Ausstellungsbesprechungen

Jahresschau Lübecker Künstlerinnen und Künstler, sowie: Die Kunst des Selbstporträts XI – Sammlung Leonie von Rüxleben, Kunsthalle St. Annen Lübeck, bis 8. Januar 2017

Alle zwei Jahre präsentieren die Lübecker Künstler ihre aktuellen Arbeiten in den Räumen des St. Annen-Museums. Stefan Diebitz hat eine bunte Ausstellung besucht.

Als der Fürstapotheker Nikolaus Marggraf, der Held von Jeans Pauls großartigem Roman »Der Komet«, zusammen mit seiner Entourage eine Kunstausstellung in Lukasstadt besucht, findet er dort ganze zwei Richtungen vor, die »italienische« und die »niederländische« Schule (»die Belgier und die Welschen«); die erstgenannte zeigt religiöse oder überhaupt mehr erhabene Werke, die andere kultiviert das Genre. Heutige Kunst ist dagegen schon ein ganz klein wenig vielfältiger, selbst in der Provinz. Mit zwei Schulen kommt man also nirgendwo aus – im gar nicht so seltenen Extremfall hat jeder Künstler seine eigene Schule gegründet und ist in seine eigene Nische gezogen.

Diesen problematischen Aspekt, der wesentlich ist für die Kunst der letzten einhundert oder mehr Jahre, wird von Gerhard Graulich in seinem Vorwort zu dem Katalog angesprochen: »Was also von der Jury ausgewählt worden ist, verkörpert nur eine von vielen Möglichkeiten. Andere wären unter anderen Bedingungen möglich gewesen.« Der Jury ging es also bei dieser Jahresschau um die ganze Vielfalt der Lübecker Künstlerschaft und um die Weite ihres Spektrums. Immerhin hat man sowohl bei den ausstellenden Künstlern als auch bei den Jury-Mitgliedern Externe hinzugezogen – Gerhard Graulich vom Schweriner Landesmuseum ist nur einer von ihnen.

95 Künstler hatten 320 Arbeiten eingereicht, von denen die Jury 87 Arbeiten von 44 Künstlern aussuchte. Aber was waren die Kriterien? Hat die Jury wie der Fürstapotheker gesagt: »Mein Grundsatz war aber von jeher, keine Kunstschule ausschließlich hintanzusetzen oder aufzumuntern, sondern jede zu begünstigen«?

Ich bin nicht ganz zufrieden mit dem Hinweis auf die Subjektivität der Kunst in unserer Zeit. Selbstverständlich kann man nicht einfach widersprechen, denn sie ist ein schlichtes Faktum, aber trotzdem bedeutet es doch, der Frage nach der Qualität auszuweichen. Es wirkt ziemlich angenehm, wenn die Künstler untereinander so kollegial miteinander umgehen, wie sie es in Lübeck (und vielleicht ja auch anderswo) tun, aber die Frage nach den Auswahlkriterien bleibt trotzdem. Wozu dann eine Jury, vielleicht gar mit richtigen Fachleuten, die ein Fach namens Kunstgeschichte studiert haben und an der Universität lehren?

Zeitgenössische Kunst ist mehr denn je auf die Erläuterung durch den Künstler angewiesen, und vielleicht können der Reichtum und die Vielfalt der Erläuterungen einen Hinweis auf die Qualität geben? Gute Kunst wäre eine Kunst, über die man sprechen kann, weil sie zum Denken anregt, weil sie verschiedene Zugänge erlaubt oder sich auch einfach nur schlichten Antworten verweigert. Und umgekehrt reagiere ich sehr ratlos, wenn mir erklärt wird, man interessiere sich jetzt für Gelb oder Schwarz oder wenn unter einem abstrakten Bild nur »O.T., Mischtechnik« steht. Was ich vermisse, ist nicht etwa eine »Aussage«, sondern etwas, wo ich einhaken kann, weil es mehr ist also bloß subjektiv.

Das Lübecker St. Annen-Museum mit seinen spätgotischen Räumen – es handelt sich dabei um ein mittelalterliches Kloster von erlesener Schönheit – eignet sich kaum für die Präsentation von zeitgenössischer Kunst. Diese wird deshalb in einem Neubau gezeigt, der Kunsthalle, die mit ihrem Sichtbeton an die Stelle der bereits 1843 abgebrannen Kapelle gesetzt wurde. In ihrem Grundriss wiederholt sie deren Form, wenngleich unter Verzicht auf jede Gliederung. Wenn man durch die schmalen, gotische Fenster imitierenden Fensterschlitze hinaus in den Innenhof oder hinüber zu Synagoge und Ägidienkirche blickt, hat man noch einmal den denselben Kontrast, für den die Kunsthalle steht. Alte Kunst dürfte man dort so wenig ausstellen wie im Refektorium oder in den Umgängen zeitgenössische Objekte, aber für die Jahresschau ist sie genau richtig.

Diesjähriger Preisträger ist Klaus Ammann, Jahrgang 1932, der in Hamburg bei keinem Geringeren als Alfred Mahlau studiert hat. Seinen Arbeiten kann man einen langjährigen Besuch in Mexiko durchaus ansehen, ohne dass ich so genau zu sagen wüsste, woran das eigentlich liegt. Ammann verarbeitet Strandgut, also Fundstücke aller Art, die in seinen Worten eine gewisse »Magie ausstrahlen«. Holzstücke oder anderes Material lagert er so lange in seinem Atelier, bis sie sich zu einem »Objekt zusammenfinden«. Gleich am Eingang der Ausstellung finden sich zwei Beispiele seiner Arbeiten, einmal die »3 ungleichen Brüder«, dazu noch eine kleine Plastik, der er den Namen Atahualpas gegeben hat, des unglücklichen letzten Inkakönigs. Das große Glück, dass ihn die Spanier erdrosselten, nicht etwa verbrannten – aber natürlich nicht, bevor er ihnen all sein Gold gegeben hatte –, hatte er seinem Übertritt zur allein seligmachenden Religion zu verdanken.

Klaus Ammann ist nicht der einzige, dessen Gedanken um Strandgut kreisen. Ästhetisch äußerst reizvoll, obwohl es ein sehr ernsthaftes Problem anspricht, ist das »Schwarmprojekt« von Ute Lübbe, ein großes, silbrig oder sogar fischig funkelndes Mobile aus am Strand aufgelesenem Plastik. Die vielen herabhängenden Stränge mit Quallen, Fischchen und Krill stellen das wimmelnde Leben des Meeres dar, das mit dem überall herumtreibenden Plastikmüll zu kämpfen hat. Ute Lübbes Quallen haben Plastikstücke in ihre Körperhülle integriert, was ihnen in der Realität wohl leider nicht gelingen wird. Dieses Mobile schien mir die schönste und zugleich die perspektivenreichste Arbeit der Ausstellung.

Die Räume bergen Kunstwerke der verschiedensten Art, die sich zu einem sehr bunten Bild vereinen. Allerdings gibt es kaum eine Plastik – nur eine winzige freistehende –, sondern die Mehrzahl der Arbeiten sind Bilder aller Art, zu denen etliche Fotos gehören. Dazu kommen auch noch Installationen.

Noch weitere Arbeiten seien angesprochen; einmal ein abstraktes Bild des erst kürzlich verstorbenen Wolfgang Christophersen, in dem man bei einem genaueren Hinschauen vielleicht doch Gegenständliches erkennen könnte, sodann eine Arbeit von Ulrike Traub, die den Daphne-Mythos aufgenommen hat. Daphnes Schönheit hatte Apoll in Bann geschlagen, aber da Daphne für seine Liebe dank eines Gegenzaubers unempfindlich blieb und sich von den Nachstellungen des Gottes eher gequält als geschmeichelt fühlte, bat sie ihren Vater, sie in einen Lorbeerbaum zu verwandeln. Eben diese Verwandlung, von Ovid in seinen »Metamorphosen« besungen, stellt Traub in ihrer Gouache dar.

Erwähnt werden sollten schließlich noch zwei dekorative, bunt leuchtende Bilder von Johannes Jäger, Jahrgang 1930. Jäger gehört zu den Künstlern, die ihre Bilder nicht in jedem Fall auf einen rechteckigen Untergrund malen, obwohl er diesmal ziemlich nahe dran ist. Jägers Arbeiten zählen wohl noch zum abstrakten Expressionismus.

Gleichzeitig mit der Jahresschau wird ein Stockwerk tiefer eine weitere Folge aus der Sammlung Leonie von Rüxleben vorgestellt, die ausschließlich Selbstporträts aus Künstlerhand enthält. Keine einfache Aufgabe für das Museum, jedes Jahr diese Sammlung unter einem anderen Aspekt zu präsentieren, und so entschloss man sich schon vor Jahren zu einem etwas schematischen Vorgehen, das sich an den Anfangsbuchstaben orientiert, nicht etwa an Stilrichtungen oder verschiedenen Aufgabenstellungen. Eine wirkliche Aufarbeitung dieser Sammlung scheint leider nicht stattzufinden. Vielleicht sollte man dafür einmal ein Stipendium ausschreiben?

In jedem Jahr führt die Präsentation der Sammlung zu einer Zusammenstellung sehr verschiedener Künstler, die nichts gemein haben außer der Tatsache, dass sie sich selbst porträtierten und im Alphabet ungefähr an derselben Stelle stehen. In diesem Jahr sind die Buchstaben K bis M dran. Rein alphabetisch in der Mitte steht der aus Funk und Fernsehen bekannte Schlagerfuzzi Udo Lindenberg, in der Ankündigung seinem künstlerischen Rang entsprechend hervorgehoben, gerahmt von René Magritte, Alfred Kubin, El Lissitzky und Max Liebermann.

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