KunstGeschichten

KunstGeschichte: Die emaillierte Uhr

Bereits seit Jahren ist der erfolgreiche Kleinkriminelle Ricardo Pawlik auf der Suche nach der emaillierten Uhr von Joseph Haydn. Aus dem Tagebuch vom Diener des Komponisten erfährt er, dass Haydn das kostbare Kleinod mit ins Grab nahm. Ob es Ricardo gelingt, die Uhr zu bergen, lesen Sie in der neuen KunstGeschichte von Erich Wurth.

Die Gürtelstraße in Wien ist zu jeder Tageszeit viel befahren. Die beiden von einem Grünbereich getrennten Fahrbahnen, auf dem im Nordabschnitt auch noch die Linie U6 verläuft, weisen jeweils drei bis vier Fahrstreifen auf und häufig kommt es zu kleinräumigen Stauungen vor den Verkehrsampeln.
Im Abschnitt, südlich der Brücke über die Wien, ist der Grüngürtel naturbelassen. Einige mit hohen Drahtzäunen umgebene Spielplätze für Basketball sind hier angesiedelt, aber im Allgemeinen dominiert ein schmaler Bereich mitten im verbauten Gebiete von Rasen und Buchschwerk. Das hängt mit dem Linienwall zusammen, der von 1704 bis 1894 die Stadtgrenze zwischen Wien und dem Umland dargestellt hatte.
Außerhalb des ehemaligen Linienwalls, zwischen den Straßenzügen Herthergasse und Flurschützstraße befindet sich der Haydnpark. Kaum jemand, der hier durchgeht oder auf einer der Bänke sitzt, erinnert sich allerdings daran, dass an diesem Ort der »Hundsturmer Friedhof« lag, der mit der Eröffnung des Zentralfriedhofes in Simmering aufgelassen wurde.

Im Jahre 1809 wurde hier Josef Haydn beerdigt. Unter der Anwesenheit mehrerer französischer Generäle. Denn Wien war von den Franzosen besetzt worden.
Der vierte Koalitionskrieg gegen Frankreich hatte der österreichische Kaiser Franz I angezettelt, der im Frühjahr 1809 Ostbayern einnahm.
Aber Napoleon reagierte rasch und energisch. Die Österreicher kriegten auf dem Vormarsch der Franzosen mehrere »auf den Deckel« und verloren alle Schlachten und Scharmützel, bis Napoleon Wien erreicht hatte und am 12. Mai mit dem Beschuss der Innenstadt begann.

Ludwig van Beethoven zog die Kopfpolster über die Ohren, um den Kanonendonner nicht zu hören.
Zwar wurde der Komponist langsam taub, aber die Artillerie vernahm er noch, bei der Übernachtung im Keller seines Hauses in der Rauhensteingasse.
Der Wiener Magistrat hatte den Hof gebeten, die Stadt den anrückenden Truppen kampflos zu übergeben, denn die Befestigungsanlagen waren in ziemlich schlechtem Zustand. Aber der Kaiser lehnte das ab.

Es wurden aber trotzdem nach kurzem Artilleriebeschuss am nächsten Tag, dem 13. Mai, die weißen Fahnen gehisst. Napoleon nahm Quartier im Schloss Schönbrunn.
Der siebenundsiebzigjährige Josef Haydn erlebte den Beschuss in seinem Haus in Gumpendorf. Er war schon sehr geschwächt, beruhigte aber seine Betreuer. Und am 31. Mai starb Haydn dann an allgemeiner Erschöpfung
Zwischen dem 18. und dem 22. Mai kam es bei Aspern, im Nordosten von Wien zwischen den französischen Truppen und der österreichischen Hauptstreitmacht zur Schlacht, die die Invasoren erstmals nicht gewinnen konnte und sich folglich zurück zog. Napoleons Ruf war zwar angekratzt, aber Wien blieb ein weiteres halbes Jahr lang noch besetzt.

Ricardo Pawlik verglich wieder einmal die Aufzeichnungen des Johann Elßler, Haydns letztem Diener und Kopisten, mit den Texten aus seinen historischen Lehrbüchern. Johann Elßler, der Vater der später berühmten Tänzerin Fanny Elßler, war der einzige, der über die Uhr berichtete. Aber es hatte alles seine Richtigkeit! Josef Haydn selbst dürfte die Uhr absichtlich nicht erwähnt haben.
Ricardo Pawlik (der wegen seines südländischen Aussehens so genannt wurde und eigentlich Richard hieß) kam nur durch Zufall zu den Tagebüchern des Johann Elßler. Er war seit jeher historisch interessiert und in einer kleinen, verkommenen Buchhandlung, an die auch ein Antiquariat anschloss, hatte er die vergilbten Blätter entdeckt, eingelegt in ein Buch, das die Reformen Josef des Zweiten beschrieb, die bereits alle zurück genommen worden waren, als das Büchlein erschien. Ricardo Pawlik hatte das Buch sofort gekauft und ursprünglich den Plan gehabt, die darin enthaltenen alten, handschriftlichen Aufzeichnungen irgendeinem Profi weiter zu verkaufen, der er es verwenden konnte. Eventuell konnte ja ein Journalist etwas damit anfangen.
Aber als Ricardo von der Uhr las, änderte er seine Pläne.

Es handelte sich um eine Taschenuhr aus Genf, hergestellt etwa um 1745 und in einem Gehäuse aus reinem Gold. Und der Deckel dieser Uhr wies ein Porträt in Emaillemalerei auf, das die »Kaiserin« Maria Theresia darstellte und das offenbar vom 1695 in Stockholm geborenen Hofmaler Martin van Meyten festgehalten worden war. Immerhin betrieb van Meyten in seiner Jugend die Emaillemalerei und für den Zaren Peter den Großen 40 Gemälde angefertigt. Später, am Hof Kaiser Franz Stefans hatte er dann hauptsächlich die kaiserliche Familie porträtiert und einige Gehilfen dabei gehabt.
Etwa um das Jahr 1770 hatte Josef Haydn diese Uhr aus den Händen von Maria Theresia erhalten, angeblich anlässlich eines Besuches der Kaiserin im Schloss der Esterhazys in Eisenstadt zu einem Konzert.

Maria Theresia war nie Kaiserin gewesen. Sie war alles Mögliche, Erzherzogin von Österreich, Königin von Ungarn und Böhmen - und noch etliches mehr, aber die Kaiserkrone hatte sie nie erhalten. Ihr Mann, Franz Stefan von Lothringen, war Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation, nachdem ihm Maria Theresia diese Krone 1745 verschafft hatte. Und weil es in Wien halt üblich ist, den Titel des Mannes auf die Frau zu übertragen, wurde sie als »Frau Kaiserin« bezeichnet. Wenn ein Herr Professor einen Putztrampel geheiratet hat, ist dieser ja in Wien fortan ebenso die »Frau Professor« und keiner fragt nach ihrer Intelligenz.

Der Grund, warum Ricardo wieder einmal in dem Tagebuch des alten Elßler blätterte, war die Tatsache, dass es jetzt endlich los gehen sollte. Nach den Angaben Elßlers hatte man die goldene, emaillierte Uhr dem Josef Haydn mit ins Grab gegeben.
Ricardo Pawlik wollte sie suchen. Übermorgen sollte es los gehen.

Dieser Ricardo Pawlik hatte sich bei allen seinen Studien bisher äußerst ungeschickt verhalten. Mangels einer eindeutigen Begabung hatte er vor Jahren mit dem Studium der Rechtswissenschaft begonnen, nach seinem Debakel bei der ersten Prüfung auf Archäologie umgesattelt und dabei festgestellt, dass die Fächer Griechisch, Hebräisch und Aramäisch für ihn unüberwindliche Hindernisse bedeuteten und sich schließlich mit dem Studium der allgemeinen Geschichte begnügt. Aber nachdem ihm bewusst war, dass zu einer Anstellung als Historiker wohl etwas »Vitamin B« nötig sein würde, denn außer beim Staat gab es für einen Historiker praktisch keine Chancen, bemühte er sich, anderweitig »kleine Geschäfte« zu machen. Diese waren zwar nicht immer gesetzeskonform, man benötigte für diese allerdings keine »Beziehungen«. Und Ricardo hatte keinerlei Bedenken, Cannabisprodukte und andere Partydrogen an gewisse, einschlägig bekannte Kreise zu veräußern. Das Geschäft lief übrigens ganz gut!
Aber die Sache mit der Uhr war eindeutig ein größerer Posten! Konnte ein schönes Startkapital bedeuten!

Das meinte auch die Rita. Die Freundin des Herrn Pawlik, Rita Vassilakowa, stammte aus Südserbien, gab eine Verwandtschaft in Mazedonien vor und arbeitete in der Stadtverwaltung. Und außerdem verfügte sie über rabenschwarzes Haar und eine ausgezeichnete Figur. Ricardo Pawlik vergötterte seine (trotz einer leicht störenden Narbe auf der Stirn) schöne Freundin, die ebenfalls manche Regeln des Staates für überflüssig und hinderlich hielt.

Dass die Uhr noch in dem alten Grab auf dem ehemaligen Hundsturmer Friedhof sein musste, das schloss Ricardo aus der Geschichte über Josef Haydns Schädel.
Zunächst hatten die Fürsten von Esterhazy wenig Interesse an ihrem ehemaligen, genialen Angestellten Haydn. Aber durch die Bewunderung des 1. Duke of Cambrigde veranlasst, verfügte Fürst Nikolaus der Zweite im Jahr 1820 die Überführung von Haydns Leichnam in die Bergkirche nach Eisenstadt. Als das Grab geöffnet wurde, fehlte der Schädel.
Josef Haydn wurde daher ohne Kopf in Eisenstadt neuerlich beigesetzt.
Der fehlende Kopf war zunächst verschollen, tauchte aber übrigens wieder auf!
Nachforschungen ergaben, dass der Sekretär des Fürsten Esterhazy, Joseph Carl Rosenbaum, ein Anhänger der Schädellehre des Franz Joseph Gall war und die Totengräber bestochen hatte. Acht Tage nach der Beisetzung wurde Haydns Grab nochmals geöffnet und der Schädel gestohlen.
Viele Jahre später, nämlich 1895 gelangte der Schädel nach einem wechselvollen Schicksal in den Besitz der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, nachdem ihn auch der Professor Julius Tandler untersucht hatte. Erst 1954 wurde die Reliquie in einem Festzug von Wien nach Eisenstadt gebracht und die Grabesruhe des Komponisten Haydn wieder hergestellt.

Ricardo Pawlik kannte diese Geschichte in allen Einzelheiten. Doch nirgends wurde die Uhr erwähnt!
Dass Joseph Carl Rosenbaum den Leichnam genau untersucht und die Uhr gefunden habe, das schloss Ricardo aus. Der Grabraub musste heimlich bei Nacht geschehen sein und niemand würde wohl die Taschen eines Leichnams durchwühlen. Allerdings musste eine genauere Untersuchung bei der Überführung nach Eisenstadt erfolgt sein. Aber da wurde kein Fund erwähnt!
Außerdem hatte der alte Johann Elßler in seinem Tagebuch festgehalten, dass die Uhr vor der Beisetzung Haydns ins Grab versenkt worden war! Daraus schloss Pawlik, dass man auf dem Grund des offenen Grabes die Uhr deponiert – und wahrscheinlich mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt hatte.

Schon oft hatte der verkrachte Student Pawlik seither über die Gründe dieser ungewöhnlichen Vorgangsweise gerätselt. Sie waren ihm nämlich völlig unverständlich! Warum hatte der alte Elßler die Uhr nicht behalten? Für so einen Gegenstand hätte er doch einiges lukrieren können! Jeder im Adel wäre bereit gewesen, für eine goldene Taschenuhr mit einem Emaillebild Maria Theresias von Martin van Meyten eine schöne Summe springen zu lassen!
Auf den Gedanken, dass Johann Elßler bemerkt haben könnte, dass die Uhr seinem Chef Haydn sehr am Herzen lag und er deshalb die Uhr im Grab wissen wollte, kam er gar nicht.
Aber jetzt würde er sich das Kunstwerk beschaffen und dann – er dachte an eine Versteigerung bei Sotheby's. Dann hätte er wahrscheinlich für einige Jahre ausgesorgt!

Am folgenden Dienstag sollte es los gehen.
Rita hatte einige Absperrbänder aus Kunststoff besorgt und das Polizeikommissariat Meidling davon in Kenntnis gesetzt, dass das ehemalige Grab Josef Haydns archäologisch untersucht werden sollte. Die Polizei nahm das zur Kenntnis. (Lediglich Inspektor Wanz hatte gemeint: »Für so an Blödsinn is Geld da!«)
Und Ricardo Pawlik verfertigte auf seinem Computer einige Hinweistafeln, die in Plastikfolie eingehüllt bei den Absperrungen aufgestellt werden sollten: »Archäologische Untersuchung. Betreten der Baustelle verboten.«

Am Dienstag rückte um sieben Uhr Rita im Haydnpark an. Mit ihr kam Roli, ein Typ den Ricardo im Zuge seiner Drogenverkäufe mitunter beschäftigte und auf dessen Verschwiegenheit er sich verlassen konnte.
Die Absperrbänder wurden befestigt und dann schwang Roli »den Krampen«, um die bereits ziemlich verfestigte Erde zu lockern.
Die erste Stunde verlief ereignislos. Ricardo achtete darauf, dass Roli den gesamten Raum, auf dem sich das Grab befunden hatte, gleichmäßig bearbeitete und das Erdreich auf einem Haufen neben der Grabstätte aufschichtete.
Dann wurde Roli etwas langsamer. Er war müde. Ricardo griff zu dem Werkzeug und Rita schaufelte die von Ricardo heraus gehackte Erde beiseite.

Dann näherte ein Polizist sich den drei Arbeitenden. Es war Inspektor Wanz, der nachsehen wollte, was es denn da zu erforschen gab. Als erstes stellt der Polizist fest, dass die junge Frau mit den dreckigen Jeans, die da schaufelte, erste Qualität war. Folglich schaltete Inspektor Wanz sein Gehaben als kompetenter Freund und Helfer ein und begann, auf Teufel komm raus zu flirten.
»Na, schöne junge Frau, was gibt’s da so Interessantes zu untersuchen?«
Rita fühlte sich überrumpelt. Jetzt musste sie also einen Grund für die Grabung erfinden.
»Uns interessiert die Bestattungsmethode unter Kaiser Franz«, log sie. »Sie wissen ja, Haydn wurde 1809 begraben, da haben die Bestimmungen von Josef dem Zweiten nicht mehr gegolten. Wir wollen wissen, ob trotzdem damals noch die Gräber mehrfach belegt wurden.«
»Aha«, sagte Inspektor Wanz. »Warum ist denn das wichtig?«
Jetzt schaltete sich Ricardo ein, der es überhaupt nicht amüsant fand, dass da ein hergelaufener Polizist seiner Rita den Hof machte. »Mozart wurde im Dezember 1791 begraben«, sagte er, »und das Grab ist heute nicht mehr eindeutig zu identifizieren. Das war 18 Jahre vor Haydns Begräbnis. Wir wollen wissen, was sich in den 18 Jahren geändert hat. Kulturhistorisch sehr interessant!«
»Ja. Für so was is Geld da«, murrte der Inspektor. »Für a neue Kaffeemaschin' im Kommissariat aber net! Seit drei Monaten saufen mir den miuserablen Löskaffee, weil die alte Maschin' die Patschen g'streckt hat.«
»Schaun Sie, Herr Inspektor, wir arbeiten da nur zu dritt. Damit man Geld spart! Da könnte man auch für die oberen Erdschichten ein' kleinen Bagger einsetzen. Nein, zu teuer!«, beschwerte sich Ricardo. Tatsächlich hatte er daran gedacht, einen kleinen Bagger zu verwenden, es aber dann bleiben lassen, weil er möglichst wenig auffallen wollte.
»Ja, jeder hat so seine Sorgen«, sagte der Inspektor weise, sah sich noch einmal um und hob dann die Hand an seine Mütze. »Küss die Hand, schöne, junge Frau«, sagte er noch und ging in der Richtung auf den viel befahrenen Margaretengürtel davon.

Zwei Stunden später war das Grab bis auf etwa einen Meter Tiefe ausgeschachtet. Nur Erdbrocken kamen da aus der Grube, manchmal kleine Steine. Aber nichts sonst. Ricardo fluchte ein bisschen, weil er nicht wusste, wie tief man Haydn begraben hatte. Es konnte noch etwa einen Meter tiefer gehen, bis man auf die Erdschicht stieß, in der die Uhr vergraben war.


Da stand plötzlich ein Mann in einem orangen Overall neben dem Grab. »He, Sie da! Da können S' net den Aushub her schmeißen! Da grab' ma a Künetten auf. Weg mit dem Zeug!«
»Na, glauben S', wir schaufeln den Haufen jetzt woanders hin? Nur damit Sie da grufteln können?«, fragte Ricardo provokant.
»Klar! Da kommt a Kabel rein. Da muss Platz sein!«
»Dann schaufeln S' selber«, forderte Ricardo auf. »Was soll überhaupt a Kabel auf'm alten Hundsturmer Friedhof?«
»Datenleitung für die Signale an der Hauptbahnhofzufahrt«, dozierte der Mann und deutete nach Süden auf die Trasse der Bahn zwischen den Bahnhöfen Meidling und dem neuen Hauptbahnhof. »Und ob da früher a Friedhof war, is uns wurscht.«
»Aber uns net! Da werden archäologische Arbeiten g'macht!«, sagte Ricardo.
»Können S' ja! Die Datenleitung geht eh da am Grab vorüber«, erklärte der Mann.
Roli stand in der Grube und sah den orange gekleideten verständnislos an. Da näherte sich vom Parkeingang an der Flurschützstraße ein kleiner Schaufelbagger auf Rädern.
Rita legte die Schaufel beiseite und kam zu dem Mann mit dem Overall. »Sie können doch mit dem Bagger die Erde von da weg bringen«, sagte sie. »Das dauert keine fünf Minuten und uns is g'holfen damit.«
»Das geht doch uns nix an«, begehrte der Mann auf. Aber Rita sagte zu Roli: »Roli, die Erde schmeiß da rüber. Nimmer auf den Haufen!«
»Wenn wir jetzt den Dreck da wegräumen müssen, dauert das gut a Stund'. Und wir sind nur zu dritt! Und arbeiten müss ma auch da. Wir werden sonst net fertig!«
»Haben S' net g'wusst, dass da auf'graben wird?«
»Aber woher denn! Uns hat niemand was g'sagt!« Während Rita so antwortete, ging sie langsam auf den sich nähernden Bagger zu. »I werd einmal den Baggerfahrer fragen, ob er das machen kann, die Erde da weg bringen.«
»Das hab i zu entscheiden«, meinte der Mann im orangen Overall und kam mit Rita mit. Ricardo wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Zwei Minuten danach legte er die Schaufel weg und sah hinüber zum Schaufelbagger, an dem Rita und die beiden Männer vom Bautrupp angeregt diskutierten. Was hatten die da zu besprechen? Ricardo wurde ein wenig eifersüchtig. Jetzt legte der Fahrer des Baggers seinen Arm um Ritas Schultern. Na, das ging natürlich nicht!
Ricardo war soeben aus dem Grab heraus gestiegen, da bewegte sich der kleine Bagger auf ihn zu und Rita und der Vorarbeiter mit dem orangen Overall kamen daneben her. Ohne weitere Verzögerung begann der Bagger, das Erdmaterial neben der Grube mit seiner Schaufel aufzunehmen und auf die andere Seite der Grabungsstelle zu bringen. Ricardo grinste und griff wieder nach der Schaufel.

Eine halbe Stunde später war der Bagger im Begriff, die Künette für die Datenleitung auszuheben, der Erdhaufen neben dem Grab war auf die andere Seite geschafft worden. Ricardo und Roli waren jetzt etwa eineinhalb Meter ins Erdreich vorgedrungen. Es wurde Zeit, vorsichtiger zu arbeiten um die Uhr nicht zu beschädigen. Dass sie da irgendwo in der Erde sein müsse, daran zweifelte Ricardo nicht.
Zu dritt gruben Ricardo, Rita und Roli mit kleinen Schaufeln, die Ricardo aus einer Blumenhandlung besorgt hatte und die nur etwa ein halbes Kilo Erdreich bewältigen konnten, weiter. Die Arbeit wurde den drei sehr sauer. Nur ganz langsam kamen sie voran, weil sie sich gegenseitig behinderten. Und das entfernte Erdreich musste genau untersucht werden.
Es war etwa 15 Uhr und sie waren in einer Tiefe von gut zwei Metern. Keine Uhr.
Eine Stunde später waren sie noch etwa 40 cm tiefer. Immer noch gab es keine Spur von dem Kunstwerk, das Ricardo so sehr suchte. Es dunkelte langsam und die Baumaschine des Trupps, die die Künette grub, erleuchtete die Arbeiten mit einem Scheinwerfer.

Da brach Rita, die etwa in der Mitte des Grabes soeben schaufelte, plötzlich in den Untergrund ein. Ungefähr einen halben Meter sank sie tiefer in die Erde, wobei ein eigenartiges, splitterndes Geräusch zu hören war.
Ricardo war sofort bei ihr. »Was war denn das?«
»Ich steck fest«, sagte Rita und versuchte, sich frei zu strampeln. Ricardo begann sofort, ihre Füße auszugraben. Aber er stieß augenblicklich auf ein Hindernis. Unterhalb der Erdschicht war etwas im Boden, das dem Spaten Ricardos Widerstand entgegen setzte.
Ricardo borgte sich vom Bautrupp der Datenleitung einen kleinen Scheinwerfer aus und Roli unterstützte ihn dabei, Ritas Beine frei zu bekommen. Innerhalb von zwanzig Minuten wussten sie, was geschehen war.

Rita stand in einem Sarg. Der morsche Deckel des Sarges war unter ihrem Gewicht gebrochen und Rita war auf die Leiche hinunter gefallen. Jetzt stand sie auf dem Boden des Sarges inmitten einer Unzahl von Knochensplittern. Sie hatte den unteren Brustkorb der Leiche mit ihrem Körpergewicht sozusagen zu Knochenmehl zermahlen.
Der Vorarbeiter des Grabungstrupps für das Datenkabel war herbei gekommen und sah interessiert in das Grab. »Na? Haben Sie Ihr Objekt für die Forschung gefunden?«
»Ja«, sagte Ricardo. »Aber leider nicht vollständig. Da ist uns was passiert.«
Nachdem plötzlich vier Zuschauer um das Grab standen, musste Ricardo so tun, als ob ihn das Skelett im Sarg sehr interessierte. Mit Rolis Hilfe hob er schließlich den Deckel ab und legte ihn neben die Grube. Dabei fiel ihm auf, dass offenbar eine Messingplakette auf den Sargdeckel genagelt worden war.
Mit einem Schraubenzieher wurde die Plakette los gebrochen. Eingraviert war: »Amanda Freifrau von Großschopf, 1728 – 1796«.

Nun, Ricardo interessierte das so gut wie gar nicht. Was ging ihn eine alte Adlige an, ohnehin nur dem niedrigsten Adelsstand angehörig und seit über zweihundert Jahren tot. Er wollte die Uhr des Josef Haydn haben!
Aber die war unauffindbar.
Ricardo nahm an, dass die Uhr oberhalb des Sarges der Baronin Großschopf zu liegen gekommen war. Hier, um den Sarg der Freifrau bestand keine Chance mehr, die Uhr mit dem Kunstwerk zu finden. Sie hätte weiter oben sein müssen!
Hatte der alte Elßler also die Uhr doch selber eingesteckt? Die Beschreibung über die Deponierung der Uhr im Grab sollte wohl so etwas wie eine Rechtfertigung sein. Der Passus in seinen Aufzeichnungen hatte zwar keinerlei Beweiswert, machte sich aber vor einem eventuellen Gericht sicher ausgezeichnet!
Ricardo gab es auf. Die Aktion war also gründlich in die Hose gegangen.
Gemeinsam mit Roli legte er den gesplitterten Deckel wieder auf den Sarg der Baronin, die etwas zertreten in ihrem Grab liegen blieb – und dann stiegen alle drei aus dem Schacht heraus.

Der Bautrupp der Datenleitung hatte ebenfalls schon Schluss gemacht und die Bauarbeiter machten sich bereit für den Feierabend.
»Gemma auf a Viertel«, schlug Ricardo vor.
»Ja! Des brauch i jetzt«, sagte Rita. »I hab a Leich zertreten! Mir graust jetzt no!«
Man ließ das Grab offen und verfügte sich in ein kleines Espresso in der Flurschützstraße. Rita zitterte, als die drei an einem Tisch Platz nahmen. »Mir geht die Leich' net aus'm Sinn«, flüsterte sie. »Der tut scho lang nix mehr weh«, beruhigte Ricardo. Und dann goss er ein Viertel Neuburger durch die Kehle, weil er sich furchtbar darüber ärgerte, dass die Uhr nicht zu finden gewesen war.

Damit könnte diese Geschichte eigentlich enden.
Es gibt aber noch ein Nachspiel.
Im darauf folgenden Sommer kam Swetlana zu Besuch nach Wien. Swetlana war eine alte Freundin der Rita und stammte aus Niš.
Rita schleppte ihre Freundin durch ganz Wien und irgendwann einmal kamen sie am Uhrenmuseum vorüber. Swetlana wollte es besichtigen. Also gingen die zwei jungen Frauen hinein.
Der Grundstock des Museums ist die Uhrensammlung der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach, die gemeinsam mit der Sammlung des Mittelschullehrers Rudolf Kaftan von der Stadt Wien 1917 aufgekauft wurde.
Und als die beiden jungen Frauen durch die Ausstellungsräume wanderten, lag plötzlich die Uhr des Josef Haydn vor ihnen.
Sie musste es sein! Das Porträt der Kaiserin in Emaille auf dem Deckel aus Gold. Genau so hatte Ricardo die Uhr beschrieben, bevor man die Suche im Grab begann.
Rita rief ihren Freund sofort am Handy an: »Ricardo, die Uhr liegt im Uhrenmuseum!«
»Was? Wie kommt die denn dort hin?«
»Ich werd' mich erkundigen…«
Das tat Rita dann auch. Sie machte einen Historiker ausfindig, der ihr etwas über das Ausstellungsstück erzählen konnte.

Demnach befand sich die Uhr im Besitz der Schriftstellerin Frau von Ebner-Eschenbach, die selbst eine Ausbildung als Uhrmacherin absolviert und das Stück angeblich von Friedrich von Gentz gekauft hatte.
Als Rita später ihrem Ricardo die Sache erzählte, wusste dieser sofort, was geschehen sein musste: Der alte Elßler hatte die Uhr nicht ins Grab gelegt, sondern behalten und später dann seiner Tochter Fanny zukommen lassen. Die Tänzerin Fanny Elßler war mit dem Politiker Friedrich von Gentz seit 1829 liiert und wohnte mit ihrem Geliebten zusammen in seinem Schlösschen im Stadtteil Weinhaus.
Also musste Gentz die Uhr von Fanny erhalten haben!
Ricardo tobte ein bisschen über die Bosheit der Leute im frühen 19. Jahrhundert. Josef Haydn die Uhr einfach zu »stehlen« war ja ein besonders infames Stück! Gut, Haydn war bereits tot, aber die Uhr selbst einzusacken, war dennoch unfair!
Es nützte nichts. Die emaillierte Uhr war im Uhrenmuseum und wer weiß, welche Leute daran noch nach Haydns Tod verdient hatten! Nur Ricardo war auf die Seife gestiegen.
Außer einem Haufen Arbeit hatte er nichts davon gehabt!

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