Porträts

Kunst kommt von Conan. Ein Porträt über Jonathan Meese

Jonathan Meese kann derzeit niemand übersehen, der an der Feier der jungen deutschen Kunstszene teilhaben will. Der 34-jährige Shootingstar, der bei Galeristen und Sammlern in Hamburg, Berlin, London und New York gefragt ist, gilt als Wunderknabe der Stunde.

Er malt selbsttrunkene Trash-Panoramen, liebt apokalyptische Filme und hat jüngst als Bühnenbildner an Castorfs Volksbühne debütiert. Ein Streifzug durch ein bizarres Universum, von „A“ wie „Alien“ bis „Z“ wie „Zardoz“.

Volksbühne, Kokain für Castorf: Dr. Zardoz baut ein Bühnenbild

Dies ist die Geschichte eines genialen Hochstaplers und dauerberauschten Liebhabers. Eines jungen Parvenüs, der sich mit dekadenten Sophismen parfümiert und mit dem edelsten Schnee die Nase pudert. Tito Arnaudi, so der Name des Helden aus Pitigrillis 1921 erschienenem  Skandal-Roman „Kokain“, reüssiert als Journalist bei einer renommierten Pariser Tageszeitung, erfindet als früher Borderline-Texter im Drogeneifer die herrlichsten Räuberpistolen, feiert weiße Messen in der zwittrigen Schummerwelt der Montmartre-Boheme und reibt sich zwischen zwei Geliebten auf: Der schönen Armenierin Kalantan und der promisken Fracktänzerin Maddalena, genannt Maud, genannt Kokaina. Der bigotteriegewandte Klosterschüler und gescheiterte Medizinstudent Arnaudi ist dem Gift und den Frauen verfallen, diesen „umherschweifenden Gebärmuttern, hinter denen die Männer herlaufen, während sie von Ruhm und Idealen reden“, verliert sich ganz in seiner irrlichternden Eifersucht und wählt schließlich, nach fehlgeschlagenem Höhepunkt mit Kokaina auf den Bahngleisen, den freiwilligen Abgang mittels Typhus-Bazillen: „Ich töte mich, weil es mir widerwärtig ist, weiterzuleben. Jeder anständige Mensch sollte das gleiche tun, wenn er achtundzwanzig ist“. Das Werk des Italieners Pitigrilli, der eigentlich Dino Segre heißt und im Alter zum Katholizismus konvertierte, kokettiert dabei so lustvoll mit Eros und Exzess, Blasphemie und Todessehnsucht, dass es immer wieder, zuletzt 1983, auf dem Index landete und bis heute einen Ruch des Unanständigen behalten hat. Ein Stoff also wie geschaffen für den Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf, dessen Faible für fröhliche Theaterentgrenzungen ja weidlich bekannt ist und der zuletzt im Wechsel Dostojewski-Romane und Tennessee-Williams-Dramen in den Wohncontainern seines Bühnenbildners Bert Neumann zu melancholischen Privatfilmvorführungen in Großaufnahme verdichtete.

Doch obwohl die Volksbühnenfamilie nun am Kokain-Abend in gewohnter Form die Vorlage pulverisiert und sich genussvoll einverleibt, obschon Marc Hosemann einen herrlich überforderten Tito Arnaudi gibt, Kathrin Angerer als Kokaina unter blonder Perücke grandios entrückt die schmolllippige Femme fatale bedient und Hendrik Arnst als Chefredakteur und Alkoholiker famose Abgesänge aufs nüchterne Dasein anstimmt, fällt die Inszenierung, im Programmheft unter das Gratwanderungs-Motto „Das Schwindelerregende“ gestellt, diesmal aus dem gewohnten Rahmen. Nicht zuletzt, weil der Bühnenbildner Jonathan Meese heißt.

Irgendwo zwischen russischer Wodkawehmut und amerikanischem Kapitalismuskater scheint Castorf und Neumann der Containerkoller ereilt zu haben. Neumann, so heißt es, verfiel auf die Idee, mit dem langhaarigen Trainingsjackenfanatiker aus Ahrensburg bei Hamburg einen der angesagtesten jungen Künstler der deutschen Malereiszene einzuladen und dessen bizarre Bildwelten, in denen es archaisch raunt, ritterlich drängt und überhaupt vor martialischen Figuren wimmelt, mit Castorfs Kleinbürgerhöllen kollidieren zu lassen. Jonathan Meese sagte zu, obgleich er ein Theaterfremdling ersten Ranges ist, nie zuvor einen Fuß in die Volksbühne gesetzt hatte und auch Pitigrillis Roman nur für bedingt interessant hielt – was ihm, trotz süßer Dekadenz der Jugend, und trotz aller Liebe zur gepflegten Obsession, niemand verübeln mag. Nach eigener Aussage aber, und schon befindet man sich mitten im unendlichen Ego-Kosmos des ehemaligen Studenten der Hamburger Kunsthochschule, wollte er „das ultimative Bühnenbild“ schaffen, ein Ding an sich, das „für jede Aufführung Bestand hätte“.

So rotiert nun auf der Drehbühne ein gewaltiges Eisernes Kreuz, aus dessen Oberfläche vulkanische Schornsteine ragen und gelegentlich Nebel speien. Die aufragenden Balkenenden sind mit Worten wie „Kampf“ und „Gold“ bepinselt, irgendwo hängt ein Plakat des Taxi Drivers Travis Bickle, unterschrieben mit „Erzkamerad“. Überhaupt ist das gesamte seltsame Gebilde, das der Künstler selbst als „Getreidespeicher-Raumschiff“ bezeichnet, voll von den favorisierten Wortschöpfungen des hingebungsvollen Poetry-Slam-Berserkers aus dem Elbeland: „Ernteproduktionsmeldung“, „Djangott (notgeil)“, „Dr. Eldoradon“, „Dr. No. 1923“. Hinter einer Bar, die als Nibelungen-Reminiszenz in windzittrigen Lettern das Wort „Saal“ trägt, flimmert die Verfilmung von H.G. Wells’ „Time Maschine“ über die Videoleinwand. Ein kleiner Fernseher zeigt das Arnold-Schwarzenegger-Epos „Conan – Der Barbar“, einen der Lieblingsfilme von Meese. Ein anderes Werk, in seinen Augen kultisch zu verehrender Kinokunst und eine der Hauptinspirationsquellen seiner Arbeit, wird während der Inszenierung riesengroß und stumm auf die Brandmauer projiziert: „Zardoz“, eine Sciencefiction-Parabel von John Boorman.

Sie spielt im Jahre 2293 und entwirft eine Welt, in der die unsterblichen Bewohner eines schwül-antiken Utopia sich mittels eines unsichtbaren Energieschildes vor dem kriegerischen Restpöbel des Planeten schützen. Diesen Wilden erscheint regelmäßig ein fliegender steinerner Gott namens Zardoz, der in erster Linie misanthropische Weisheiten parat hält: „Die Waffe ist gut, der Penis ist schlecht! Der Penis schießt Samen und macht neues Leben, um die Erde mit der Seuche Mensch zu vergiften!“ Ein stoischer Sean Connery im roten Schurz und in Stulpenstiefeln bringt als Rebell der letzten Tage das wohlgeordnete Gefüge durcheinander, am Ende kollabiert die elitäre Gemeinschaft der impotenten Übermenschen in einem Bacchanal von blutigen Ausmaßen. Unglaublich wirres Zeug, sagen manche Kritiker. „Komplett unentschlüsselbar“, sagt Meese. Wo der Bezug zu Pitigrillis Kokain liegt, bleibt etwas schleierhaft. Sicher, die Gottesfrage scheint hier wie dort auf – Zardoz nämlich ist ein höherer Gaukler, sein Name ergibt sich zusammengezogen aus dem „Wizard of Oz“, das Kokain wiederum, bei Pitigrilli gottgleich verehrt, wirkt auf die Dauer auch nicht selig machend, sondern führt zum totalen Verfall.

Erkennbar aber wird vor allem des Bühnenbildners Vorliebe für einen gewissen Retrofuturismus, für die Schnittstelle zwischen Steinzeit und Zukunft, Archaischem und Modernem. Wie versinnbildlicht in Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“, wo ein Knochen, von Primaten in die Luft geschleudert, nahtlos zum Raumschiff überblendet wird.

Die Sehnsucht nach zivilisatorischer Entgrenzung und radikaler Kulturexplosion ist aber nicht das einzige Leitmotiv der Meese-Kunst, das rund ums Eiserne Kreuz aufscheint. Bemalt ist der weltkriegerische Symbolbau mit zotteligen Selbstporträtfiguren, deren hervorstechendstes Merkmal der Riesenphallus ist. Der taucht oft auf bei Meese. Und im Inneren, in einem heimelig-roten Bordellraum, prangen inmitten eines popblitzenden Bildersammelsuriums die Hakenkreuze an der Wand. Auch die gern genommen. Hat, o weh, nicht unlängst erst der Lieblingsfeind aller aufrechten Volksbühnengenossen, der selbsterklärte Altmeister Claus Peymann, polemisiert, Kollege Castorf sei wie alle Zyniker rechtsaußen gelandet? Hat er. Und das neue Sinnsucher-Motto des Panzerkreuzers am Rosa-Luxemburg-Platz, „Religion kann ein Anker sein“, führt seiner Ansicht nach geradewegs in den katholisch beweihräucherten Faschismus: „Da werden auch noch die Hakenkreuze gesegnet.“ Aber keine Sorge. Castorf hat schon ganz andere Stahlgewitter überstanden. Und Jonathan Meese ist nicht Thor Kunkel, Autor des Buches „Endstufe“, der ein pawlowsches Feuilleton mit Nazipornos zum Schockreflex zu kitzeln versteht. Bei ihm wirkt das Spiel mit den verbotenen Zeichen, das etwa eine jüdische New Yorker Kritikerin so gar nicht zeitgeistgeil fand, eher wie ein Don-Quixote-Sturm gegen die totale Kriterienlosigkeit der gegenwärtigen Kunst. Und, was man bei allem Ernst nicht übersehen sollte, wie das Raketenzündeln des bösen Buben in der mütterlichen Garage, der sich diebisch über jeden Knalleffekt freut. Kind Heil!

Immerhin hat sich Meese nun in die Tradition namhaftester Künstler gereiht, die bereits für die Bühne gearbeitet haben. Pablo Picasso, der unter anderem für Strawinskys „Pulcinella“ tätig wurde. George Grosz, der etwa Erwin Piscators Aufführung des „Braven Soldaten Schwejk“ belebte. Oder Marc Chagall, der Tschaikowski-Ballette ausstattete. Was ihm das bedeutet, vermag er selbst nicht so genau zu sagen. Vermutlich wenig. Dem Wort Tradition schließlich zieht er die Dynastie vor, in der Historie sucht er dynastische Verbindungen, ewig gültige Muster, woraus sich auch sein Spiel mit Jahreszahlen erklärt, eine kleine Revolte gegen die trügerische chronologische Ordnung der Geschichtsbücher.

„Kokain“ jedenfalls ist ein Abend der vollkommenen Überforderung, eine Inszenierung, die nach nichts als dem Zusammenbruch zu streben scheint. Multimedial beschallt tanzt man ums Eiserne Kreuz wie ums Goldene Kalb, kokst linientreu gegen den eigenen Kollaps an und ruft Romansätze ohne Widerhall. Kein Rausch, nirgends. Es muss am Sujet liegen. Wie heißt es noch in Pitigrillis Roman? „Die ersten Dinge, die das Kokain vernichtet, sind der Wille und die Scham“. 

Der Künstler in der Kunstwelt: Johnny de Saint Phallus malt

Jonathan Meese wird in der Zeitschrift art das Enfant terrible der Kunstszene genannt, der Ritterschlag für jeden öffentlichen Rabauken. Der Spiegel widmet ihm in einem Artikel über den Auslandserfolg der „Kraut Art“ ganze Passagen, erwähnt den Kauf seines Triptychons „Die Staatsversuchung der Gebenedeiten im Erzland“ durch den berühmten Londoner Sammler Charles Saatchi und nennt Meese einen „genialen Kunstbarbar“. Die Süddeutsche Zeitung lässt ihn den beliebten Wochenendfragebogen beantworten, in dem er unter anderem auf die Frage „Was möchten Sie gerne erfinden?“ in typischer Meese-Diktion entgegnet: „Es möge sich im Lebendigsten der erntefrischeste Volksallkern am Getreiderad erfinden, anhand des Musikzimmers ‚Nomad’ ihrer Waldsamkeit (Proteus IV).“  Im Schloss Neuhardenberg nahe Berlin wird eine Ausstellung über Joseph Beuys und Heiner Müller eröffnet, die den Titel „Partisanen der Utopie“ trägt – man lädt Jonathan Meese ein, die Hommage zu halten. Er ist allgegenwärtig.

Viel Aufmerksamkeit und viel Erfolg für einen jungen Künstler, dessen Talent nicht zuletzt darin liegt, jede Gewissheit über sein Werk zu zerstreuen. Er zelebriert die heilige Dreifaltigkeit aus Pathos, Pose und Parodie derart aufrichtig, dass selbst gestandene Kunstkritiker mit einem Rest von Ratlosigkeit auf seine Gemälde, Installation und Skulpturen blicken, die nicht selten aussehen, als hätte sich ein Horrorfreak im LSD-Furor durchs Cabinet des Dr. Caligari gewühlt. Da mischt sich ehrliche Bewunderung mit verhaltenem Amüsement. Was aber will man dem Künstler vorwerfen? Dass er tatsächlich gar keine Kunst schafft? Das würde Meese nie bestreiten. Sein Credo lautet schließlich: Die Kunst erschafft sich selbst. Und da der Kunstmarkt, neugierig wie alle kapitalistisch zirkulierenden Märkte, ihn zu hofieren begann, seit er von den Berliner „Contemporary Fine Arts“-Galeristen Bruno Brunnet und Nicole Hackert entdeckt und gefördert wurde, und ihm seitdem die Treue hält, kann von Hochstapelei, von des Kaisers neuer Trainingsjacke, sicherlich keine Rede sein – jede Zeit erwählt die Künstler, die sie braucht. Nachdem der Newcomer anfänglich gern gegen das Szene-Establishment nebst seinen Preisen und Diplomen wetterte, hat seine Popularität mittlerweile allerdings eine Dimension erreicht, über die er keine Kontrolle mehr zu haben scheint. Mit dem Erfolg sind auch die Erwartungen von vielerlei Seite an ihn gestiegen: „Die Leute klagen mich des Verrats an, werfen mir vor, ich wäre Kompromisse eingegangen, weil ich für die Bühne gearbeitet habe, oder drohen: Wenn du diesem oder jenem etwas verkaufst, dann ist alles aus. Die verstehen nicht, dass ich zu vielem gar nicht mehr ja oder nein sagen kann. Das ist ein Selbstläufer, das überrollt mich“ – so ruft er im Interview aus und wirkt ehrlich verzweifelt. Und doch bekundet er, trotz aller Ermüdungserscheinungen den Spaß an der manischen Schöpfung bislang noch nicht verloren zu haben. Und verweist außerdem auf den Humor in seiner Arbeit. Auf die heitere Seite des Schreckens. So oder so schreit es ja nicht nach kunstbeflissenem Interpretationsgeist, wenn er in einer seiner bildüberfluteten Raum-Installationen „Das Saalreich erwacht“ oder „Erzrichard“ an die Wand pinselt.

Hervorgegangen ist sein wagnerianisch donnerndes Assoziationsfeuerwerk schließlich auch nicht aus Walhalla-Gewölben, sondern ursprünglich aus dem Privatarchiv, aus einem Jugendzimmerwust von Fotos, Postern und Filmschnipseln, der Devotionaliensammlung des frühen Meese, bestehend aus Ikonen wie Kinski, Bronson, Eastwood, De Niro, Ventura. Irgendwann fanden die, so wird kolportiert, fast zwangsläufig Einzug in seine Kunst. Die Installation, die Meese anlässlich der 1998-er Biennale im Berliner Postfuhramt einrichtete, bestand aus Hunderten solcher scheinbar wahllos angehäuften Bilder – und aus ungezählten Fotografien vom Künstler selbst. Das Prinzip, sich in Bezug zu den prominenten Gestalten setzen, hat er beibehalten, die Vorlieben haben sich bloß ein bisschen verschoben. Historische Figuren sind es nun, die ihn faszinieren und so manchen Betrachter irritieren, Finsterlinge wie die Diktatoren Hitler, Stalin, Pol Pot, Mussolini oder der römische Gewaltherrscher Caligula, der ägyptische Ketzerkönig Echnaton, der die Götterwelt umzustürzen trachtete, Sagengestalten wie Hagen von Tronje, einsamer Gralshüter vor dem Saal. In seinen Augen Archetypen, die für sich selbst stehen und für das Immergleiche herhalten müssen. Daneben, ebenbürtig, die Filmhelden, Dr. No, Conan der Barbar, Zed aus „Zardoz“, Alex DeLarge aus Kubricks „Clockwork Orange“, der Toecutter aus „Mad Max“. In Bild und vor allem auch Schrift sind die bei ihm stets gegenwärtig. Überhaupt sind die Meeseschen Sprachspiele eine wesentliche Triebkraft seiner Kunst. Er greift sich die Namen seiner Helden und versieht sie mit Vorsilben wir „Dr.“, „Saint“, oder „Erz“, um ihnen einen höheren Bedeutungshall zu verschaffen. Er schreibt abertausende Seiten voll fiebriger Augenblicksdichtungen, in denen es von der Ordensburg bis zur Zahnspange nur ein Zeilensprung ist und in denen es nach Herzens- und Gliederlust säftelt: Das Reich, in dem Milch und Samen fließen. Er kann sich wie ein kleiner Junge über den Begriff Bürgerwehr freuen und sich immer aufs Neue an dem Wort Staat aufreiben. „Staatsgottheit“, „Staatssatanismus“, neuerdings „Staatsbiologe“, irgendwo auch „Die Staatsverpimmelten“. „Vor dem Begriff Staat haben die Leute ja Angst, weil sie ihn politisch-ideologisch verstehen. Aber auch Eldorado ist ein Staat, schon als utopisches Prinzip, ein Körper ist ein Staat“. Er füllt ganze Bände – so den Zwickauer Ausstellungskatalog „Love like Blood“ – mit Fotos seines Konterfeis, auf denen Schlagworte wie „Volksgott“, „Triumphator Meese“, „Soldat Meese“ oder schlicht „Krieg“ prangen.

Wer nun bei all dem unter der Ironieoberfläche einen gelinden Größenwahn, gar den Galopp des Allmachtsphantasten wittert, der findet sich durch den Künstler bestätigt, wenngleich anders als gedacht: „Ich bin auch größenwahnsinnig – in der Beziehung, dass ich behaupte, es gibt kaum jemanden, der mit mehr Liebe zu Werke geht als ich.“ Liebe, das meint hier immer auch die amour seule. Ein charakteristisches, von Selbsthingabe durchwirktes Gemälde ist da etwa das Werk „Der Eimeese (2001/2002)“, das er vor zwei Jahren  in der „Contemporary Fine Arts“-Ausstellung „Young Americans“ präsentierte. Es zeigt den Künstler nackt mit androgynem Antlitz in einer embryonalen Blase, bedrängt von einem tierköpfigen Zwitterwesen mit eisern bekreuzter Brust und, natürlich, großem Phallus, mit wallend-weißem Haar und rotem Rock. Darunter, aufgesprüht, der Schüttel-Titel „Ei-Ei-Ei-Eimeese“ sowie „Fresse, Fresse, Pisse, Seele“. Ein anderes Bild, dem viele weitere ähneln, ist „Selbstgetreide – I am the walruß“ getauft und zeigt den Mann in seiner Adidas-Uniform (er besitzt zehn gleiche Jacken) – in Öl und auch sonst dick aufgetragen. Die Gesichtszüge markant bis martialisch, der Bart von Draculazähnen durchzuckt, die Augen schmalschlitzig und stechend. Die Egozentrifuge rotiert und wirft Kunst ab.

Anziehender als die Gemälde, weil in vielerlei Hinsicht berührender, sind seine Rauminstallationen. Die Frankfurter Kunsthalle Schirn hat Jonathan Meese unlängst die Einzelausstellung „Képi Blanc nackt“ gewidmet, wobei der Titel, kryptisch wie gewohnt, eine Anspielung auf die Kopfbedeckung der Fremdenlegionäre ist. Im Untertitel nennt sich die Schau: „Dr. NOs Diamantenplantage, des Phantommönchs Prärieerzhall, nahe den wässrigen Goldfeldern des Dr. Sau, dabei die Dschungelhaut über die Zahnspange des erntefrischen Geilmädchens ‚Saint Just’. (Der Planetenkiller Dr. Frau)“. Es ist eine Zusammenstellung von Werken aus der Hamburger Sammlung Falckenberg, im wesentlichen vier große Räume. Dazu Gemälde und, erstmals im Zusammenhang, zwölf Bronzeskulpturen. Im Katalog bauchpinselt Kurator Max Hollein den Goldjungen: „Ich glaube, wenn man viel Zeit in deiner Arbeit verbringt, werden bestimmte Dinge und Assoziationen in einem geweckt, die weit über das Gesehene hinausgehen. Seit langem hat mich eine Arbeit emotional nicht mehr so berührt.“

„Der Vaterraum (Daddy)“ präsentiert sich als eine Art Arbeitszimmer unter dem Motto „Verschwende deine Jugend“ und thematisiert tatsächlich die Abwesenheit des Vaters. Bestückt ist die Installation aus dem Lebensarchiv des Vaters von Harald Falckenberg, das Jonathan Meese zur freien Verwertung und Entfaltung übergeben wurde. Alte Spiegelausgaben stehen nun neben dem „Handbuch des Deutschen Kaufmanns“ im Regal, persönliche Fotografien hängen neben den obligaten Aufnahmen von Meese. Es gibt nur wenig Mobiliar, einen Schreibtisch mit Telefon sowie eine Reihe von hölzernen Maschendrahtgestellen voller Ordner, Bücher und dem Strandgut einer bewegten Existenz. An der Wand hängt ein Poster von Sean Connery als „Zed“ in „Zardoz“, eine brustbehaarte Vaterfigur mit Knarre und Patronengurten, an der Seite eines Regals heftet ein Transparent mit der Aufschrift „Erzmuttertum“. Und irgendwo dazwischen findet sich ein Stammbaum, der in „Jonathan Robin Meese“ mündet: Einsam für sich steht der Vater Reginalt Selby Meese, geboren in Newport, 1988 verstorben, daneben die Mutter Brigitte Renate Meese, geboren in Stuttgart, Mädchenname Wetzler, deren Familienchronik bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt wird. Jene Mutter, über die der Sohn sagt: „Sie ist die utopistischste Person, die ich kenne“, und die sein Werk wachen Auges begleitet.

Der Raum „Casino Royale, Goldenes Skelett“ hingegen vermittelt den Eindruck, als würde man durch eine Peepshow-Ritze in die Kopfgalaxis des Künstlers schauen und seine Lieblingsmarotten tanzen sehen. Privatobsessionen in der Kunst verachtet er zwar, das Lob einer „persönlichen Qualität“ von Arbeiten verursacht ihm Ekel. Aber hier geht es ja auch nur um wiederkehrende Motive. In einem Sammelsurium aus vergoldeten Spritzen, toten Fernsehern und Spielzeugpistolen prangen die favorisierten Worte von Erz bis Echnaton, da sitzen Schaufensterpuppen mit Getreidekronen unter Selbstporträtserien. An einer Wandseite leuchtet eine Sternentapete, Spielgeld liegt herum, auch ein Buch zur Geschichte des Mammons. Willkommen im Geld-All. Über dem mittleren von drei Betten schwebt ein ebenfalls vergoldetes Skelett, bizarr gekrümmt – von der Vergänglichkeit der himmlischen Dekadenz.

„Die Ordensburg Mishimoend (Toecutters Mütze)“ erscheint da vergleichsweise militärisch streng gegliedert. In der Mitte des Raumes erstreckt sich eine lange Reihe von Waschbecken wie in einem Kasernenbad, am Kopfende salutiert eine Soldatensilhouette, umrahmt vom Ausstellungstitel „Képi Blanc nackt“. Links und rechts befinden sich beschriftete Spinde. Stanley Kubrick residiert da neben Fritz Lang, Nero neben Caligula, Hitler neben Meese. Ein Waschraum des assoziativen Overkills.

Der mit Abstand schönste Raum aber ist schließlich das „Geheimzimmer“, „La Chambre secrète de BALTHYS par Jonathan Meese“. Der Ahrensburger hegt eine tiefe Bewunderung für den polnischstämmigen Maler Balthus, eigentlich Balthazar Klossowski de Rola, der wegen seiner erotischen Darstellungen junger Mädchen skandalisiert wurde. Ihm hat er auch das Bild „Die Erzkinder (Der junge Balthys und Selbstporträt)“ gewidmet, das Jonathan und Balthazar, der die Hand reicht, in trauter Eintracht zeigt. Immer wieder tauchen zudem die Initialen B.M in seinem Werk auf, was gleichsam, strebend nach dynastischen Verbindungen, für Balthys Meese und Brigitte Meese steht.

Das Zentrum des ungewohnt aufgeräumten Balthys-Zimmers, an den Wänden mit Meese-Gemälden behängt, bildet ein Tisch mit einem vollen Aschenbecher, einer Flasche Wein und zwei geleerten Gläsern. Daneben ein Sessel und ein Schaukelstuhl. Es sieht aus, als hätten sich die Herren soeben vom angeregten Dialog erhoben. Und es wirkt, als hätte der Künstler hier seinen vollkommenen Frieden gefunden. Endlich.

 

Eine Performance, keine Saalschlacht: Mr. Meeses Dying Circus

Jonathan Meese trägt einen Stahlhelm, einen schwarzen Ledermantel und eine Alienmaske, sitzt in einem Käfig und fuchtelt mit der Pistole. Er rüttelt am losen Gitter, aus dem Off dröhnt orgiastisches Gestöhn. Es ist das Versprechen eines exzessiven Zirkus. Meese hält eine Performance in seinem Kokain-Bühnenbild ab, es ist ein schöner Abend im März. „Die Verdammtin 1924 (Dr. Neutrallys). Kokain oder die dionysische Weisheit – Erzland, Saalland, Erntesaal“ hat er den Abend betitelt. Nietzsche schreibt: „Die dionysische Weltanschauung ist die Verherrlichung und Verklärung der Schreckmittel und Furchtbarkeiten des Daseins als Heilmittel vom Dasein.“ Alien-Meese reckt den Revolver und ruft: „Ihr könnt mich der Visionslosigkeit bezichtigen, indem ihr mich der Lächerlichkeit preisgebt!“ Vision, Traum, Utopie – auch dies sind Begriffe, um die er bis zum Schwindel  kreisen kann. Wie auch immer er sie begreifen mag, mit der Realität jedenfalls steht er auf Kriegsfuß. „Ich fasse es nicht“, skandiert er an einer Stelle, „die Leute schreien nach Realität, dabei haben sie alle Möglichkeiten, sie zu vermeiden – ich will nicht, dass mir einer die Knarre in den Mund hält“. Die kathartische Kunstsehnsucht, die da aufscheint, nimmt ja durchaus für ihn ein. Wer aber sind denn eigentlich all diese Leute, wer sind die „Fratzen und Rückgratlosen, die sich über ihre eigene Vernichtung wundern“, wer sind in seinem Kampf gegen die Visionslosigkeit, von der er beredt Zeugnis ablegt, die Gegner?

Die Performance nun schraubt sich in dionysische Selbstbefriedigung. Meese psalmodiert von einer Geheimgesellschaft, die er gegründet habe und deren Vorsitzender, Propagandaminister, Prügelknabe und Gott in einem er sei. Er zelebriert, bis er sich den lahmen Arm halten muss, den Nazigruß und grunzt ins Mikrofon. Er reitet mit einer Pappmachéfigur, einem hasenohrigen weißen Ritter mit Riesenphallus, über die Drehbühne, später tanzt er mit Skeletten auf dem Vulkandach des Eisernen Kreuzes. Irgendwann, so nach zwei Stunden, offenbart sich ein Zuschauer als Ignorant und ruft: „Kommt noch was Interessantes?“ Der Künstler horcht dankbar auf, beschimpft ihn als Pottsau und stellt ihm die Vernichtung in Aussicht. Es ist ein Moment, der an Kinskis Wutausbruch gegenüber einem bärtigen Pazifisten während seiner legendären Jesus-Tournee denken lässt („Jesus hätte eine Peitsche genommen und dir in die Fresse gehauen, du dumme Sau du!“). Werner Herzog beginnt mit dieser herrlichen Jähzorn-Passage seine Kinski-Dokumentation „Mein liebster Feind“. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass man in Jonathan Meese – und dies ist als Kompliment zu verstehen – nicht den ehrlich Verrückten sieht. Eher den Jungen, der im Schulunterricht Äxte und Hellebarden aufs Pult malt und ganz in der Fantasywelt seiner Lieblingsfilme aufgeht. Ein cinephiler Krawallero mit unüberschaubarer Videosammlung. Selbstverständlich laufen auch während der Performance wieder einige seiner Evergreens. Die Verfilmung der Nibelungen-Sage beispielsweise, Hauptaugenmerk auf den Teutonenhelden Hagen von Tronje. George Millers Endzeit-Epos „Mad Max“, das eine anarchische Faustrecht-Gesellschaft beschreibt, in der sich sadistische Rockerbanden und marodierende Polizisten bekriegen. Meese kommuniziert dabei mit seiner Lieblingsfigur, dem „Toecutter“, den er während einer Verfolgungsjagd heiter anfeuert. Im Hintergrund schließlich, wo in der Kokain-Inszenierung sonst „Zardoz“ zu sehen ist, wird Luchino Viscontis Familienchronik „Die Verdammten“ projiziert. Die Geschichte der deutschen Industriellensippe von Essenbeck, die sich durch Kollaboration mit den Nationalsozialisten zu sanieren versucht, tatsächlich jedoch ihren Abstieg besiegelt. Martin von Essenbeck, gespielt von Helmut Berger, taucht als Name neben den üblichen Verdächtigen ungezählte Male in Werken des Künstlers auf.

Ja, der Film ist Meeses Welt. Er hat vor einigen Jahren übrigens für Leander Haußmanns „Sonnenallee“ das Jugendzimmer einer hübschen Ost-Existenzphilosophin dekoriert, „Ur-Sartre“, „Feind“ und „Verrat“ sowie seinen damaligen Wahlslogan „Ahoi de Angst“ an die Wand geschrieben. Und selbst eine kleine Rolle übernommen – als, was sonst, Künstler, der während einer exzessiven Drogenparty der DDR-Jugend (Asthmakraut Halle!) hereinschneit und den schönen Satz spricht: „Ich brauche ein Zimmer für mein Happening“. Vielleicht ist ja wahrhaftig ein Schauspieler an ihm verloren gegangen.
 

Ortsgespräch in Berlin-Mitte: Sympathie de Large

Jonathan Meese ist ein ausnehmend freundlicher Mensch, geradezu hochsympathisch. So erfährt es jeder, der ihn zum Interview besucht. Aber kann man ihm trauen? Pitigrilli schließlich schreibt zu Recht: „Wer nicht in dem Betriebe steckt, glaubt, daß der Journalist ein bevorzugtes Wesen ist, weil die Theater ihm die Fauteuilplätze überlassen, die großen Künstler ihn duzen. Aber das Publikum ahnt nicht, daß alle diese Leute ihn in ihrem Inneren verachten. Alle denken über den Journalisten das Schlechteste. Und sie behandeln ihn gut, weil sie Angst haben vor der großen Erpressung oder der kleinen Niedertracht.“ Tja. Angeregt durch die unverfrorenen journalistischen Märchen des Kokainisten Tito Arnaudi würde es uns zumindest reizen zu kolportieren, wie wir Jonathan Meese in einem gotischen Gruft-Gewölbe unter Totenkopflüstern trafen, wo er auf einem mit Affenfell überzogenen Thron lümmelte, abwechselnd Bier und Äther trank und den baldigen Weltuntergang predigte, während sein Galerist ihm verschreckte Jungfrauen in Ketten zuführte. Aber nein, schnöde Wirklichkeit, wir begegnen ihm in seiner noblen Galerie in Berlin-Mitte, der „Contemporary Fine Arts“, in die er bester Laune hereingetänzelt kommt, eine zerbrochene Brille in der Hand. Er hat sie während der Performance getragen, es ist, wie er sagt, seine „französische Revolutionsbrille, Robespierre, du weißt schon“. Er führt in sein nahegelegenes Atelier und zeigt unter anderem ein Skulpturen-Paar, an dem er momentan arbeitet. Zwei Köpfe mit verzerrten Gesichtern, ein kleiner, vampirisch grotesk, ein größerer mit einem Hakenkreuz auf der Stirn. Seine Mutter und er selbst.

In Meeses Privatwohnung, ebenfalls unweit der Galerie, sieht es aus wie in einer seiner Rauminstallationen. In Arbeit befindliche Gemälde, Stapel von Magazinen, Berge von Obskurantistenliteratur. Der Künstler entschuldigt sich für die Unordnung und bittet, Platz zu nehmen. Also unerschrocken los.  


Portal Kunstgeschichte: Unlängst sollst du gesagt haben: „Jahrelang sah ich eine weite Ebene vor mir, jetzt hat sich ein Urwald aufgebaut“ – befindest du dich derzeit an einem Wendepunkt?

Jonathan Meese: Ja, der ist gekommen. Eine absolute Zäsur, in jeglicher Beziehung. Alles, wirklich alles steht jetzt zur Debatte. Neue Würfel, völlig neues Spiel. Als wäre ich fünf Jahre zurückgeworfen.

PK: Resultierend aus den Erfahrungen, die du in jüngster Zeit gesammelt hast?

Meese: Ja. Und auch aus dem, was man mit mir veranstaltet. All die Interviews, die Verhaltensweisen von außen, die Fragen, die sich stellen: Was ist Verrat, wer sind meine Feinde, was ist Feindschaft, welches Ziel wird verfolgt, was ist Gold? Alles steht zur Disposition, bis hinein in den privatesten Bereich.

PK: Du giltst nunmehr als „Enfant terrible der Kunstszene“. Ist dieses Etikett nicht im Grunde die schlimmste Form der Vereinnahmung, des Mainstreams?

Meese: Durch dieses Tal muss man durch. Durch das Tal der Fehleinschätzung des Verrates. Es ist ja auch letztendlich ein netter Begriff. Ich finde es nicht schlimm, wenn ihn jemand gebraucht. Aber man muss darüber hinweg kommen.

PK: Christoph Schlingensief dementiert seit Jahren fleißig, er sei ein Provokateur. Siehst du auch für die Gefahr, gegen die immergleichen Bezeichnungen anrennen zu müssen?

Meese: Nein, weil ich zu viele unterschiedliche Sachen mache. Ich kann einen Gedichtband herausbringen, eine Bronzeskulptur formen, einen Reisebericht oder einen Roman schreiben. Die Zelle ist aufgebrochen, alles ist jetzt möglich. Ich kann Porträts malen, eine Geheimsprache entwickeln, bis ans Ende meines Lebens Aktionen machen, Filme drehen, Hörspiele inszenieren oder prähistorische Staatsbücher schreiben. Es ist andererseits auch sehr verwirrend und problematisch, dass all das möglich ist.

PK: Ist das ein Neuordnungsprozess? In deinem Werk scheint es doch eher darum zu gehen, Ordnung zu vermeiden.

Meese: Nein, jetzt geht es darum, Ordnung zu schaffen, um die Sachen auf den Weg zu bringen. Denn die Sachen sind da, das habe ich jetzt endlich begriffen, sie wollen in die Welt. Ich habe immer gedacht, ich müsste noch ein Tor aufstoßen oder eine Wand einschlagen, aber die habe ich tatsächlich schon vor fünf Jahren eingeschlagen, das ist das Wunder. Damals schon fand die Geburt statt, das Baby ist bereits fünf Jahre alt, aber jetzt hören die Menschen es erst schreien.

PK: Deine Arbeit ist geprägt von Sehnsucht nach Radikalität. Wo aber ist Radikalität, wo ist Entgrenzung noch möglich, wenn alles konsensfähig wird?

Meese: Sie ist überall möglich, aber wir haben sie uns komplett abtrainiert. Gerade aus den Bereichen, in die sie naturgemäß gehört – Philosophie, Theater, Literatur, Kunst, Staatstheorie – haben wir sie verbannt. Wir wollen Radikalität ja nur noch in der Realität spüren und wundern uns dann, wenn wir zugrunde gehen. Das kann ich nicht nachvollziehen. Ich kann verstehen, dass jemand größenwahnsinnig wird und seine Anti-Realität in die Realität trägt, aber das sind ja meistens Einzelfiguren, die ihre persönliche Grenze oder die Grenze der Sache nicht mehr erkennen. Aber dass der Mensch so sehr nach dem realen Mord schreit, das ist mir ein Rätsel. Wir haben doch genügend Bereiche, in denen wir uns austoben können.

PK: Siehst du die Verbannung der Radikalität als schleichenden Prozess, oder wurde diese Austreibung in den letzten Jahren forciert?

Meese: Sehr forciert. Komplette Entmündigung. Wir sollen so dumm gehalten werden wie noch nie. Ich kann das ja nur für mein Leben überblicken. Ich dachte, es wäre schon die niederste Ebene erreicht, aber es geht immer noch tiefer. Man traut den Leuten ja überhaupt nichts mehr zu, das überlässt man jetzt immer anderen. Anderen Ländern, anderen Leuten, anderen Phänomenen.

PK: Ein Verlangen nach Größe, Tragik, auch Pathos – muss das unerfüllt bleiben? Liegt vielleicht im Scheitern die letzte Wahrhaftigkeit?

Meese: Ja, weil man danach wieder von vorne anfangen kann. Man muss das El Dorado gefunden haben, um zu erkennen, dass es entweder so schrecklich ist, dass man es zerstören will, oder so schön, dass man es auch nicht aushält. Man muss aber dahin gelangen wollen. Wer die Suche für nicht lohnenswert hält, der hat das Moby-Dicksche-Prinzip nicht verstanden. Ich sehe keine andere Möglichkeit: Dort ankommen, sehen: ‚Nein, das ist doch nichts’, weitermachen.

PK: Im Gespräch mit dem Direktor der Frankfurter Kunsthalle Schirn, Max Hollein, hast du gesagt, wenn du das Gefühl bekämest, du würdest Kunst produzieren, würdest du untergehen. Gleichzeitig bist du Teil des Kunstmarktes. Eine Schizophrenie, die du für den kreativen Prozess brauchst?

Meese: Die Leute sollen doch glauben, was sie wollen über das, was da produziert wird. Was sie bewirken, das müssen die Sachen selbst entscheiden. Ich bin ja nicht für jedes Getreidekorn verantwortlich, das auf diesem Planeten wächst. Wenn ich sage ‚Ich mache keine Kunst’, dann heißt das aber letztendlich nur, dass ich keine Rezepte habe, wie man sie herstellt. Ich habe keine Ahnung, keine Rechtfertigung, keine Basis, ich kenne kein Können, ich weiß nicht, wie man sich kleiden soll, wie man sich verhalten soll, ich weiß nicht was dazu führt, Kunst entstehen zu lassen. Ich glaube nicht an Kreativität, nicht an Phantasie, zumindest nicht als Garanten einer Kunstproduktion – das ist ein geheimnisvoller Prozess, für den wir keine Worte haben. Ich glaube, dass die Kunst sich selbst erzeugt und dann auch selbst entscheidet, was sie ist. Wir wollen der Kunst immer vorschreiben, was sie zu sein hat. Es gibt aber keine Verbote, nur persönliche Geschmäcker. Ein Bild von Picasso ist nicht deshalb Kunst, weil es kreativ ist oder der Phantasie entsprungen, schön oder hässlich, groß oder klein. Es ist auch gar nicht wichtig, dass ein Bildnis von Picasso gemalt wurde, wir glauben nur, dass dem so sei. Kunst braucht keinen Kontext, keine Geschichte. Deswegen werde ich wütend, wenn mir jemand erzählen will, was Kunst ist. Das weiß doch keiner, und es ist nicht schlimm, dass wir es nicht wissen. Einer der wenigen geheimnisvollen Lebensbereiche! Ich finde es gerade wunderbar, dass man nicht weiß, weshalb ein Porträt von Balthus so berauschend ist, oder warum Van Gogh ‚Dr. Kunst’ ist. Es schreit uns an, dass es Kunst ist, aber weshalb? Weil es Van Gogh gemalt hat, weil es einer bestimmten Technik entspricht, weil es gut war oder notwendig? Keine Ahnung! Deshalb sage ich: Man kann nicht schon im Vorfeld behaupten, man würde Kunst produzieren. Wer das tut, ist nach meinem Empfinden eine arrogante Sau. Entschuldigung.

PK: Kein Problem. Van Gogh ist ein gutes Stichwort. Kannst du mit dem Begriff des Genies etwas anfangen?

Meese: Ich finde den Begriff nicht schlimm, nicht so schlimm wie andere. Besser jedenfalls als ‚sozialkritisch’ oder ‚ein kontextgebundener Mensch’. Andererseits ist der Begriff natürlich auch nicht angemessen. Van Gogh beispielsweise hat ja etwas völlig Normales getan, der war normaler als alle anderen. Es ist eine der Lebensgesetzmäßigkeiten Van Goghs, dass er sich bestimmte Dinge nicht hat abtrainieren lassen.

Dass er wahnsinnig war, ist ein Märchen. Man könnte solche Bilder wie er ja gar nicht produzieren, wenn man wahnsinnig wäre. Dass man exzentrisch ist, oder böse, oder auch mal ein bisschen ausflippt, das wiederum ist in Ordnung, das hat aber nichts mit Verrücktsein zu tun.

Es gibt ja viele Menschen, die mir vorwerfen, ich sei zu pathetisch. Sagt mir bitte, was ich sonst sein soll! Flau, antipathetisch, antiradikal? Vielleicht bin ich antiradikal, aber ich habe doch wenigstens noch einen Traum!

PK: In der Frankfurter Ausstellung „Képi Blanc nackt“ gibt es den Raum „La Chambre secrète de Balthys par Jonathan Meese“.  Eine beinahe friedvolle Installation, es stehen darin auch zwei Sessel, eine geleerte Rotweinflasche, ein voller Aschenbecher. Siehst du dich im Dialog mit dem Vorbild Balthus?

Messe: Ich spüre eine große Sehnsucht, die aber nichts mit einem Dialog zu tun hat. Es ist eher ein weit entfernt Stehenwollen und Glücklichsein. Dankbarkeit. Durchaus in dem  Wissen, dass man Baltus damit nicht gerecht werden kann. Denn mir wird ja vorgeworfen, ich würde ihm nicht gerecht – das weiß ich doch selbst! Oder man bemängelt, dass die Bilder, die ich male, schlecht gemalt sind – habe ich je behauptet, sie wären gut gemalt? Da frage ich mich: Wollen diese Leute nur ihre eigenen Maßstäbe anlegen? Meine Maßstäbe haben leider in der Kunst überhaupt nichts verloren. Mit unseren kümmerlichen Maßstäben kommen wir der Sache auch nicht näher. Aber die Leute wollen ihre Meinung zu einem Gesetz erheben. Jeder kann schwach sein, doch daraus muss man kein Gesetz machen. Die Kunst schafft ihre eigenen Gesetze, sie formuliert sich selbst aus. Das ist Freiheit. Ihre Freiheit, nicht meine. Die Kunst ist frei, der Künstler nicht. Die Kunst tanzt ihren eigenen Tanz. Auch ohne uns. Also warum sind wir nicht ein bisschen demütiger?

PK: Hängt deine persönliche Affinität zu Balthus mit dem Gefühl von Geistesverwandtschaft zusammen?

Meese: Eher mit der Hoffnung, dass es eine dynastische Verbindung geben könnte.

PK: Du bist als Selbstporträt, oft in Form von Fotografien, fast immer in deinen Arbeiten präsent. Trotzdem stellt sich selten eine Ebene von Privatheit her. Ist das auch ein Schutz vor der Vereinnahmung durchs eigene Werk?

Meese: Viele glauben, ich würde in meinem Werk etwas Privates preisgeben, aber das ist tatsächlich falsch. Ich bin es sogar der Sache schuldig, meine privaten Obsessionen herauszuhalten. Die haben auch nichts mit dem zu tun, was gezeigt werden muss. Da sind wir wieder an dem Punkt, dass man aus seiner persönlichen Meinung kein ultimatives Gesetz machen sollte. Das kann man auf politischer Ebene versuchen, was meistens in der Tyrannei endet. Ist auch in Ordnung. Aber zu glauben, dass meine kümmerliche Perversion etwas Bedeutendes sein könnte, so durchtrieben bin ich noch nicht. Es gibt keine Privatheit der Kunst gegenüber, wenn etwas privat ist, kann es nie grundsätzlich werden..

PK: Deine Rauminstallationen überwältigen durch Überfülle. Wie groß ist deiner Erfahrung nach die Bereitschaft der Betrachter, sich dem Assoziationsrausch hinzugeben? 

Meese: Beim ersten Sehen gleich null. Für die meisten ist es da nur eine Ansammlung von Müll, die können die Struktur gar nicht erkennen. Dass die Installationen geordnet sind, das begreift man vielleicht beim dritten, vierten Mal. Es gibt natürlich geschulte Betrachter, die das anders sehen. Aber die meisten, die unvorbereitet hineingehen, kommen sofort wieder raus, weil sie nichts erkennen. Das hat man den Leuten auch schon abtrainiert. Die meisten wollen nur Mundgerechtes.

PK: Als du für Frank Castorfs Inszenierung „Kokain“ nach Pitigrilli das Bühnenbild entworfen hast, spielte die literarische Vorlage da für dich eine Rolle?

Meese: Ich habe mir vorgemacht, der Roman würde eine Rolle spielen, merkte aber bald, dass dem nicht so ist. Ich war vielmehr mit der Frage beschäftigt, was überhaupt ein Bühnenbild ist, und habe dann zu Formen gegriffen, die mir schon lange durch den Kopf geisterten. Es war der Versuch, etwas völlig Unabhängiges auf die Bühne zu stellen.

PK: Es ging also auch nicht darum, das Thema des Romans zu spiegeln, die Dekadenz, den Rausch?

Meese: Nein, es ging darum, ein ultimatives Bühnenbild zu schaffen, das für jede nur denkbare Aufführung gelten kann. Ein Symbol zu schaffen, das in sich die Dekadenz der Sache selbst ist. Glücklicherweise kam ich auf das eiserne Kreuz, das die ideale Form für eine Drehbühne ist. Wenn man mehrere Bühnenbilder macht, gelangt man vielleicht zu anderen Erkenntnissen, aber für mich war es ja das erste Mal, deswegen musste ich etwas schaffen, das der Bühne gerecht wird, der Sache, nicht dem Roman, nicht den Schauspielern, dem Regisseur oder der Inszenierung. Etwas komplett Freies, das nur Gesetz seiner selbst ist. Mir schwebte zunächst eine Kirche vor, aber diese Idee fand meine Mutter nicht interessant. Also verfiel ich zurück auf das Symbol des eisernen Kreuzes, das ich in meinen Arbeiten oft verwende. Danach dann haben sich die Dinge ergeben, etwa, dass eine Bar gebaut wurde.

PK: Hatte die Volksbühne als Ort Einfluss?

Meese: Es hätte jede Bühne der Welt sein können. Persönlich allerdings empfand ich Respekt und auch Angst, ich war ja zum ersten Mal in der Volksbühne, bin also ins kalte Wasser gesprungen und habe die Werkstätten, den gesamten Betrieb kennen gelernt. Unfassbar, dieses Monster, diese Maschine, davon wird man ja auf den Boden gedrückt! Und dennoch durfte ich mich nicht davon abbringen lassen, das zu liefern, was für die Sache notwendig war. Hätte ich es irgendjemandem recht machen wollen, wäre das katastrophal gewesen. Der große Gott ist ja eh der prähistorische Mensch Castorf. Dem musste ich etwas liefern, beziehungsweise der Sache. Was ja dann auch gut geklappt hat, aber es war wahnsinnig hart. Ich habe vier Monate lang im Ausnahmezustand gelebt.

PK: War es nicht ein vitaler Impuls, dein Bühnenbild, dieses „Getreidespeicher-Raumschiff“, wie du es einmal genannt hast, durch die Schauspieler belebt zu sehen?

Meese: Ja, ich fand es sehr angemessen. Ich habe gespürt, dass es richtig war. Unabhängig von der Reaktion der anderen. Vielleicht ist das aber auch nur eine Falle.

PK: Hast du ein Bewusstsein dafür, in einer Traditionslinie mit Künstlern von Picasso über Hockney bis Immendorf zu stehen, die für die Bühne gearbeitet haben?

Meese: In Traditionen zu stehen verheißt für mich nichts Schlimmes, im Gegenteil. Ich weiß bloß nicht, ob es wirklich eine Bedeutung hat.

PK: Mehr als das Theater scheint der Film dein Medium zu sein. Immer wieder „Zardoz“ von John Boorman, auch „Conan der Barbar“. Die Betrachtung dieser Filme hast du an anderer Stelle als „religiösen Akt“ bezeichnet – entdeckst du bei dieser fortwährenden Gottsuche noch Neues?

Meese: Ja. Auf jeden Fall.

PK: Kann sie denn je abgeschlossen werden?

Meese: Nein. Auf keinen Fall. Man lernt immer Neues dazu, wird immer präziser. Ein Film wie „Clockwerk Orange“ von Stanley Kubrick offenbart sich bei jedem Schauen komplett neu, legt immer wieder alles offen. In diesem Film, oder auch in „Zardoz“, habe ich noch nicht eine einzige Schwäche entdeckt. Das ist so überwältigend, dass man nur dankbar sein kann.

PK: Entspricht „Clockwerk Orange“ jetzt und hier deinem Gesellschaftsbild?

Meese: Meinem bestimmt nicht. Aber er entspricht dem Gesellschaftsbild, das er selbst repräsentiert. Das finde ich herrlich! Er ist deckungsgleich mit der Absicht, die er verfolgt. Ein Film, der sich vollständig selbst gerecht wird. Dieses Ding ist so geheimnisvoll, dass wir keine Waffe entwickelt haben, es zu entwerten, es ist nicht entwertbar.

PK: Während deiner Performance an der Volksbühne lief unter anderem der Film „Mad Max“, wobei du in den Dialog mit dem Bösewicht „Toecutter“ getreten bist. Hast du ein Faible für den Ungeliebten, den Antihelden als wahren Klarsichtigen?

Meese: Ja. Solange es uns nicht gelingt, die anderen Figuren präziser und interessanter darzustellen, müssen wir uns eben auf diese berufen. Die Figur „Toecutter“ ist ja tausendmal komplexer als „Mad Max“. Genau wie „Zed“ in „Zardoz“ oder „Dr. No“ im ersten James Bond. Wobei – James Bond ist schon sehr gut. „Dr. No“ ist aber besser. Deshalb gibt es keine andere Möglichkeit, als „Dr. No“ anzubeten. Man kann ja nicht, bloß weil es der Konvention entspricht, die präzisere Waffe ablehnen.

PK: Anbeten in einem religiösen Sinne?

Meese: Diese Figuren bringen einem ja nichts. Ich empfinde aber tiefe Dankbarkeit dafür, dass sie da sind, dass sie einem nichts nehmen und nichts geben. Die Figuren, die man nicht anbeten kann, nehmen einem ja immer etwas. Der „Toecutter“ oder „Goldfinger“ saugen mir keine Kraft ab, wenn ich sie anbete. Viele Götter tun das aber. Vor allem viele, die gar keine sind. Mit Kunst verhält es sich genauso. Kunst gibt nichts, Kunst nimmt nichts. Bei Religiosität ist das oftmals anders.

PK: Bei der Performance bist du zunächst in einer Alienmaske aufgetreten. Vermittelt Außenseitertum auch ein Gefühl von Geborgenheit?

Meese: Auf jeden Fall. In diesem Zustand ist man ja in sich selbst schlüssig, er ist der Sache angemessen. Wir machen uns vor, diesen Einklang durch Visionslosigkeit besiegen zu können, aber das funktioniert eben nicht. Und diese Wesen, diese Aliens haben ja immer eine Vision, auch wenn sie negativ ist, wenigstens haben sie eine! Wir haben ja noch nicht mal eine Anti-Vision. Schon die Begriffe sind uns zu pathetisch, wir überlassen sie anderen. Wir gebrauchen sie nicht mehr: Traum, Vision, Ideologie. Das ist alles von unserer Persönlichkeit abgespalten. Und wenn die Utopie in einer Alienmaske liegt, müssen wir das natürlich ablehnen, weil wir nicht damit leben wollen, dass dieses Ding uns auch vernichtet und zerfleischt.

PK: Wie lädst du für dich die Begriffe Utopie und Vision mit Bedeutung?

Meese: Indem ich schaue, wo überhaupt noch Utopie vorhanden ist. Das genügt ja schon! Wenn ich antiradikal bin, kann ich nicht gegen jemanden anreden, der radikal ist. Dann sind die Waffen derart unterschiedlich, dass man sich nicht mehr trifft. Man hat eine radikale Vorstellung und versucht sie dadurch zu entwerten, dass man sich die größtmögliche Harmlosigkeit abverlangt.

PK: Es gab während deiner Performance einen Kinski-artigen Moment. Ein Zuschauer rief „Kommt noch was Interessantes?“, du hast mit einer Schimpftirade geantwortet, ihn als „Pottsau“ attackiert. Ist das ein Genussmoment für den Künstler?

Meese: Ja, es weckt einen auf. Das kann wichtig sein. Ich fand es angemessen, aber genauso angemessen war es, dass der Mann dazwischen gerufen hat. Und mit der Beschimpfung habe ich ja auch zu mir selbst gesprochen. Sollte man sich nicht auspeitschen lassen von der Sache? Sollte man nicht Sklave sein, weil man so eine harmlose Fratze entwickelt hat? Welches Recht habe ich eigentlich, gegen etwas vorzugehen, wenn ich es gar nicht wirklich will? Warum lasse ich andere gegen irgendwas kämpfen, oder warum bin ich nicht in der Lage, Scheinkriege in der Literatur führen zu lassen? Warum bin ich nicht in der Lage, ein Buch gegen ein anderes Buch antreten zu lassen? Warum gibt es radikale Bücher, und warum wurden sie noch nie entwertet? Was ist mit „Mein Kampf“? Auch das ist eine Frage, mit der man umgehen muss. Und zwar offensiv. In der Defensive ist man vorab vernichtet.

PK: Suchst du während einer Performance auch den Erschöpfungszustand, den Moment, in dem alles kollabiert und keine Kommunikation mehr stattfindet?

Meese: Ja. Schon im ersten Satz. Ich versuche, völlig kommunikationslos zu agieren. Das, was zu sagen ist, ist ein Gesetz. Und wenn man kein Gesetz zu formulieren hat in einer solchen Situation, sollte man auch nicht sprechen. Es geht um etwas Abgeschottetes, um etwas, das der Sache gerecht wird. Auch wenn man nicht weiß, was die Sache ist. Sie ist vielleicht etwas Ideologisches, auf jeden Fall etwas Geheimes, noch nicht Ergründetes. Das große Mysterium sollte man anbeten, das ist doch wunderbar!

PK: Was ist denn das Gesetz in so einer Situation?

Meese: Das ist Saal-Abstraktion, Saal-Ideologie, das heißt, nichts Menschliches mehr, sondern es entwickelt sich eine Ideologie in einem Gegenstand, einer Sache. Es ist nicht entscheidend, dass ich es bin, der es ausspricht. Ich spreche auch stellvertretend, als Verkörperung von Ahab. Oder ich sage es als die gefährlichste Waffe von „Toecutter“. Vielleicht sogar als Jonathan Meese, aber bestimmt nicht als Selbstprojektion. Es ist eher eine gerechte Anmaßung.

PK: Musst du oft eine persönliche Schamgrenze überwinden?

Meese: Auf jeden Fall. Eigentlich suche ich die Figur, die erledigt, was letztlich doch ich machen muss. Ich bin pathetisch und auch propagandistisch: Sag dein Sprüchlein tausendmal auf, dann wird das Märchen vielleicht wahr. Du musst immer das gleiche sagen, das ist die Propaganda der Sache. Propaganda hat aber keine Botschaft und kein Ziel, sie ist ein selbstreferenzielles System. Eine Erntemaschine, die sich selbst speist, das ist das Entscheidende. Natürlich schäme ich mich, komplett, nur – was soll ich denn machen? Man geht mit einem großen Schamgefühl ins Bett, aber morgens steht man auf und sagt sich: Jetzt geht’s wieder los. Es macht ja auch Spaß, die Leute denken immer, es sei so ernst. Und man macht es aus Liebe. Das Ganze ist Liebe.

PK: Während der Performance hast du auch gesagt: „Die Leute schreien nach Realität, dabei haben sie alle Möglichkeiten, sie zu vermeiden. Ich will nicht, dass mir einer die Pistole in den Mund steckt!“ Gibt es die Trennlinie zwischen Kunst und Realität?

Meese: Ja. Das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun. Kunst braucht unsere Realität nicht, Kunst braucht ihre eigene Realität. Das haben wir immer verwechselt. Ein Bild ist immer ein Bild. Es ist ein Abbild des Bildes, aber nicht der Realität. Auch ein Foto wird immer nur ein Abbild sein. Das ist doch auch schön. Kunst braucht nicht den Kontext von Mode, Kunst ist ihre eigene Kritik in sich. Das hat nichts mit meiner Kritik zu tun, oder der Kritik der Menschheit, der Tierwelt, der Sterne oder der Außerirdischen.

PK: Wenn du auf der Bühne den Nazigruß bis zur Erlahmung zelebrierst, ist das bloß hohle Form, vorgeführte Bedeutungslosigkeit durch Übersättigung, oder die Suche nach der Überwindung des Oberflächenreizes?

Meese: Es hat mit sehr vielem davon zu tun. Und es ist auch Hilflosigkeit. Was soll man denn sonst bringen? Ich bin ja gerne bereit, eine andere Geste zu machen, ich frage mich auch, was noch kommen soll. Muss ich auf der Bühne masturbieren?

PK: Das wäre doch ein Schritt!

Meese: Aber auch das erschöpft sich.

PK: Die Figuren, an denen du dich aufreibst – Hitler, Stalin, Pol Pot – hast du als Archetypen bezeichnet, die auf ewig mit sich selbst deckungsgleich sind. Findet man die nur im Extrem?

Meese: Vielleicht sind sie ja gar nicht extrem, wir denken das bloß. Für mich ist das alles Normalität. Das Problem ist doch, dass diese Figuren immer für das gleiche herhalten müssen, wir erlösen sie nicht aus der Bezeichnung. Ich bin aber kein politischer Mensch, auch kein Anarchist, ich suche die Neutralität – die Performance hieß ja „Dr. Neutrallys“. Es geht darum, keine Dinge mehr zu erschaffen, die für etwas anderes herhalten müssen, für meine Meinung, meinen Geschmack, meine Ideologie. Man muss die Dinge in ihre eigene Selbstverständlichkeit entlassen. Hagen von Tronje hat begriffen, dass es bestimmte Dinge gibt, die es zwar zu verteidigen gilt, die mit ihm als Person aber überhaupt nichts zu tun haben.

PK: Wer sind die Gegner in dem Kampf, den du führst? Ist es nicht gerade das Problem, dass es tatsächlich gar keine Gegner mehr gibt?

Meese: Ja, die neuen Gegner fehlen, deswegen kehren wir immer wieder zu den alten zurück. Was heutzutage Utopie darstellt, das ist ein Gegner, weil man selbst keine Utopie mehr hat. Aber das sehen viele ja gar nicht.

PK: Immer wieder wirst du mit dem Begriff „pubertär“ belegt, du selbst hast darauf geantwortet, du befändest dich gar in einer vorpubertären Phase. Hast du keine Sehnsucht nach Wachstum?

Meese: Man sollte immer in sich hineinwachsen. Pubertär bedeutet einfach, dass man sich bestimmte Dinge nicht hat abtrainieren lassen. Man hält die Augen offen und nimmt wahr, was andere nicht mehr sehen wollen. Pubertär sein heißt normal sein. Van Gogh hat normale Sachen getan. Das hat nichts mit dem Alter zu tun, man kann auch mit 80 Jahren pubertär sein. Es ist für andere ein Negativbegriff, nicht für mich. Ich finde ihn wunderbar.

PK: Vielen Dank für dieses Gespräch.

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