KunstGeschichten

KunstGeschichte: Besessenheit

Kunst und Wahnsinn liegen immer nah beinander. Wo fängt das eine an, wo hört das andere auf? Erich Wurth mit einer neuen KunstGeschichte über die Kunst, ihre Exzentrik und Pathologien.

Die Wachau ist das Durchbruchstal der Donau durch den Granit der Böhmischen Masse zwischen Melk und Krems in Niederösterreich, etwa hundert Kilometer stromaufwärts von Wien.
Von der UNESCO zum Welterbe ernannt, zeichnet dieses Tal ein hohes Maß an Kunstwerken aus, besonderes sakraler Natur und überdies ein Klima, das den Weinbau sehr begünstigt. Und außerdem gedeihen dort Marillenbäume im Überfluss.

Aus diesen Aprikosen machen die Wachauer natürlich nicht nur Marmelade, sondern auch den sehr geschätzten Wachauer Marillenbrand. Und nachdem der Österreicher, insbesondere der Wiener, gerne Vergleiche mit leiblichen Genüssen benutzt, bezeichnet man jemanden, der „einen Sprung in der Schüssel“, beziehungsweise „nicht alle Tassen im Schrank“ hat hierzulande als „wachauerkrank“.
Damit möchte man ausdrücken, dass der betreffende Mensch „einen Wurm in der Marille“ hat. Und wurmstichige Aprikosen sind nicht gerade eine Delikatesse.
Friedrich Schrott war mit hoher Wahrscheinlichkeit wachauerkrank.

Von Zeit zu Zeit befiel ihn der Wahn, vom Geist eines Verstorbenen besessen zu sein. Und weil Friedrich Schrott Maler war, nahmen immer die Geister verstorbener Maler Besitz von seiner Seele.
Dieser Fritzi Schrott hatte tatsächlich ein phänomenales Talent. Wenn Leonardo da Vinci von seinem Geist Besitz ergriffen hätte, wäre er imstande gewesen, eine Mona Lisa zu malen, obwohl Porträts eigentlich nicht ganz seine Stärke waren.
Fritz verkaufte sogar einige seiner esoterischen Werke. Da gab es in der Leopoldstadt, in einer Seitengasse der Praterstraße einen Laden, der Esoterikartikel anbot. Von Räucherstäbchen über Tarot Karten, Bücher über esoterische Themen bis zu metallenen Pyramiden, die das Raumklima verbessern sollten. Und eine spindeldürre, beinahe zwei Meter große Dame, Frau Neffe, die den Laden besaß, hatte hier auch einige von Fritz Schrotts Bildern aufgehängt.
Ein plakatähnliches Schriftstück neben den Gemälden wies auf die Tatsache hin, dass das Medium Herr Friedrich Schrott diese Bilder unter dem Einfluss verstorbener Meister zustande gebracht habe. Und wenn man sich für eines dieser Werke interessierte, erzählte Frau Neffe in aller Ausführlichkeit über den medial so begabten, jungen Maler.

Eines Tages betrat Beate Fellner den seltsamen Laden der Frau Neffe. Nicht, um sich mit Esoterikmaterial einzudecken, sondern weil sie auf der Suche nach einem Dissertationsthema war. Beate war soeben im Begriff, ihr Studium der Psychologie abzuschließen und ein Studienkollege, der in der Praterstraße wohnte, hatte ihr den Tipp gegeben, sich doch einmal die durchgeknallten Bilder in dem Laden anzusehen.

Beate war beeindruckt. Sie war zwar keine Expertin, was Stilrichtungen und persönliche Eigenheiten der großen Maler anbelangt, aber immerhin verstand sie genug davon, um Werke von Malern mit eindeutiger Charakteristik ihren Schöpfern richtig zuordnen zu können.
Zufällig hing ein Bild da, das ohne weiteres hätte Vincent Van Gogh zugeschrieben werden können. Es war ein Ölgemälde in satten Gelbtönen, das eine flache Landschaft darstellte und man fühlte sich unversehens in Südfrankreich. Das war zwar keines der bekannten Werke Van Goghs, aber eines, das vollkommen seinem unverwechselbaren Stil entsprach.

Frau Neffe erzählte Beate, dass der Maler Schrott, als er ihr das Bild übergab, klagte, sein abgeschnittenes Ohr schmerze ihn. Aber seine Ohren wären beide vorhanden gewesen.
Beates Interesse war geweckt. Ob man mit dem Maler in Kontakt treten könne?
Herrn Schrotts Telefonnummer rückte Frau Neffe erst sehr spät heraus, als Beate ihr versicherte, sie wäre ausschließlich am Maler selbst interessiert, nicht an dessen Gemälden. Dieser Fritz Schrott könne möglicherweise ein lohnendes Objekt für ihre Dissertation abgeben. Aber um das zu entscheiden, müsse sie ihn persönlich kennen lernen.

Frau Neffe überlegte. Solche Dissertationen wurden ja im Allgemeinen von keiner Sau gelesen. Also würde sie nicht viel davon haben, wenn ihr Esoterikladen in einer so völlig uninteressanten Schrift erwähnt wurde. Und von einem Vorhaben, von dem sie selber nichts hatte, hielt sie nicht viel. Sie sagte also vorerst nein.

Doch Beate gelang es, die im Grund gutmütige Frau Neffe mit der „Mitleidsmasche“ zu überreden. Der Maler, dieser Schrott, wäre doch im Grunde ein armes Schwein. Wenn er von Geistwesen genötigt wurde, zu malen, was gar nicht seinem eigenen Stil entsprach, müsse man dem Mann doch helfen! Und sie, Beate Fellner, habe die Möglichkeit dazu! Wenn dann dieser Spinner geheilt wäre, könne Frau Neffe ja weiterhin Gemälde von ihm verkaufen. Und dass die Sache mit dem von seiner Besessenheit geheilten Maler in die Medien kam, dafür würde Beate schon sorgen. Das wäre dann doch eine erstklassige Werbung!

Daraufhin rückte Frau Neffe die Handynummer heraus.
Beate rief den Maler von einem ganz kleinen Café in der Praterstraße an. Sie erreichte ihn gemäß seinen Angaben in der Zentralbibliothek der Stadt Wien.
Beate stellte sich als Doktorandin der Psychologie vor. Sie hätte von einem Bekannten von Fritz Schrotts Zuständen der Besessenheit erfahren. Sie würde sich für dieses Phänomen interessieren und es möglicherweise zum Gegenstand ihrer Doktorarbeit machen. Ob Herr Schrott einer persönlichen Unterredung zustimmen würde?
Der Maler stimmte nicht nur zu, er war offenbar erleichtert, dass ihm jemand in dieser für ihn unangenehmen Sache beizustehen bereit war. Am liebsten würde er Frau Fellner sofort treffen, gestand er. Im Augenblick schien es ihm so, als ob der verstorbene Oskar Kokoschka Besitz von ihm ergreifen würde.

Beate war nicht mit dem Auto da. Sie sagte zu, sofort in die Zentralbibliothek kommen zu wollen. In spätestens einer Stunde wäre sie dort.
Das wäre schön, meinte Herr Schrott und er säße im dritten Stock und trage einen Jimi Hendrix Pullover.
Mit U1 und U6 schaffte es Beate in etwas über dreißig Minuten. Friedrich Schrott hielt sich tatsächlich im Lesesaal im dritten Obergeschoß auf und las einen Bildband über Oskar Kokoschka. In der Nähe des Eingangs, gleich links an einem Computerbildschirm sitzend – mit Jeans und schwarzem Pullover. Aufschrift auf dem Pullover: „I – die Zeichnung eines roten Herzens - Jimi Hendrix“.
Beate fand ihn somit auf Anhieb. Dann stand sie einem etwa fünfundzwanzigjährigen, leicht untersetzten Mann mit extrem kurzem Haarschnitt gegenüber, der ziemlich nervös wirkte.
Friedrich Schrott musterte die vor ihm stehende Psychologin eingehend. Schlank, brünett, ansonsten die üblichen Jeans und trotz des relativ warmen Wetters, halbhohe Stiefel. Der Gesamteindruck der angehenden Akademikerin wirkte auf Fritz recht positiv, obwohl er ihn nicht gerade vom Sessel riss.
Beate lud den Maler ins Café im Dachgeschoß der Bücherei ein und Fritz Schrott stellte den Bildband ins Regal zurück.

Als sie einander an dem kleinen Kaffeehaustisch gegenüber saßen, zwei kleine Mokka zwischen sich, fragte Beate rundheraus: „Jetzt erzähl’n S’ einmal. Wie merkt man das, wenn ein fremder Geist ins eigene Hirn will?“
„Na ja, da werd ich so nervös. Seit gestern bin ich’s wieder. Nur hab i net g’wusst, wer das is, der mir ins Hirn schlupfen will. Seit heut weiß i’s.“
„Wieso?“
„Na, heut früh hab i mir a paar Flaschln Bier aus’m Supermarkt g’holt, da waren zwei so Tschuschenweiber und die eine hat bei die Tiefkühlhendln umg’stiert. Und auf einmal nimmt die ein Hendl raus und sagt die ganz deutlich: ‚Kokoschka’. Und dabei hat s’ mi ang’schaut.“
Beate musste herzlich lachen. „Kokoschka ist Serbokroatisch und bedeutet übersetzt: Hendl.“
„Na, und wenn schon. Is mir wurscht. Das war ein Zeichen!“
„Und jetzt studieren Sie Kokoschkas Bilder“, stellte Beate fest.
„Klar! Von dem kenn i fast nix…“
„Wenn man seinen Stil treffen will, ist das tatsächlich wichtig.“
„I will net seinen Stil treffen“, protestierte Fritz Schrott. „Aber wenn mir ein Toter im Hirn sitzt, möcht i wenigstens wissen, wer des war!“
„Das versteh ich“, gab Beate zu. „Glauben S', Sie fangen demnächst an mit 'm Malen?“
Fritz nickte nur.
„Könnten Sie mich anrufen, wenn's losgeht? Ich würde da gern zuschauen“, sagte Beate gerade heraus.
„Vielleicht. Wenn's geht. Wenn mi der Kokoschka lasst“, sagte Fritz und Beate bemerkte, dass dieser junge Mann offenbar gar nicht damit einverstanden war, von einem verstorbenen Maler besessen zu sein... Allerdings fügte er hinzu: „Wenn Sie's net stört, dass' bei mir z' Haus ausschaut wie nach ein' Bombenangriff.“ Damit gab er Beate eine etwas schmutzige und zerknüllte Visitenkarte.

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Beate bedankte sich und versuchte noch eine kurze Zeit, mit dem Maler im Gespräch zu bleiben. Aber Fritz wirkte etwas geistesabwesend und im Moment gab es für Beate keinen Anlass, dem jungen Maler noch mehr auf die Nerven zu gehen. Sie hinterließ dem Fritz ihre Handynummer und verabschiedete sich.
Fritz Schrott meldete sich bereits am nächsten Tag. Beate war gerade in einer Boutique, um neue Jeans zu erstehen, als aus ihrem Handy die Glocken von Big Ben ertönten.

„Fellner“, meldete sich Beate.
„Oskar Kokoschka“, tönte es aus dem kleinen Lautsprecher. „Ich soll Sie anrufen.“
Im Moment war Beate etwas konsterniert. Sie hatte gerade eine Hose anprobiert, die ihr etwas zu kurz war und war mit den Gedanken natürlich ganz wo anders. Dann fiel ihr der verrückte Maler vom Vortag ein.
„Malen Sie schon?“, fragte sie.
„Porträt von ein' guten Freund“, sagte die Stimme am Telefon, die eigentlich ganz anders klang, als die Stimme von Fritz Schrott, die Beate noch gut in Erinnerung hatte. „Na ja, oft hab'n wir uns net 'troffen, aber a Fan war er halt“, erklärte die Stimme weiter.
„Ich bin schon unterwegs!“, versprach Beate, verließ das Textilgeschäft und ließ eine Verkäuferin zurück, die sich Vorwürfe machte, weil sie die Kleidergröße der Kundin falsch eingeschätzt hatte.
Um Zeit zu sparen, nahm sich Beate ein Taxi. Fritz Schrott wohnte in einem Neubau im zwanzigsten Bezirk, in einer Gegend, die von der U-Bahn nur mangelhaft erschlossen wird. Sie brauchte nur etwa zwanzig Minuten dort hin.
Fritz ließ sie ein und kehrte sofort an seine Staffelei zurück.
Als Beate ihm dorthin folgte, sah sie sich zunächst einmal in der Junggesellenbude um. Es schien eine kleine Zweizimmerwohnung zu sein und es sah tatsächlich sehr chaotisch aus, aber Fritz Schrott schien das nicht zu stören.
Dann allerdings sah Beate die Leinwand, die da auf der Staffelei stand. Mit den breiten, pastosen Pinselstrichen, die das Spätwerk Kokoschkas kennzeichnen, schien hier ein Gesicht zu entstehen, das Beate kannte.
Aber wer war das?

Das Gesicht enthielt auch rote, blaue und grüne Pinselstriche und erinnerte in seiner Art, die den Expressionisten zugeordnet werden konnte, ein klein wenig an Porträts von Van Goch. Aber es war ein bekanntes Gesicht. Verdammt, wer war das?
„Erkennen S' ihn?“, fragte Fritz. „Mein Zimmervermieter.“
Beate zuckte die Schultern. Wäre sie ein früherer Geburtsjahrgang gewesen, sie hätte es nicht getan.
„Ich kenn' ihn“, sagte Beate, „weiß aber nicht, wie er heißt.“
„Weil Sie zu jung san“, meinte Fritz. Und dann dozierte er: „Doktor Bruno Kreisky, 1911 bis 1990, Bundeskanzler von Österreich 1970 bis 1983 – und mein Vermieter. I hab aber nie in der Armbrustergasse 15 g'wohnt. Um die Zeit, um die's da geht, war i in Villeneuve am Genfer See z'Haus.“
„Herr Schrott!“, sagte Beate, „Was soll denn der Blödsinn?“
„I heiß' net Schrott“, sagte Fritz und arbeitete an seinem Porträt weiter.
„Darf i zuschauen?“, fragte Beate.
„Wenn's Ihnen net fad wird...“ Und konzentriert arbeitete Fritz weiter.
Als er die Stirn des alten Politikers mit breiten, grünen Pinselstrichen akzentuierte, murmelte er lächelnd: „Auch ein schlechter Ruf verpflichtet.“
„Wieso schlechter Ruf?“, fragte Beate.
Damit hatte sie anscheinend eine Schleuse geöffnet. Fritz Schrott begann zu erzählen, wobei er seine Arbeit aber kaum unterbrach.

Eigentlich war es nicht Friedrich Schrott, der erzählte, sondern Oskar Kokoschka. Er wäre seinerzeit aus Prag nach London geflüchtet, weil er als „entarteter Künstler“ galt. „417 Gemälde haben die Nazi, die G'fraster, konfisziert“, jammerte er. Er wäre sogar Hitlers „Kunstfeind Nummer eins“ gewesen!
Aber nach dem Krieg war es wieder bergauf gegangen. Seit 1946 britischer Staatsbürger führte er große Ausstellungen in Zürich und Basel durch und 1953 übersiedelte er mit seiner Frau Olda in das Städtchen Villeneuve in Waadt am Genfer See.
Erst 1971 gab es eine Retrospektive in Wien, im Schloss Belvedere – und bei dieser Gelegenheit lernte er den Bundeskanzler Kreisky kennen.
Kreisky, ein großer Bewunderer seiner Malerei, drängte ihn, wieder die österreichische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Kokoschka erklärte, er habe nichts dagegen. Aber die damalige Gesetzeslage erforderte es, dass sich Kokoschka selber aktiv um die Staatsbürgerschaft bemühe. Und das lehnte Kokoschka ab.
Hitler habe ihn nach England getrieben, argumentierte er. Freiwillig habe er nicht auf seine Staatsangehörigkeit verzichtet. Also wäre es nur gerecht, wenn der Staat Österreich sich um die Angelegenheit kümmere.

Doktor Kreisky war allerdings nicht der Typ, der wegen einer juristischen Formalität gleich klein beigab.
In den nächsten Monaten „bastelte“ er heimlich an einer „Lex Kokoschka“ und erreichte es, dass nicht nur der Betroffene, sondern auch Dritte eine Staatsbürgerschaft beantragen konnten. Allerdings war es erforderlich, dass der Einzubürgernde seinen Wohnsitz in Österreich hatte.
Also meldete Kreisky Oskar Kokoschka im März 1974 mit einem Schreiben an Stadtrat Kurt Heller als Untermieter in seiner Villa in Wien 19, Armbrustergasse 15 an. Kokoschka wusste nichts davon. Aber Ende März hatte Kokoschka seinen neuen Staatsbürgerschaftsnachweis.
„War a ganz schönes Schlitzohr, der Kreisky“, kommentierte Fritz seine Erzählung. Und dann fragte er Beate: „Na? Is das net der Kreisky? Da sagt er grad ganz langsam 'Ich bin der Meinung...' Mit dem Satz hat er immer ang'fangen, wenn man ihn was g'fragt hat.“
Beate war mehr als betroffen. Als Fritz jetzt schwieg und das Porträt nochmals genau ansah, rieselte es Beate kalt über den Rücken.

Wenn das stimmte, was der junge Maler da erzählt hatte, dann war es vielleicht doch so etwas wie Besessenheit? Woher sollte Fritz Schrott etwas darüber wissen, dass 1974 der damalige Bundeskanzler mit einer fingierten Anmeldung einem großen Österreicher seine staatliche Zugehörigkeit wieder beschafft hatte?
Das musste sie überprüfen!
Ein wenig überstürzt verabschiedete sich Beate. Fritz murmelte etwas von einem Kaffee, den er habe anbieten wollen, aber er hinderte Beate nicht, als sie darauf bestand, zu gehen.
Zu Hause setzte sich Beate an den Computer. Die Überprüfung des Lebenslaufes von Oskar Kokoschka bei Wikipedia ergab, dass Fritz Schrott offenbar die Wahrheit gesagt hatte, soweit die bekannten Tatsachen betroffen waren. Neu waren Beate Kokoschkas dramatische Arbeiten. Sie hatte nicht gewusst, dass Kokoschka auch Theaterstücke geschrieben hatte. Aber über die Staatsbürgerschaft Kokoschkas stand in dem Artikel nur, dass er britischer Staatsbürger geworden war.

Beate brauchte Hilfe. Sie beschloss, sich am nächsten Tag an die Behörden zu wenden.
Nun gibt es in Wien (wie wahrscheinlich überall auf der Welt) das Klischee vom engstirnigen, unwilligen Beamten. Und tatsächlich existieren noch immer eine ganze Menge Vertreter eines Menschenschlages, die drei Prinzipien im Umgang mit Kunden hochhalten: Der Beamte hat immer Recht, weil erstens: Das hamma immer schon so g'macht, zweitens: Da könnt' ja jeder kommen, drittens: Und überhaupt.
Mittlerweile haben aber auch Beamte ihren Dienst angetreten, die sich engagieren und sich bemühen, ihren Klienten tatsächlich zu helfen. Das Klischee stimmt also nicht (mehr) ganz. Trotzdem können Behördenkontakte immer noch eine dornenreiche Angelegenheit sein.
Als Beate am nächsten Tag den modernen Neubau in der Wimbergergasse, nahe der Burggasse, in dem die Magistratsabteilung 62, das Meldeamt, untergebracht ist, betrat, rechnete sie deshalb möglicherweise mit Problemen.

Der erste Beamte, an dessen Schreibtisch sie landete, war auch ein ganz typischer „Ärmelschoner“ alten Schlages: Ein altes, dürres Männchen, das man offenbar vergessen hatte, zu pensionieren.
Beate trug ihr Anliegen vor und fragte nach dem Wohnsitz des Malers Oskar Kokoschka, worauf das alte Männchen mit großen Augen fragte: „Tut dem net scho lang ka Ban mehr weh?“
Als Beate bestätigte, dass Kokoschka 1980 in Montreux verstorben wäre, fragte der Beamte: „Zu was wollen S' dann sei' Adress? Wird halt irgend a Friedhof sein.“

Seufzend begann Beate mit ihrer Erklärung. Als sie erwähnte, sie wäre Doktorandin der Psychologie und brauche die Adresse für die Bestätigung eines Experiments unterbrach der Beamte: „Wenn's um was G'studiertes geht, dann reden S' am besten mit'm Doktor Schlerka. I meld' Sie an.“
Tatsächlich empfing sie dieser Doktor Schlerka sofort in einem der Nebenräume. Er war ein gut aussehender, etwa vierzig Jahre alter Mann mit Sakko und Krawatte und schien den Typus des modernen Beamten zu verkörpern. Es mochte allerdings auch die Tatsache sein, dass Beate Fellner ausnahmsweise aus ihren üblichen Jeans heraus gestiegen war und ein konservatives Kostüm trug, die Doktor Schlerka veranlasste, freundlicher als üblich zu sein.

Beate schilderte wahrheitsgemäß ihr Problem. Bei der Erwähnung des Begriffes „Besessenheit“ zog Doktor Schlerka skeptisch die rechte Augenbraue hoch und murmelte etwas, aber er erklärte sich bereit, die Sache überprüfen zu wollen. Und nachdem Beate ja sogar mit dem ungefähren Zeitpunkt von Kokoschkas Anmeldung dienen konnte, versprach der Doktor, spätestens morgen die gewünschte Auskunft erteilen zu können. Den Zettel mit Beates Handynummer platzierte der Doktor demonstrativ sorgfältig in seiner Brieftasche.

Beate verließ das Gebäude. Jetzt konnte sie nichts weiter tun als warten. Und natürlich weiterhin versuchen, diesen spinnerten Fritz Schrott näher kennen zu lernen. Dessen Geisteszustand wäre natürlich besser von einem Psychiater kontrolliert worden, aber Beate wollte in diesem Stadium ihrer Untersuchung keine zusätzlichen Fachleute einschalten. Das sollte ihr persönlicher Erfolg werden.
Also rief sie den Maler einfach an.
„Schrott“, meldete der sich.
„Schrott? Nicht Kokoschka?“, fragte Beate.
„Der Oskar ist momentan nicht da“, sagte Fritz. „Kommt aber bald wieder.“
„Und Sie? Malen Sie gerade?“
„Ich bin in der Zentralbibliothek.“
„Und ich um die Ecke in der Burggasse. Können wir uns treffen?“
„Klar! Ich bin dort, wo Sie mich schon einmal getroffen haben.“
„Bin in fünf Minuten bei Ihnen!“
So lang brauchte Beate gar nicht. Friedrich Schrott saß wieder an dem selben Platz im dritten Stockwerk und las. Wiederum einen Bildband über Oskar Kokoschka. Den Buchtitel sah Beate, als Fritz das Buch schloss und beiseite legte.
„Ich werd' die Alma malen“, kündigte Fritz an und Beate schien es, als ob wieder Oskar Kokoschka aus ihm sprach.
„Welche Alma?“, fragte sie.
„Alma Mahler. Sie hat mich sitzen lassen und mit dem Gropius was angefangen. Später hat sie dann den Werfel geheiratet“, erklärte Fritz.
Und dann erzählte er Beate mit gedämpfter Stimme, dass er sich sogar eine lebensgroße Puppe aus Eisbärenfell habe anfertigen lassen, die Alma Mahler darstellen sollte. Lange habe er der Alma nachgetrauert, als sie ihn verlassen hatte. Erst in Prag, die Olda Palkovska, die habe ihn die Alma vergessen lassen. In einem Luftschutzbunker in London hätten sie geheiratet, mit Hochzeitsreise ins Kino an der Ecke...

Beate lief es wieder einmal kalt den Rücken herunter. Sie war beinahe davon überzeugt, dass Fritz tatsächlich vom Geist des verstorbenen Oskar Kokoschka ergriffen worden war. Diese Einzelheiten! Und das Geständnis, dass er eine Puppe habe anfertigen lassen! Das war doch ein mehr als intimes Detail! Welcher Mann heute würde wohl zugeben, dass er eine aufblasbare Geliebte hätte!
Dann riss sich Beate zusammen und begann, den Fritz auszufragen über seine Kindheit, seine Träume, kurz, sie versuchte, sich ein Bild vom seelischen Zustand des Fritz Schrott zu machen.
Da hatte sie aber keine Chance. Fritz benahm sich, wie es Oskar Kokoschka angestanden wäre. Er behauptete, in Pöchlarn, Niederösterreich, geboren zu sein. Dort gäbe es jetzt auch ein Oskar Kokoschka Haus, in dem Ausstellungen durchgeführt würden.

Beate gab es auf. Sie versprach, demnächst wieder anzurufen und fuhr nach Hause, um sich ihre Gedanken zum Thema Fritz Schrott zu notieren.
Als sie begann, Stichworte in ihren Laptop zu tippen, kamen ihr wieder Zweifel. Es gab drei Möglichkeiten: Fritz Schrott war tatsächlich besessen, Fritz Schrott war geisteskrank, oder aber Fritz Schrott spielte ihr etwas vor und verwendete die von seiner Person Besitz ergreifenden Geister als Argument, um seine Gemälde zu verkaufen.
Den ganzen Abend beschäftigte sie das Problem.
Am nächsten Tag erhielt sie einen Anruf von Doktor Schlerka.
Fritz' Erzählung über die Sache mit der Untermiete beim Bundeskanzler war tatsächlich wahr! Und Kokoschka hatte tatsächlich nicht gewusst, dass Kreisky ihn bei sich zu Hause angemeldet hatte!
Beate war echt erschüttert. Wie kam Friedrich Schrott zu dieser Information? Da war also offenbar tatsächlich etwas Übernatürliches im Spiel!

Trotzdem zweifelte Beate immer noch. Sie war nicht der Typ, den man mit esoterischen Tricks so leicht hereinlegen konnte. Irgendwie konnte ja Fritz trotzdem auf die Tatsache der Untervermietung eines Zimmers in der Kanzlervilla gestoßen sein.
Jetzt wollte Beate endlich die Wahrheit wissen. Sie überlegte krampfhaft, wie sie den Fritz Schrott dazu bringen konnte, endlich die Wahrheit zu sagen.
Er hatte doch etwas von einer Eisbärenfellpuppe erwähnt, die Kokoschka sozusagen als Fetisch der Alma Mahler – Werfel betrachtete, nachdem diese ihn verlassen hatte. Demnach war also Oskar Kokoschka weiblichen Reizen durchaus zugänglich. War es Fritz auch? Ob sie es damit versuchen sollte?
Immerhin, es war zwar nur ein Versuch, aber gerade in solchen Situationen bestünde die Chance, dass Fritz sich verplapperte.

Beate rief Fritz an. Der (beziehungsweise Oskar Kokoschka) war zu Hause und malte das Porträt der Alma. Sie wäre beinahe schon auf dem Weg zu ihm, kündigte Beate an. Und dann zog sie sich um und wählte einen bodenlangen, schwarzen Rock und eine weiße Bluse.
Diesmal nahm sie ihren Kleinwagen, der sie in nicht einmal dreißig Minuten in die Brigittenau brachte.
Fritz hatte die Staffelei diesmal neben seinem Schreibtisch aufgestellt, auf dem auch der Computer stand. Das Porträt war beinahe fertig. Beate betrachtete lange das Bild, das eine recht hübsche, etwa vierzigjährige, vollbusige Frau darstellte, die einen monströsen Halsschmuck trug. Das sehr breite Schmuckstück umschloss eng ihren gesamten Hals und zusätzlich hingen einzelne Steine von diesem Halsband herab. Und gemäß Kokoschkas Art, war das Gesicht in mehreren Farben ausgeführt.
„Die haben Sie geliebt, Herr Kokoschka?“, fragte Beate.
Fritz nickte.

Da begann Beate, sich die Bluse auszuziehen.
Fritz schaute ungläubig.
Beate schob einen zweiten Sessel zu dem von Fritz heran und setzte sich, in bodenlangem Rock und BH neben ihn.
Fritz sah Beate an wie eine Geistererscheinung. „Bin ich der Alma wenigstens ein bisserl ähnlich?“, fragte diese und machte Anstalten, den BH abzulegen.
Da sprang Fritz auf und verschwand mit den Worten „I bin sofort wieder da“ im Nebenraum.
Beate lächelte. Da hatte sie den Maler ganz schön durcheinander gebracht!
Während Fritz nebenan rumorte, fiel Beates Blick auf das Bücherregal neben dem Schreibtisch. Und besonders ein Titel sprang ihr ins Auge: Dietmar Grieser: Kein Bett wie jedes andere.
Beate stand auf und nahm den Band heraus, wahrscheinlich, weil dem Geräusch nach Fritz nebenan im Begriff war, das Bett neu zu überziehen. Und hier ein Buch über Betten. Amalthea Verlag, 1998. Schon die Kapitelübersicht war hoch interessant!
Fritz Schrott im Schlafzimmer arbeitete wie ein Berserker. Er hatte seit Wochen hier nicht mehr aufgeräumt. Und jetzt plötzlich diese unerwartete Gelegenheit! Aber so wie es hier aussah, konnte er die Beate unmöglich herein lassen.

Hin und wieder rief er hinaus ins Wohnzimmer: „Komme gleich! Sofort fertig!“, aber so rasch war der Saustall nicht zu beseitigen. Schmutzige Hemden lagen auf dem Boden, gebrauchte Kaffeetassen standen auf dem Nachtkästchen, Socken lagen unterm Bett. Verdammt! Da draußen saß eine bildhübsche junge Frau, die inzwischen ihren BH abgelegt haben musste, und er war hier mit den dringendsten Aufräumungsarbeiten beschäftigt! Ohne viel Federlesens stopfte Fritz alles in den Kleiderschrank.

Als Fritz dann gestresst die Tür zum kleinen Wohnzimmer öffnete, saß Beate in ihrem bodenlangen schwarzen Rock da, hatte tatsächlich ihre Brüste unbedeckt und las in einem Buch.
Als Fritz eintrat, sah Beate auf, legte das Buch beiseite, griff nach ihrem BH und sagte: „Fritz, Sie Schmähtandler! Ihr Oskar Kokoschka is a freche Lüge!“
Fritz sah, welches Buch Beate gelesen hatte und wusste, dass er verloren hatte.
Beate zog den BH wieder an und schlüpfte in ihre Bluse.
„I geb ja alles zu“, jammerte Fritz. „Aber erstens kann i meine Bilder nur verklopfen, wenn s' a Geist von ein' Prominenten g'malt hat – und zweitens hab i mir 'dacht, als Oskar Kokoschka hab i bei Ihnen mehr Chancen. Das Bild von der Alma Mahler hab i im Internet g'funden. Mit dem Rock da haben S' jetzt wirklich ausg'schaut wie die Alma Mahler - Werfel! Himmelfixnoamal! Dass i den Grieser net wegg'räumt hab!“

Beate lachte. Dietmar Grieser, ein in Hannover geborener Wahlwiener, veröffentlicht laufend Geschichten und Histörchen aus der Kulturgeschichte Wiens und in dem Band „Kein Bett wie jedes andere“ hat er „Möbel, die Geschichte machten“ aufs Korn genommen. Und darin steht die ganze Geschichte von dem Untermietzimmer Oskar Kokoschkas, das es gar nicht gab.
Fritz' Zerknirschtheit fand Beate allerdings so rührend, dass sie die Bluse dann doch noch einmal auszog und auch den BH wieder ablegte.

Und dann stellte Beate auch noch fest, dass dieser Fritz, das falsche Medium, in dieser kurzen Zeit sein Schlafzimmer doch noch ganz ordentlich hingekriegt hatte....

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