KunstGeschichten

KunstGeschichte: Christkindlmarkt

Der Zauber von Weihnachten: Ein platter Reifen auf dem Weg zum Wiener Christkindlmarkt entpuppt sich für Vanessa Hofstädter nicht als Unglück, sondern lässt sie einen Engel kennenlernen. Erich Wurth über Frieden, Besinnlichkeit, Kunst und Freundschaft.

Weihnachtsmärkte sind ein typisch deutsches Phänomen. Beinahe im gesamten deutschsprachigen Raum gibt es diese Einrichtungen – und zwar recht lange schon. Manche dieser Märkte haben es bereits zur Berühmtheit gebracht und in der Vorweihnachtszeit hat sich ein Besuch des prächtigen Weihnachtsmarktes in Nürnberg im gesamten süddeutschen und österreichischen Raum bereits zu einer Tradition entwickelt.

Dabei verfügt auch Wien über einen sehr alten Weihnachtsmarkt, der hier „Christkindlmarkt“ genannt wird.
Die Anfänge dieses Marktes gehen zurück auf das Jahr 1294, in dem Herzog Albrecht I. der Stadt Wien ein Privileg zur Abhaltung eines Weihnachtsmarktes gewährte. Damals diente dieser Markt vor allem zur Beschaffung von Fleisch für die Festtage und die näheren Umstände, wie diese frühen Märkte ausgesehen hatten, verlieren sich im Dunkel der Geschichte.

Die moderne Tradition des Christkindlmarktes beginnt mit dem Jahr 1626, als der Markt vor dem Dom zu St. Stefan abgehalten wurde. Dann wechselten die Standorte häufig. Auf dem Platz „Am Hof“ standen die Verkaufsstände einige Jahre, ebenso auf der Freyung, im 19. Jahrhundert wurden die Buden dann auf dem Neubaugürtel aufgebaut, auf dem Platz vor dem Messepalast (den ehemaligen Hofstallungen) und zuletzt hat der Markt seinen Standort im Rathauspark gefunden.
Es sind so etwa 150 Buden, die hier ihre Waren anbieten. Und das Allermeiste davon ist traditioneller Weihnachtskitsch.

Man muss sich schon gehörig Zeit nehmen, um in dem Gewühl vor den Verkaufsbuden die wenigen wirklich schönen Dinge zu finden, die man auch hier erstehen kann. Und man braucht Glück dazu.

Einer der Verkaufsstände, die neben Christbaumschmuck aus Glas, Weihnachtsengeln aus echtem chinesischen Kunststoff und Adventkränzen aus koreanischem PVC auch handgearbeiteten Schmuck aus natürlichen Materialien anbot, war der des Marktfahrers Siegfried Kettner.

Ganz im Hintergrund seines stattlichen Standes aus Holz, der sogar über einen Heizlüfter verfügte, gab es eine Reihe von Gestecken, die aus kleinen Tannen- und Fichtenzweigen bestanden und von Waldfrüchten ergänzt wurden. Diese Gestecke waren ganz natürlich zusammen gestellt und dufteten außerdem. Nach was sie dufteten? Nun, irgendwie nach „Weihnachten“.

Diese Gestecke wurden von Vanessa Hofstädter verfertigt, einer behinderten, vierundzwanzig Jahre alten Bewohnerin einer kleinen Ortschaft im westlichen Wienerwald.
Sie litt an einer speziellen Form von „Morbus Bechterev“, einer Krankheit, die ihre Wirbelsäule in Schüben unbeweglich machte. Sie selbst sagte, ihr Kreuz würde langsam „versteinern“. Und so weit war die Krankheit bereits fortgeschritten, dass sie sich nur mehr mit zwei Krücken außer Haus wagte.

Im Herbst sah man sie öfter mit ihren Krücken durch die Wälder streifen und sie hatte einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, in den ihre Funde zur Herstellung der Weihnachtsgestecke wanderten. Außerdem verfügte sie über einen „Greifarm“, der es ihr ermöglichte, Baumzapfen und ähnliche Funde vom Waldboden aufzuheben, dann das Bücken war ihr mittlerweile unmöglich geworden.

In ihrem Heimatdorf war Vanessa eine allgemein bekannte Persönlichkeit. Sie übte eine Tätigkeit als Telefonistin und Sekretärin im Gemeindeamt aus und der Bürgermeister weigerte sich, eine moderne Telefonanlage anzuschaffen, um ihre Tätigkeit nicht zu gefährden. Denn Vanessa war im Ort allgemein sehr beliebt. Sie war ständig freundlich zu allen Bewohnern und machte nicht viel Aufhebens um ihre Krankheit. Außerdem sah sie recht gut aus. Wenn ihre Unbeweglichkeit nicht gewesen wäre, hätten sich die jungen Mannsbilder im Dorf allesamt sehr um sie bemüht!

Ihr Handicap hindere sie aber nicht daran, abends ihre Gestecke zu verfertigen und auch ein wenig zu malen. Auch in der Malerei bevorzugte sie weihnachtliche Motive. Und dabei bemühte sie sich, ihre Bilder möglichst nicht kitschig werden zu lassen.

Meines Wissens nach hat noch nie jemand eine allgemein gültige Definition des Begriffes „Kitsch“ zustande gebracht. Aber Vanessa hatte darüber nachgedacht und war zu dem Ergebnis gekommen, dass es galt, gewisse abgedroschene Motive zu vermeiden und einer Überbetonung der Sentimentalität aus dem Wege zu gehen. Außerdem malte sie nie Weihnachtsmänner. Diese von der Firma Coca Cola zu Werbezwecken erfundene Vermengung des heiligen Nikolaus mit der Weihnachtslegende war ihr zutiefst zuwider. Besonders, dass man den in Kleinasien ansässigen Heiligen in eine rote, mit Pelz besetzte, winterliche Uniform gesteckt hatte!

Und so saß sie wieder einmal in ihrem Wohnzimmer am Arbeitstisch und malte. Eine winterliche Waldlandschaft, über der ein nur angedeuteter Engel wie eine Vision dahin schwebte. Und die Bäume, mit Schnee bedeckt, wirkten so friedlich, dass einem Betrachter wirklich warm ums Herz wurde.

Das war es, was sich Vanessa unter „Weihnachten“ vorstellte: Tiefster Friede über der Natur! Die stillste Zeit im Jahr, die Natur hielt den Atem an. Der Engel über den Bäumen symbolisierte nur die weihnachtliche Botschaft, dass der Erlöser geboren worden war.

Vanessa nahm sich die Einzelheiten des Temperabildes vor und malte die Äste der dargestellten Nadelbäume in allen Einzelheiten. Das Bild war im Format A4 gehalten und sollte dazu dienen, in der Vorweihnachtszeit die Gedanken auf das bevorstehende Fest zu richten.
Bilder verkaufte Vanessa nicht viele. Ihr Erfolg waren die weihnachtlichen Gestecke. Aber sie hatte eine ganze Anzahl von Bildern vorrätig und jetzt war es wieder einmal an der Zeit, ihre Werke nach Wien zu liefern. Vielleicht konnte der Siegfried ja ein paar davon an den Mann bringen.

Also nahm sie sich vom Bürgermeister einen Tag frei und wollte wiederum so etwa zwanzig kleine Temperabilder an den Siegfried Kettner liefern. Sie liebte es, sich einen Tag lang in Wien herum zu treiben und das vorweihnachtliche Flair auf den Straßen zu genießen.
An dem Tag, den sie für ihren Besuch in Wien vorgesehen hatte, war es sehr kalt. Es war leicht nebelig und es nieselte ein bisschen. Die Straßen waren zum Teil vereist, aber der Streudienst in der Nacht hatte funktioniert.

Vanessa machte sich gleich nach dem Frühstück auf den Weg. Ihre Gemälde steckte sie in den Rucksack und dann ging sie vorsichtig mit ihren Krücken zu ihrem kleinen Opel, der in der Nähe ihres Mehrparteienhauses abgestellt war.

Sie musste natürlich das Eis von den Fenstern kratzen, was gar nicht so einfach war, denn ihre Krücken waren dabei im Weg. Etwa zehn Minuten arbeitete sie, dann waren die Gläser frei.
Jetzt kam das Schwierigste: Sie musste auf den Fahrersitz. Dabei konnten ihr die Krücken kaum helfen und ihre völlig steife Lendenwirbelsäule machte die meisten Bewegungen zur Qual. Aber dann hatte sie es geschafft und sie bemühte sich, ihre beanspruchten Muskeln zu entspannen.

Die Krücken brachte sie im Fußraum des Beifahrersitzes unter - und dann ging es los.
Das Autofahren war trotz ihrer Behinderung kein Problem für Vanessa. Die Schwierigkeit bestand nur darin, auf den Fahrersitz zu kommen – und auch wieder hinaus. Aber da hatte Vanessa bereits ihre Tricks, es tat nur manchmal höllisch weh.

Sie fuhr, der Straßenverhältnisse wegen sehr vorsichtig, zunächst bis Eichgraben und dann über den kleinen Pass hinüber nach Pressbaum, wo sie auf die Autobahn auffahren wollte.
Aber so weit kam sie gar nicht.
Auf der leicht abschüssigen Strecke, die parallel zu den Gleisen der Westbahn zu der Unterführung östlich des Bahnhofes Rekawinkel führt, begann der Wagen plötzlich nach links zu ziehen. Die Lenkung ruckelte gewaltig. Vanessa schaltete die Warnblinkanlage ein, blieb stehen und stellte ihren Wagen rechts halb auf dem Bankett ab, wobei die rechte Seite des Fahrzeuges bereits in er angrenzenden Wiese stand. Ein Vorderreifen, vermutete sie. Es blieb nichts übrig, sie musste aussteigen.
Mühevoll angelte sie nach den Krücken und etwa zwei Minuten brauchte sie, bis sie neben dem Auto stand.
Es war der linke Vorderreifen und er war vollkommen platt.
Also Endstation. Vanessa konnte sich nicht bücken, also war es ihr unmöglich, den Reifen zu wechseln.

Sie hatte soeben ihre Krücken an ihr Auto gelehnt, das Handy hervor gezogen und wollte den Pannenfahrer ihres Autofahrerclubs verständigen, da hielt ein roter Sportwagen. Das Verdeck des Flitzers war zu gezogen und der Fahrer stellte den Wagen unmittelbar vor Vanessas Opel ab.
Dann stieg ein etwa dreißigjähriger Mann mit einem Sportsakko und mit Krawatte aus, kam auf Vanessa zu und sagte: „Kann ich irgendwie helfen? Was kaputt?“
„Patschen“, sagte Vanessa. „Und ich kann mich nicht bücken, i bin leider a Krüppel.“
„Ihre Krücken“, sagte der Mann. „Aber das wird doch hoffentlich wieder?“
Vanessa schüttelte den Kopf. „Vielleicht komm i noch a paar Jahr' ohne Rollstuhl aus“, sagte sie. „Morbus Bechterev, auch genannt Spondylitis ankylosans. Da versteinert einem das Kreuz.“
„Da wird man ja was dagegen tun können!“, sagte der junge Mann.
„Ja. Den Rollstuhl gut ölen“, lächelte Vanessa.
„Das sagen Sie so emotionslos?“ fragte der Mann.
„Hat ja keinen Sinn, wenn ich drüber heule. Kann's ja doch nicht ändern. Aber Reifen wechseln kann i auch net!“
„Das haben wir gleich“, sagte der junge Mann. „I bin übrigens der Max Pfeiffer aus Wien, der beste Reifenwechsler zwischen Scheibbs und Palermo.“
„Und i bin die Vanessa Hofstädter, die steifste Schießbudenfigur zwischen Neulengbach und Nebraska“, stellte sich Vanessa vor und öffnete den Kofferraum.

Das Reserverad herauszuheben brachte sie nicht zustande. Max tat es für sie.
Dann montierte er den Wagenheber, lockerte die Schraubenmuttern, überzeugte sich, dass die Handbremse angezogen war und kurbelte den Wagen hoch.
Venessa stand daneben und sah ihm zu.
„Das sind die Momente, wo ich es hass', ein Krüppel zu sein“, sagte sie. „Anderen Leut' bei der Arbeit zuschauen, das is es, was ich am besten kann!“
„Na, na, na“, machte Max.
„Und a bisserl malen vielleicht“, ergänzte Vanessa. „Und Weihnachtsgestecke machen aus Nadelbaumzweigen, Bockerln[1] und so Zeug.“
„Na, das is ja schon was“, sagte Max und hob das platte Vorderrad von der Nabe ab.
„Wenn Sie mir net g'holfen hätten, hätt i das Zeug mit der Post zum Christkindlmarkt schicken müssen. I tu mir nämlich schwer mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.“
„Dort verkaufen S' was?“
Vanessa nickte. „Bilder hab i mit“, sagte sie. „Eines kriegen eh Sie, als kleinen Dank für die Hilfe beim Reifen wechseln.“

Vanessa holte ihren Rucksack vom Beifahrersitz und entnahm ihm eines ihrer Gemälde. Max hatte keine Zeit. Er versuchte, das Reserverad auf die Schrauben zu stecken.
Dann war das Rad an seinem Platz und Vanessa hielt dem Max das Gemälde vor die Nase. Ein Temperabild auf Zeichenkarton im Format A4, mit einem Passepartout aus Karton.
Max stellte das Aufstecken der Schraubenmuttern ein und sah sich das Bild an. Relativ lang starrte er es an. Dann sagte er langsam und leise: „Das is von Ihnen?“
„Ja. So schlecht?“, sagte Vanessa.
„Im Gegenteil!“, beeilte sich Max zu antworten. „Das ist ganz großartig!“
„Ah, geh'n S'! Was soll da so toll sein?“
„Der Wald atmet Ruhe und Frieden. Sozusagen Advent. Die Stimmung haben Sie ganz fantastisch getroffen!“
„Na ja, da war i vorher drin im Wald, Bockerln sammeln. Für meine Gestecke. Und da war's wirklich friedlich drin. Nur 's Kreuz hat mir weh'tan.“
„Das tut Ihnen wohl häufig weh?“
„Eigentlich immer“, gestand Vanessa. „Aber da kann man nix machen.“
„Und wie ist das beim Auto fahren?“
„Geht so. Ein- und Aussteigen tut am meisten weh. Und bücken geht halt gar net. I bin ja so froh, dass Sie mir g'holfen haben.“ Max hatte nämlich die Schraubenmuttern bereits fest gezogen und das Auto stand wieder auf allen vier Rädern.
„Jetzt würd' ich Sie gerne einladen. Irgendwohin. Auf ein' Kaffee vielleicht. Sie interessieren mi' nämlich, mit Ihrer Behinderung“, sagte Max indem er sich die Hände an seinem Taschentuch abrieb.
„Nur, wenn ich Sie einladen darf! Für's Reifen wechseln“, begehrte Vanessa auf.
„Das heißt, wenn's Ihnen net zu schwer is mit'm Aussteigen! Sie haben ja g'sagt, das tut am meisten weh“, schränkte Max ein.
„Aber geh'n S, wenn i das net aushalt', darf i halt nimmer Auto fahren“, erklärte Vanessa lächelnd.
„Kennen Sie da was, wo man hingeh'n kann? I kenn mi da net aus“, erkundigte sich Max.
„Fahren S' hinter mir her?“, fragte Vanessa. Max nickte, worauf Vanessa ihre Krücken auf den Beifahrersitz warf und sich anschickte, einzusteigen.

Max assistierte ihr dabei ein bisschen, obwohl er keinerlei Erfahrungen mit dieser Tätigkeit hatte und nicht wusste, wie ein im Kreuz fast völlig unbeweglicher Mensch auf einen Autositz gelangen konnte. Vanessa setzte sich zuerst, drehte sich mühsam zur Seite und begann dann, ihre Beine in den Fußraum zu heben. Sie musste sich gehörig anstrengen dabei.
Aber dann hatte sie endlich die Füße an den Pedalen und schloss die Tür. Max stieg auch ein.
Hinter Vanessa fuhr er die wenigen hundert Meter nach Pressbaum und parkte den Wagen vor einer Bäckerei, an die ein kleines Espresso angeschlossen war.
Dort half Max Vanessa beim Aussteigen. Als sie ihre Beine im Freien hatte und quer zur Fahrtrichtung saß, griff er ihr unter die Achseln und zog das Mädchen einfach hoch, bis es auf den Beinen stand.

„Super, so a Ausstiegsservice“, lächelte Vanessa. „Sonst muss ich mich an den Krücken hochziehen!“
Max holte die beiden Stöcke aus dem Auto und dann gingen sie langsam zum Espresso hinüber.
Max empfand wieder Bedauern, als sich Vanessa umständlich an einen der kleinen Tische setzte. Sie benutzte wieder ihre Krücken dazu und offenbar verursachte ihr das Hinsetzen einiges an Schmerzen, denn ihr Blick schien das auszudrücken.

„Sie tun mir echt Leid“, sagte Max. „Und da gibt’s keine Therapie?“
„Es gibt kleine Hilfen“, erklärte Vanessa. „Schmerzpflaster zum Beispiel. Und viel Bewegung, auch wenn's weh tut. Aber Bewegung ist das Wichtigste. Da kann man die Entwicklung verzögern. Zwar nicht stoppen, aber der Rollstuhl kommt später.“
„Sind Sie in Behandlung?“, fragte Max.
„Klar! Zweimal in der Woche physikalische Übungen. Mach ich gar nicht gern, aber es nützt nix. Zähne zusammen beißen – und durch. Zusätzlich bin ich öfter im Wald. Das is mir wesentlich lieber als die Therapie.“
„Tut weniger weh...“, meinte Max.
„Nein. Eher noch mehr. Aber da denk' ich nicht dran! Im Wald is alles friedlich und schön.“

Max hatte das Gemälde der Vanessa in das Espresso mitgenommen. Jetzt nahm er es vom Tisch und sah es sich nochmals an.
„Das sieht man hier, wie Sie den Wald empfinden“, bemerkte er.
„Ich hoff' nur, andere Leut' sehn das auch“, sagte Vanessa. „Diese Buche zum Beispiel da im Zentrum. Der Baum is einfach schön! Egal zu welcher Jahreszeit. Aber sicher gibt's Leut', die das nicht so sehen.“
„Viele werden das anders sehen! Es gibt ja so viele Menschen ohne Sinn für Schönheit und Kunst“, pflichtete Max bei.
„Sie bezeichnen das als Kunst?“ Vanessa war wirklich erstaunt.
„Natürlich! Was soll denn das sonst sein?“
„Kitsch vielleicht“, sagte Vanessa.
„Dazu ist das Bild zu unsentimental“, erklärte Max. „Sie selber sind ja auch ganz unsentimental. Haben eine schwere Krankheit am Hals, keine Aussicht auf Heilung und gehen in den Wald und malen die schönsten Motive!“
„Na ja, Sie kennen ja nur das eine Bild. Wollen Sie die anderen sehen?“, fragte Vanessa.
„Ich bitte sehr darum!“
Vanessa griff nach ihren Krücken.
„Warten Sie! Haben sie die Bilder im Auto? Dann hol' ich sie schon“, sagte Max und stand auf.
„Danke schön! Auf'm Beifahrersitz is ein Rucksack. Können Sie mir den holen?“
„Sicher“, sagte Max Pfeiffer, übernahm von Vanessa den Autoschlüssel und verließ das Espresso.

Als er mit dem Rucksack zurückkam, packte Vanessa die Gemälde aus. Alle Bilder waren in Tempera und im Format A4, ohne Glas in einem einfachen Rahmen aus Karton aufgezogen. Genau so, wie es das Bild war, das Max bereits von Vanessa erhalten hatte.
Langsam wendete Max ein Blatt nach dem andere um und sah sich alle ganz genau an. „Großartig“, sagte er hinterher. „Die müssen doch weg gehen wie die warmen Semmeln“.
„Gestecke gehen ganz gut. Bilder nicht“, erklärte Vanessa.
„Ja, wieso denn das?“
„Keine Ahnung!“
„Vielleicht liegt's daran, dass die Leut' heute nichts mehr Schönes und Friedvolles anschauen wollen. Im Fernsehen wird hauptsächlich Gewalt gezeigt. Und Grauslichkeiten.“
„Ja, das wird’s sein“, sagte Vanessa nachdenklich. „Aber wir haben jetzt nur von mir g'sprochen. Erzähl'n S' mir doch was über Sie!“

„I bin uninteressant“, sagte Max Pfeiffer. „Ich arbeit' bei ein' Verlag. Wir machen Ansichtskarten und Kalender und Werbeprospekte. Alles net aufregend.“ Aber plötzlich schien ihm etwas einzufallen, denn er griff erneut nach den Bildern von Vanessa und sah sie nochmals der Reihe nach durch.
„Sagen Sie, Frau Hofstädter, malen Sie nur den Wald im Winter?“, fragte er plötzlich.
„Meistens. Das is für'n Christkindlmarkt! Da wär der Sommer net so ganz passend.“
„Könnten S' mir ein paar solche Waldansichten im Sommer malen? I denk da an ein' Kalender, zwölf Ansichten vom Wienerwald. Das könnt' ein Erfolg werden!“, sagte Max plötzlich.
„Gehn S', hören S' auf!“
„Na hören S'! Das sind wunderbare Bilder. Im Sommer müssten nur die Farben kräftiger sein und mehr Sonnenlicht zwischen den Bäumen! Und auch so friedlich. Auf das kommt's mir vor allem an!“
„Na, ich mach Ihnen ein paar“, sagte Vanessa. „Jetzt muss ich aber langsam weiter. Der Herr Kettner wird schon warten auf mich.“
„Ich bring Sie noch zum Auto. Zahlen bitte!“, sagte Max.
Dann half er Vanessa noch beim Einsteigen, überreichte ihr eine seiner Visitenkarten und dann fuhr sie davon.

Max Pfeiffer machte sich auch auf. Aber während der Fahrt in sein Büro dachte er immer wieder an Vanessa. Das Mädchen hatte ihn sehr beeindruckt. Hübsch war sie ja, aber auf rührende Art unbeholfen. Na klar, wenn einem das Rückgrat langsam „versteinert“ ist das wohl einzusehen. Aber ihre fröhliche Art, mit ihrer Krankheit umzugehen, war bewundernswert! Sie hatte nichts davon gesagt, dass Spondylitis ankylosans heilbar wäre. Nur vom „Rollstuhl hinauszögern“ hatte sie gesprochen.

Als Max auf die Autobahn auffuhr, kam ihm plötzlich die Erkenntnis, dass ihm viel an dieser Vanessa Hofstädter lag. Er hätte einiges drum gegeben, mit ihr enger befreundet zu sein.
Na, da konnte man ja was machen!
Max Pfeiffer fuhr nicht in sein Büro.
Als die Autobahn zu Ende war, blieb er auf der Wientalstraße, fuhr an Schönbrunn vorbei und dann die Schönbrunner Straße entlang bis zum Karlsplatz. Über den Ring ging es dann zum Rathaus und dort stellte er seinen Wagen in die Tiefgarage. Er wollte unbedingt den Christkindlmarkt besuchen.

Seit vielen Jahren war Max hier nicht mehr gewesen. Er wunderte sich erst einmal, als er die Straße betrat, die Rathaus und Burgtheater miteinander verbindet, dass hier so viele Handys und Tablet-Computer angeboten wurden. Früher hatte es da zwar auch allerlei gegeben, aber Süß-, Spielwaren und Weihnachtsschmuck hatten immer die Mehrheit des Angebots dargestellt.

'Moderne Zeiten', dachte Max und ging die Straße entlang, wobei er Ausschau hielt nach einer Frau mit Krücken.
Der Markt war noch nicht voll im Gang. Es war erst früher Vormittag und richtig weihnachtlich wird die Stimmung hier erst nach Sonnenuntergang. Die meisten Verkaufsstände waren nicht von Besuchern umlagert und die Verkäufer langweilten sich ein wenig.
Flott ging Max die Reihe der Stände entlang. Dann sah er ziemlich weit vorne am Ring eine Person mit Krücken. Max ging schneller.
Es war aber nicht Vanessa. Es war ein alter Mann. Max beachtete ihn gar nicht, machte kehrt und ging zum Rathaus zurück. Vielleicht hatte sich die Malerin verspätet. Er war immerhin auf der Autobahn ein flottes Tempo gefahren.
Diesmal zollte Max den Ständen, an denen er vorüber schlenderte, ein wenig mehr Beachtung. Es gab viel Neues hier. Ein Döner-Stand zum Beispiel wäre früher nicht denkbar gewesen.

Dann gelangte er zu einem relativ großen Holzstand an der rechten Seite der Straße und dort fielen ihm sofort die Bilder auf, die in einer Ecke der Rückwand hingen. Temperabilder im Format A4 mit Waldansichten. Ein relativ fülliger, älterer Mann stand in dem Verkaufsraum und aß soeben eine Wurstsemmel. Max trat heran und fragte: „War die Frau Hofstädter schon da?“
„Die Vanessa? Nein. Kommt die heute?“, fragte der Mann.
„Ja. Bilder liefern. Sie sind doch Herr Kettner?“, sagte Max.
„Höchstpersönlich“, stimmte der Mann zu. Dann deutete er auf die Bilder: „Sind eh noch genug da. Die Dinger gehen nicht so besonders.“
„Dabei sind die großartig!“, meinte Max. „Haben Sie eine Ahnung, warum die niemand will?“
„Zu friedlich, zu beruhigend“, sagte Kettner. „Heut' wollen die Leut' 'action'. Auf den Bildern is nix Aufregendes.“
„Zum Glück“, meinte Max. „Aber ich mach draus einen Kalender – und vielleicht sogar einen Bildband.“

„Einen Bildband? Sie meinen, ein Buch?“, fragte da eine weibliche Stimme hinter ihm. Es war Vanessa.
„Ich bin über die Mariahilferstraße g'fahren“, sagte sie dann. „Deshalb bin ich später dran. Dort staut es sich immer. Und besonders vor Weihnachten.“
„Das mit dem Buch muss i erst mit'm Chef besprechen. Aber der Kalender is fix!“, erklärte Max. Und dann fügte er hinzu: „Das is doch auch was Passendes für'n Christkindlmarkt!“
„Die Reifenpanne heut morgen hat mir anscheinend Glück gebracht“, meinte Vanessa fröhlich.
Und dann übergab sie Herrn Kettner die Bilder. Und Max rief seinen Chef an und nahm sich für den Rest des Tages frei.

Am Nachmittag flanierten sie durch Wien und sahen sich die weihnachtlichen Geschäfte an. Und Vanessa handhabte ihre Krücken mit einer Leichtigkeit, die Max sehr fröhlich stimmte.
Am Abend aßen sie in einem Innenstadtlokal und das veränderte vieles.
Seither sind Max und Vanessa sehr befreundet. Und Max überlegt sich mittlerweile, ob er mit der unkomplizierten, fröhlichen Vanessa nicht überhaupt seine Zukunft verbringen sollte. Der Rollstuhl hat seine Bedrohung für Max völlig verloren. Und wie Vanessa mit ihrer Krankheit zurechtkommt, das nötigt Max immer wieder Bewunderung ab.
Und seither hat der Advent für die beiden eine ganz besondere Bedeutung.

Anmerkung
[1] Tannen-, Fichten und Föhrenzapfen

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