Buchrezensionen

Karl Schütz: Vermeer. Das vollständige Werk, Taschen 2015

Mit einem reich illustrierten Folianten feiert der Taschen-Verlag Jan Vermeer. Das sehr schöne Buch von dem Wiener Kunsthistoriker Karl Schütz hat Stefan Diebitz für das Portal Kunstgeschichte gelesen.

Es sind insgesamt fünf große Kapitel, in denen uns Schütz, Direktor der Wiener Gemäldegalerie des Wiener Kunsthistorischen Museums, mit Leben und Werk Jan Vermeers (1632 – 1675) vertraut macht. Das eigentliche Werk steht in den drei mittleren Kapiteln im Mittelpunkt, denn »Delft und Vermeers Herkunft« konzentriert sich ganz auf die etwas mageren historischen Fakten, wogegen sich der »Epilog: Vermeers Wiederentdeckung und später Ruhm« mit der Rezeptionsgeschichte beschäftigt.

Vergleicht man das Gesamtwerk Vermeers mit dem der anderen ganz Großen seiner Zeit (und allein mit den Giganten der Kunstgeschichte lässt sich ein Künstler seines Formats vergleichen), so fällt zunächst sein geringer Umfang auf, der natürlich auch mit der Kürze seines Lebens zu tun hat. Karl Schütz geht von nur fünfunddreißig überlieferten Bildern aus, andere Autoren von siebenunddreißig. Aber auch die beiden zweifelhaften Zuschreibungen finden sich am Ende des Kataloges abgebildet und beschrieben, wenngleich nicht ausführlich interpretiert. Zusätzlich zu dem geringen Werkumfang sind fast alle Bilder Vermeers klein und bescheiden, denn sie waren nicht für Fürstenhöfe gemacht, sondern für Bürgerhäuser.

Endlich ist sein Gesamtwerk nicht allein wenig umfangreich, sondern auch thematisch eng, denn bekanntlich hat sich Vermeer ganz auf Genrebilder konzentriert, auf die Abbildung eines alltäglichen, vielleicht sogar bedeutungsvollen, aber keinesfalls theatralischen oder gar spektakulären Geschehens. Eine junge Frau liest einen Brief, eine andere hält eine Waage in der Hand, eine Magd gießt Milch oder Sahne in eine Schüssel. Es scheint eine kleine und stille Welt, über die wir nichts erfahren, denn wer könnte uns verraten, was der Herr zu dem »Mädchen mit dem Weinglas« sagt? So gibt uns die Farbe des Kleides zu denken (rot ist natürlich sehr verdächtig), aber ganz sicher kann man sich des Charakters einer Person bei diesem Künstler niemals sein. Eindeutige Botschaften finden sich nicht in seinen Bildern, und wahrscheinlich ist das ein wesentlicher Grund, warum uns seine Kunst immer noch so nahe ist.

Bereits mit bloßen Andeutungen ist dieser Künstler sparsam, und allegorische Hinweise auf die Moral einer Figur sind allenfalls gelegentlich zu erahnen, drängen sich aber niemals auf. Ohne diese Stummheit seiner Bilder, die sich einer vorschnellen Deutung verweigern, scheint Vermeers Erfolg in der Moderne kaum denkbar; über eine brieflesende junge Dame würden wir die Achseln zucken, wenn wir das Schreiben in ihrer Hand lesen könnten. In »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« wird wiederholt die »Ansicht von Delft« und besonders ein gelbes Dach angesprochen – dieses Dach wäre ganz uninteressant, wenn man wüsste, was es damit auf sich hat. (Von dem Gelb Vermeers hat Oswald Spengler geschrieben, es rage »mit wahrhaft metaphysischem Nachdruck wie aus einer anderen Welt ins Räumliche« herein. Ob er damit aber wie Marcel Proust die »Ansicht von Delft« angesprochen hat, wissen wir natürlich nicht.)

Es sind allein vier Bilder, in denen Vemeer andere Wege eingeschlagen hat, und zwei davon stehen ganz zu Beginn seines künstlerischen Weges und deuten an, dass er als ein Maler seiner Zeit auch ein ganz anderes Werk hätte schaffen können. Seine früheste Arbeit, »Diana und ihre Nymphen«, ist ein mythologisches Bild, »Christus bei Maria und Martha« ein historisches. Beide sind, obwohl sie von einem ganz jungen Vermeer gemalt wurden, bereits meisterhaft – und nicht allein in einem anderen Genre als das spätere Werk, sondern auch in einem anderen Stil. Schütz beschreibt das Erstaunen der Fachleute, als sie 1901 die Signatur Vermeers auf dem letztgenannten Gemälde identifizierten: »Mit dem biblischen Thema, der Komposition mit lebensgroßen Figuren, der starken und leuchtenden Farbigkeit sowie der mit breiten Pinselstrichen pastos aufgetragenen Malerei unterschied sich das Bild von den späteren Werken des Künstlers und förderte einen völlig neuen und überraschenden Aspekt zutage«.

Am Beispiel des dritten aus der Phalanx seiner frühesten Bilder, der »Kupplerin«, zeigt Schütz, was das Einzigartige an dem Werk Vermeers ist. Dem Autor kommt es gar nicht einmal auf die Hinwendung zur Genremalerei an, die Vermeer mit diesem Bild vollzog, sondern entscheidend ist für ihn der »völlig neue Zugang zur malerischen Aneignung der Wirklichkeit«, und entsprechend kommt er im Verlauf seines Buches wieder und wieder auf die Technik Vermeers zu sprechen, auf seine handwerkliche Meisterschaft, die Schütz zunächst in der Verteilung von Licht und Schatten findet. Mit seinen Lichteffekten schuf Vermeer dieser Beobachtung zufolge die große Plastizität seiner Figuren, und darüberhinaus gelang es ihm, die Materialität der Gegenstände mit zahlreichen kleinen Tricks anschaulich zu machen und gelegentlich sogar die Illusion der Handgreiflichkeit zu erzeugen.

Die Gemälde Vermeers sind allesamt verhältnismäßig klein, sodass die Größe der Abbildungen diese gelegentlich um ein Mehrfaches übertrifft, wenn es um einzelne Ausschnitte geht. Diese Details sind dem Autor sicherlich schon deshalb wichtig, weil er mit ihrer Hilfe die Maltechnik Vemeers demonstrieren, zum Beispiel die aufgesetzten Reflexe sichtbar machen kann. Ist das ein fragwürdiges Verfahren, das uns die Freude an der Malerei nehmen kann? Der Kritiker einer renommierten Tageszeitung hat sich sogar dazu verstiegen, die gelegentlich allerdings gewaltigen Vergrößerungen in einen Zusammenhang mit Pornografie zu stellen und sie mit einem Blick unter den Rock einer Frau zu vergleichen. Wahrscheinlich hatte er gerade seine kulturkritischen fünf Minuten. Mir dagegen sind diese Vergrößerungen gerade recht – wozu sonst könnte auch das Riesenformat des Buches dienlich sein?

Ein anderer wesentlicher Aspekt ist die Darstellung der räumlichen Tiefendimension. Wer hat nicht die schwarz-weiß gefliesten Fußböden vor Augen, die sich auf zahlreichen seiner Bilder finden? Aber die (selbst für einen guten Maler sicherlich nicht unbedeutenden) Schwierigkeiten eines solchen Bodens sind für Schütz nicht der wesentliche Punkt, sondern ihm kommt es auf die »geometrische Flächenorganisation« von Vermeers Gemälden an, die er am Beispiel des sonst für Vermeer noch untypischen Frühwerkes »Christus bei Maria und Martha« erläutert. »Die aus einigen Brettern gefügte, halb offenstehende Tür, der Türstock mit den schmalen Glanzlichtern entlang der polierten Kanten, die Türschwellen und Möbelstücke bilden eine fest gefügte Organisation von Flächen, die zugleich die raffinierte Illusion von Raum erzeugen. Damit ist eines der wesentlichen Gestaltungsprinzipien in Vermeers Bildern benannt, eine fast abstrakt anmutende geometrische Flächenorganisation des Bildes, die hier zum ersten Mal auftaucht.« Später, wenn er über die »Ansicht von Delft« schreibt, spricht Schütz von Vermeers »Vorliebe für die orthogonale Komposition, die von dominanten Senkrechten und Waagrechten bestimmt wird«.

Ein strittiger Punkt der Vermeer-Forschung ist seit langem die Frage, ob der Meister vielleicht eine Camera obscura benutzt hat. Schütz spricht sich ganz entschieden dagegen aus und kann auf die Einstichlöcher verweisen, die man in insgesamt dreizehn seiner Bilder findet. Das auch sonst bekannte Verfahren bestand darin, dass der Künstler einen gekreideten Bindfaden benutzte, der an dem zentralen Fluchtpunkt zunächst befestigt, dann gespannt und endlich losgelassen wurde: so schlug er feine Linien auf die bereits grundierte Leinwand.

Es scheint unglaublich, dass es den Künstlern des 17. Jahrhunderts gelang, nur einhundertfünfzig Jahre nach der Erfindung der Perspektive auch komplizierteste Räume und Gegenstände korrekt darzustellen. In Hamburg konnte man 2010 in der Ausstellung »Segeln was das Zeug hält!« Meisterstücke des Goldenen Zeitalters sehen, in denen große Segler und ihre Takelage auch bei bewegter See abgebildet wurden. Die gleichzeitigen Ansichten ihres Landsmannes Vermeer sind im Vergleich dazu zurückgenommen, still und in keiner Weise spektakulär, aber schon die erwähnten Fußböden haben es in sich, und auch sonst sind seine Bilder mit Schwierigkeiten gespickt. Nur ein Beispiel neben vielen ist der Spiegel, der in »Die Musikstunde« über dem Virginal hängt und die schwarz-weißen Fliesen zeigt.

Es sind nur zwei Bilder überliefert, in denen Vemeer (wenn wir von den beiden Frühwerken absehen) den Bereich der Genremalerei verließ. Das sind natürlich zwei seiner berühmtesten und schönsten, die »Ansicht von Delft« und »Die kleine Straße«.

Vermeers Ziel, so Schütz, war die illusionistische Darstellung der Wirklichkeit von einem bestimmten Standort aus. Deshalb hat er alle Dinge so gemalt, wie sie uns erscheinen, nicht etwa, wie sie tatsächlich sind. Im Grunde war er, der mit kleinen Farbflecken arbeitete, Pointillist und wurde von Etienne-Joseph-Théophile Thoré-Burger (1807 – 1869), seinem Entdecker im 19. Jahrhundert, auch als ein solcher bezeichnet. Zusätzlich hat Vermeer viele Gegenstände etwas unscharf gemalt, und eben dies war auch der Anlass, eine Camera obscura als sein Arbeitsmittel anzunehmen – ein Gedanke, den Schütz aber strikt zurückweist.

Endlich scheint es, dass Vermeer seine Ansichten auch insofern etwas unrealistisch darstellte, als er sie arrangierte und damit von der tatsächlichen Situation abwich. In »Die kleine Straße« stehen zwei Häuser nebeneinander, die in Wahrheit gar nicht benachbart waren. Und ähnliches lässt sich auch von der »Ansicht von Delft« sagen. Damit der Leser das überprüfen kann, bietet das Buch noch andere Ansichten dieser Stadt von Hendrick Cornelisz. Vroom, die sicherlich sehr gute Arbeiten sind, denen aber alles das fehlt, was die beiden kleinen Gemälde von Vermeer ausmacht. Bis heute habe ich noch nicht verstanden, warum eigentlich diese bescheidenen Bilder so atemberaubend schön sind.

Ein letztes Bild muss noch angesprochen werden – das größte seiner Genrebilder und zugleich wohl das einzige, das eine allegorische Bedeutung besitzt. Schütz betrachtet die »Malkunst« (»De Schilderkonst«) als ein Historienbild und sieht es »vielleicht« als Vermeers Hauptwerk an. Zumindest scheint es das meist interpretierte zu sein. Auf den ersten Blick zeigt es nicht mehr als eine Atelierszene, aber es ist eine mit Bedeutung aufgeladene, denn der Künstler auf dem Bild malt Clio, die Muse der Geschichte. »Wir sehen in einer Art Rahmenhandlung«, schreibt Schütz, «wie eine Allegorie der Geschichte entsteht.« Weder ist der Maler des Bildes eine Selbstdarstellung des Künstlers, noch entspricht das gemalte Atelier jenem Vermeers – das Bild zielt also auf eine allgemeine Aussage. Von Bedeutung sind dabei die einzelnen Gegenstände, deren allegorische Bedeutung von Schütz Punkt für Punkt durchbuchstabiert wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang eine Landkarte der Niederlande, die bereits nicht mehr die tatsächliche politische Situation zur Zeit abbildet, sondern auch nach deren Zerbrechen die Einheit des Landes beschwört.

Das Format wie auch die sehr großzügige und schöne Ausstattung des Buches entsprechen den beiden früheren, im selben Verlag erschienenen über Hieronymus Bosch und Diego Velázquez. Die ersten 212 Seiten des extrem schweren und großformatigen Bandes sind also auf Hochglanz gedruckt, aber der sich anschließende Werkkatalog, der auch die beiden umstrittenen Zuweisungen sowie eine Liste der Forschungsliteratur und endlich die Quellen (mit holländischem Originaltext und deutscher Übersetzung) umfasst, findet sich auf deutlich weniger hochwertigem Papier. Zusätzlich gibt es drei Klapptafeln, bei denen die Größe der Abbildung jene des Originals weit übertrifft, zum Beispiel bei »Die Frau mit Waage«, das ja nicht mehr als 40 mal 35 cm misst – und die Klapptafel zeigt nur einen Ausschnitt! Sollte der Kritiker, der diese Vergrößerungen »obszön« fand, also doch recht haben? Ein ähnliches Größenverhältnis gilt auch für »Briefeschreiberin und Dienstmagd«, obwohl hier das Original erheblich größer ist, nämlich 90 mal 78 cm misst.

Es ist ein schönes, sehr empfehlenswertes Buch über einen großartigen Künstler.

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