt werden: die piktorialistische Fotografie, die konstruktivistische Fotografie sowie die Doktrin des Sozialistischen Realismus, bei der die Ideologie vorgab, welche Ästhetik Künstler und Fotografen anzuwenden hatten. In der kurzen Zeitspanne von 1920 bis 1935 liefen diese drei fotografischen Seh- und Gestaltungsrichtungen parallel nebeneinander und haben sich –viel öfter und intensiver als bisher bekannt- gegenseitig beeinflusst. Die meisten der im Westen wenig bekannten Fotografen haben stilistisch in alle drei Richtungen experimentiert. Insbesondere in den 20-er Jahren existierten verschiedene künstlerische Stilrichtungen im fotografischen Medium nebeneinander: die Fotografie, die sich auf die klassischen Traditionen stützte und die Avantgarde-Fotografie, bei der die Errungenschaften der abstrakten Kunst, der formalen Komposition und der dokumentarischen Pressefotografie übernommen wurden.
In seinem Beitrag Piktorialismus und Moderne in der Sowjetischen Fotografie der 20er und 30er Jahre vertritt Lawrentjew die These, dass die russischen Avantgarde-Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Experimente vor allem in dem neuen Medium der Fotografie fortgesetzt haben. Experimente mit geometrischen Formen führten zu vertikalen, horizontalen und diagonalen Anordnungen. Man war auf der Suche nach den Elementen einer fotografischen Komposition: Licht, Schatten, Perspektive, Linie und Tonung. Technische Details wurden in maximaler Nahaufnahme fotografiert, um deren geometrische Form und die Qualität ihrer Oberflächenverarbeitung zu betonen. Sviblova und Lawrentjew übernehmen mit dem Begriff der „piktorialistischen Fotografie“ eine Bezeichnung, die mit der neuerlichen Herausgabe des aus dem Jahr 1869 stammenden Buches Pictorial Effect in Photography des Engländers Henry Peach Robinson eine starke Verbreitung erhielt. „Piktorialismus“ im weiteren Sinn bezeichnet die Fähigkeit der Fotokunst, Stilrichtungen, Techniken, kreative Ansätze und Trends der „großen“ Künste zu absorbieren und ist somit die Antwort der Fotografie auf die unterschiedlichen Stile in der Kunst. Die Fotografen Andrej Karelin, Maxim Dmitrjew und Nikolaj Andrejew gelten in Russland als klassische Vertreter der piktorialistischen Fotografie, deren Tendenzen ins 19. Jahrhundert zurück reichen.
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Mitte der 20-er Jahre vollzogen sich radikale Veränderungen in der russischen Fotografie. Eine Generation von konstruktivistischen Fotografen, darunter bekannte Persönlichkeiten wie Alexander Rodtschenko, El Lissitzky und Boris Ignatowitsch, betrat die Szene. Ihre Arbeiten wurden in Druckwerken veröffentlicht und eroberten rasch die Kunstpublikationen sowie Fachzeitschriften, die sich auf Fotografie spezialisiert hatten. Die konstruktivistischen Fotografen beteiligten sich an großen bahnbrechenden Ausstellungen, organisierten auch ihre eigenen und beeinflussten eine neue Generation von Fotoreportern.# Page Separator #
Die Verkettung von Kunst und Politik hatte im fotografischen Medium eine besonders auffällige Entwicklung, die einen Höhepunkt zu Beginn des ersten Fünfjahresplans 1928 erreichte. Auf den Seiten von Sowjetskaja foto wird spätestens seit 1931 mit Blick auf den Wirtschaftsplan für eine konsequente Neuorientierung in der Fotografie geworben. Dazu wurde das Journal ab September 1931 unter dem Titel Proletarskoe foto herausgebracht. Es enthielt eine Reihe von programmatischen Artikeln, die eine vollkommen neue, rein politische Betonung aufwiesen und von den Fotografen den Dienst an der Kamera forderten. Hatte sich die moderne Fotografie in Russland zunächst parallel zur Avantgarde in der internationalen Fotografie entwickelt, so fing sie gegen Ende der 20-er und zu Beginn der 30-er Jahre an, bestimmte Merkmale, die sich aus den ideologischen Auflagen der Sowjetbehörden ergaben, aufzunehmen. Eine gestärkte Sowjetbürokratie forderte nun von den Künstlern gehorsame Soldaten im Dienste der Revolution zu sein. Wenngleich sich die Behörden in ihrem Bemühen, den Fotojournalismus und die Entwicklung der Fotografie insgesamt zu schützen, nicht sofort in den Inhalt der ästhetischen Debatte einmischten, gaben sie Ende der 20-er Jahre klare politische Vorgaben.# Page Separator #
Dennoch erweitert das Buch den Blick auf die Avantgarde, indem es verdeutlicht, dass das Gesicht der sowjetischen Fotografie der 20-er bis 30-er Jahre viel heterogener war als im allgemeinen bisher darüber berichtet wurde. Die Publikation erhebt dabei nicht den Anspruch, diese Periode vollständig zu repräsentieren. Es wird vielmehr der Versuch unternommen anhand einer Auswahl von Fotografien berühmter sowie kaum bekannter Fotografen die Entwicklung in der sowjetischen Fotografie aufzuzeigen.Haus für Fotografie Moskau: Sowjetische Fotografie der 20er und 30er Jahre
Format 22,5 x 30 cm, brochiert, 248 Seiten, mit rund 250 Duplex-Abbildungen und Texten von Olga Sviblova und Alexander Lawrentjew. Englisch-Deutsch.