KunstGeschichten

KunstGeschichte: Fragwürdige Urheberschaft

Toni Sommerlechner wird von einem Tag auf den anderen als Künstler entdeckt. Im großen Kunstgewerbe angekommen, muss er lernen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Erich Wurth über Eros und Vertrauen, über die Abgründe menschlicher Raffinesse und die Fallstricke in der Welt der Kunst.

Als Toni Sommerlechners Schicht um sechzehn Uhr zu Ende war, trank er zunächst einmal zwei Flaschen Bier aus, indem er sie nacheinander an die Lippen setzte und durch die Kehle rinnen ließ, ohne auch nur einmal Luft zu holen.
Das Bier aus der Kiste im Baucontainer war warm und kam ihm bitterer als sonst vor, aber um den ersten Durst zu löschen, war ihm alles recht, auch diese miserable Affenpisse. Acht Stunden hatte Toni nun unter dem „Fly Over“ auf der Südosttangente gesteckt, jener provisorischen „Brücke auf der Brücke“, mit deren Hilfe der überaus dichte Verkehr in eineinhalb Meter Höhe über die eigentliche Baustelle geführt wurde.


Es war Mitte August, die Sonne brannte auf die Stahlplatten des Provisoriums, zu Mittag hatte es vierunddreißig Grad im Schatten gehabt und unter dem „Fly Over“ musste die Temperatur auch jetzt noch gute fünfzig betragen, da kaum ein Luftzug unter diese verfluchte Konstruktion drang, außer stinkenden, heißen Abgasen. Dazu kamen noch die Funken von Tonis Trennscheibe, mit der er die Stahlarmierungen im Bereich der Nahtstelle zwischen den beiden Brückenteilen durchschnitt und die Tatsache, dass er mit seiner Körpergröße von einszweiundneunzig nicht gerade viel Platz für seine Arbeit zur Verfügung hatte. Über seinem Kopf donnerte der Schwerverkehr über die Stahlplatten und die gesamte Autobahnbrücke mitsamt dem „Fly Over“ vibrierte dauernd, was die Tätigkeit mit der Trennscheibe auch nicht grade erleichterte.
Toni war froh, dass der „Tschoch[1]“ für heute vorüber war und freute sich auf einen ruhigen Abend an der Alten Donau.


Ein Pritschenwagen seiner Baufirma brachte ihn und seine Kollegen, die ebenfalls Dienstschluss hatten, über die gesperrte Ausfahrt von der Autobahn runter. Dort, neben den Gleisen der Ostbahn, hatte Toni seinen uralten VW abgestellt, in den er nun umstieg und sich auf den Weg durch den dichten Nachmittagsverkehr hinüber nach Kaisermühlen machte.
Im Auto war es fast so heiß wie unter den Stahlplatten auf der Autobahn, aber Toni kümmerte das nicht. Er war ein phlegmatischer Typ, dem Jammern fern lag. Im Grunde war er mit allem zufrieden, beschwerte sich nie, kam mit sämtlichen Arbeitskollegen gut aus und sein Partieführer schätzte ihn als geschickten, gewissenhaften und vor allem sehr kräftigen Straßenbauarbeiter, der zwei 50 kg Zementsäcke auf einmal tragen konnte.


Auf den Baustellen war der gutmütige Riese Toni Sommerlechner äußerst beliebt. Immer war er bereit, anzupacken und den Kollegen zu helfen, wenn seine Körperkräfte benötigt wurden und über gelegentliche Hänseleien, etwa, dass sich sein Hirn im Bizeps befinden müsse, lachte er nur.


Privat führte Toni ein ruhiges und bescheidenes Leben. Er war achtunddreißig, Junggeselle und bewohnte eine kleine Garconniere in einem alten Wohnbau der Gemeinde Wien in Meidling. Ab etwa 1920 waren diese Wohnanlagen von der Stadt errichtet worden und galten weltweit als revolutionär und richtungweisend. Jede Wohneinheit verfügte schon damals über Bad und WC, meist auch Balkon, und auf eine aufgelockerte Bauweise mit ausreichend Grünflächen wurde großen Wert gelegt. Trotzdem sollten diese Wohnungen für jeden erschwinglich sein – und das waren sie auch. Toni war mit seiner Behausung – wie mit allem in seinem Leben – ganz zufrieden, gönnte sich aber einen, nach seinen Maßstäben großen, Luxus: Er hatte eine Jahreskabine im Gänsehäufel gemietet.


Von 1871 bis 1875 wurde die Donau, die der Stadt Wien immer wieder verheerende Überschwemmungen beschert hatte, „reguliert“. Der vielfach verzweigte Strom erhielt ein völlig neues Bett, das von einem breiten Streifen Grünlandes begleitet wurde, dem so genannten „Überschwemmungsgebiet“. Im Zuge dieser Bauarbeiten wurden einige Donauarme vom neuen Hauptstrom abgeschnitten und damit zu stehenden Gewässern. Am breitesten dieser Arme, der „Alten Donau“ errichtete man 1907 auf einer bewaldeten Sandinsel das großzügige Freibad „Gänsehäufel“, das der Stadt eine halbe Million Kronen – damals eine gigantische Summe – kostete. 1945 völlig zerstört, wurde das Bad neu aufgebaut, 1950 wieder eröffnet und erfreut sich seither immer noch beträchtlicher Beliebtheit.


Daran konnte auch die Errichtung der „Donauinsel“ nichts ändern, die ab 1971 (genau hundert Jahre nach der Donauregulierung) in über zehnjähriger Bauzeit entstand und den Hauptstrom der Donau nun vom neuen „Entlastungsgerinne“ trennt, dessen Schleusen nur bei Hochwassergefahr geöffnet werden und das sonst eine ausgezeichnete Wasserqualität bietet. Die einundzwanzig Kilometer lange Insel bietet kostenlose Bademöglichkeiten, vielfältige Gastronomie, Sporteinrichtungen, also eigentlich alles, was das Herz begehrt, zieht aber vor allem ein jüngeres Publikum an.
Die älteren Semester – und Toni zählte sich bereits dazu – halten dem leicht nostalgischen Gänsehäufel immer noch die Treue.


Und überdies war für Toni wichtig, dass er in seiner geräumigen Umkleidekabine seine Staffelei aufbewahren konnte.
Jawohl! Seine Staffelei! Der einfache, groß gewachsene, athletische, kräftige Bauarbeiter Toni, geschickt mit sämtlichen Werkzeugen und Baumaschinen, war auch Maler! Allerdings nur im Gänsehäufel und ausschließlich surrealistisch.
Ob er Talent hatte? Nun, wenn man Toni selbst danach gefragt hätte, er hätte geantwortet: „Is doch wurscht.“
Es war ihm tatsächlich „wurscht“. Seine Bilder, falls sie ihm gefielen, hängte er daheim an die Wand, bis sie ihm nicht mehr gefielen, dann verschenkte er sie (selten, da sie keiner haben wollte) oder warf sie weg (meistens). Bilder, die ihm nicht gefielen, schmiss er gleich auf den Müll. Nie hatte er eins verkauft, nie hatte er auch nur versucht, eins zu verkaufen. Geld war ihm ziemlich egal, er hatte sein Auskommen und zusätzlich ein Sparbuch, da er außer für Farben, Leinwand, Bier, Zigaretten und gelegentliche, aber eher seltene Besuche von einschlägigen Lokalen (manchmal hat ein Mann eben gewisse Bedürfnisse) kaum Geld ausgab. Was ihm an der Malerei wichtig war, das war die Stille, in der er am Wasser sitzen und über die Alte Donau sehen konnte, in den Himmel über Kagran, über den die Wolken zogen und sich im Wasser spiegelten, wenn es nicht zu windig war. Außerdem liebte er den Geruch der Farben und die völlige Freiheit, Farbkleckse dort hinsetzen zu können, wo es ihm gerade einfiel. Und manchmal, wenn er grade einen gelben Klecks platziert hatte, assoziierte er zu der gelben Farbe ein Häufchen Senf auf einem Pappteller. Dann stand er auf, wanderte zum Buffet und holte sich ein Paar Würstel.


Manchmal geriet die Silhouette des Turms der Floridsdorfer Kirche, der am anderen Ufer in den Himmel ragt, in das Bild hinein. Aber dann malte Toni gewöhnlich drüber. Gegenständliches hatte in seinen Gemälden nichts verloren.
Toni war sich vollkommen bewusst, dass es ihm einfach nicht gelang, irgendetwas auch nur halbwegs naturgetreu abzubilden. So gesehen hatte er überhaupt kein Talent zum Malen. Nicht einmal ein Strichmännchen gelang ihm. Deshalb beschränkte er sich auf seine Farbkleckse. Da konnte nichts schief gehen.
Und seltsamerweise waren die Bilder wirklich gut! Seltsamerweise hatte der sanfte, phlegmatische Riese tatsächlich Talent! Zwar ein einseitiges, ausschließlich auf Farbwirkung und phantasievolle Formen beschränktes, aber irgendwie berührten seine Malereien einen unvoreingenommenen Betrachter auf eigenartige Weise. Man sah sich diese Gemälde einfach gerne an und sie vermittelten etwas von der seelischen Ausgeglichenheit ihres Schöpfers.


Der Parkplatz beim Gänsehäufel war ziemlich voll. Kein Wunder bei dem Wetter. Toni stellte seine Rostlaube ziemlich weit vom Eingang entfernt ab.
Völlig verschwitzt, wie er noch immer war, stellte sich Toni zunächst ausgiebig unter die Dusche. Allmählich drehte er den Warmwasserhahn immer mehr zu, bis ihm das klare Hochquellwasser allmählich zu kalt wurde. Dann trottete er zum Strand und warf sich in die Fluten. Bewegungslos ließ er sich auf dem Rücken treiben und starrte in den blassblauen Himmel, über den nur einige Dunstfelder zogen. Würde ein gutes Motiv sein, ob er den Farbton hinkriegte?


Zehn Minuten später saß Toni auf seinem Klapphocker am Strand und färbte die Leinwand auf der Staffelei blassblau ein. Neben ihm auf dem Boden lag ein Bild, das er letzte Woche gemalt hatte. Toni brauchte es zum Vergleich, um zu verhindern, dass das heutige dem von voriger Woche gar zu ähnlich wurde, denn auch das letzte war hauptsächlich blassblau gehalten, eine Folge des stabilen Hochdruckwetters in den letzten Tagen.


Obwohl Toni immer nur das gleiche Motiv – die Alte Donau – malte, glich keines seiner Bilder den anderen. Zumal man ja überhaupt nicht erkennen konnte, was da gemalt worden war. Das Motiv war nicht mehr als ein Katalysator für Tonis Stimmungen und Gedanken, die eigentlich das Thema seiner Gemälde waren.


Als er gerade drüber nachdachte, ob er die Uferlinie gegenüber andeuten sollte – nur andeuten wohlgemerkt! – fühlte Toni eine Bewegung hinter ihm und drehte sich um.
Da stand eine junge Frau mit kastanienbraunem Haar in einem grellroten Bikini, die interessiert das auf dem Boden liegende Gemälde ansah.


Verlegen wandte sich Toni wieder der Staffelei zu. Aber dann musste er sich nochmals umdrehen, denn der Anblick war durchaus erfreulich. Die Frau konnte nicht viel über dreißig sein, sie war schlank, aber nicht dünn und die Rundungen saßen an den richtigen Stellen.
Die Tatsache, dass Toni Single war, bedeutete nicht, dass er sich aus Frauen nichts machte! Im Gegenteil! Aber dieser Muskel bepackte Riese besaß noch eine andere Eigenschaft, die man ihm kaum zugetraut hätte: Er war schüchtern und hatte die größten Schwierigkeiten, in Kontakt zum schönen Geschlecht zu treten. Nicht bei seinen gelegentlichen Streifzügen, das war ja beinah so was wie ein Arztbesuch und er bezahlte ja auch dafür, aber sein auf einer eher dürftigen Bildung basierendes, ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl und sein phlegmatisches Temperament hinderten ihn daran, persönlichen, menschlichen Kontakt zu Frauen zu finden.


Die Frau im roten Bikini lächelte ihn jetzt freundlich an. „Toll!“, sagte sie. „Kann man so was kaufen?“
Toni zuckte die Schultern. „Hab noch nie eins verkauft“, gestand er. „Die meisten schmeiß i weg.“
„Sie verarschen mich!“
Toni schüttelte den Kopf. „Wer sollt denn für so an Schmarr’n was zahlen?“
„Na, ich, zum Beispiel! Was soll das denn kosten?“ Die Frau deutete auf das Bild im Gras.
Ungläubig sah Toni die hübsche Frau an, wobei vor allem das Rot des Bikinis magnetisch seinen Blick anzog. Dann riss er sich von dem Anblick los, hob das Bild auf und reichte es der Schönen.
„G’hört scho Ihnen“, verkündete er.
„Wie viel?“, fragte die junge Frau.
„Nix.“
„Sie verarschen mich!“, wiederholte die Bikinischönheit.
„Wieso denn? Sie zahlen das, was’ wert is – nix!“
„Meinen S’ das ernst? Finden S’ die Bilder, die Sie malen, net gut?“ Zögernd griff die Frau nach der über einen Holzrahmen genagelten Leinwand.
„Is doch wurscht, ob s’ gut san oder net. I mal s’ ja nur aus Gaudee[2], dann schmeiß i s’ weg.“
Belustigt sah ihn die hübsche, junge Frau im Bikini an. „Na hör’n S’, so was schmeißt man do net weg! Und Sie wollen wirklich nix dafür?“
„Naa. I heb doch niemanden ume[3]!“
„Dann müssen S’ mir wenigstens erzählen, warum S’ eigentlich malen, wenn S’ nix verkaufen wollen. Kommen S’! Ich lad Sie ein auf an Kaffee.“
Tonis Schüchternheit ließ ihn erst etwas zögern, aber dann ließ er die Staffelei einfach stehen, legte Pinsel und Farben ins Gras und folgte der Frau.
„Ich heiß Renate“, sagte die junge Frau, als sie neben ihm den Betonweg zum Buffet entlangging. Sie war mehr als einen Kopf kleiner als Toni und trug das Bild vorsichtig, nur mit den Fingern den Holzrahmen umfassend, auf den die Leinwand aufgezogen war, in der rechten Hand. „Und wie heißen Sie?“
„Toni. Anton Sommerlechner.“
„Wird man sich merken müssen, den Namen!“
„Warum denn?“
„Na, wenn S’ einmal berühmt san? Wenn man dann sagen kann: Den kenn i persönlich, das is doch was!“
„Sehn S’, jetzt verarschen Sie mi! Wegen was sollt i berühmt werden?“
Renate hielt ihm das Bild vor die Nase. „Wegen dem!“
„Ah, was!“
Sie hatten das Buffet erreicht und nahmen an einem der Tische auf der betonierten Terrasse Platz. Renate bestellte Kaffe für sich, Toni ein Krügel Bier. Dann fingerte Toni einen zerknüllten Zehn – Euro – Schein aus der Badehose und rief dem Kellner nach: „Geh, Karl, und a Packel Tschick[4]!“
„Lassen S’ das stecken!“, mahnte Renate. „Ich hab Sie eing’laden!“
„Doch net die Tschick!“
„Geht alles in ein' Aufwaschen!“
Toni steckte den Geldschein wieder ein. „Na dann, danke! Is des erste Mal, dass mir a Bild was einbringt – a Packel Giftnudeln. Immerhin!“
Und dann saßen sie einander stumm gegenüber und sahen sich an, bis der Kellner mit der Bestellung kam.
Auf der Zigarettenpackung stand in schwarzer Schrift: „Rauchen macht impotent. Die EU – Gesundheitsminister.“ Toni nahm die Packung und reichte sie dem Kellner zurück. „Geh, Karl, bring mir lieber a anderes Packerl, wo draufsteht, dass man die Patschen streckt[5]. Das is mir unangenehm, wenn i das lesen muss.“
Renate amüsierte sich königlich.
Ihr helles, fröhliches Lachen wirkte ansteckend und Toni legte einen Teil seiner Schüchternheit ab. Bald war ein angeregtes Gespräch im Gange.


Toni machte kein Hehl aus seiner mangelnden Bildung (als junger Mensch ist man eben blöd in dieser Hinsicht), seiner untergeordneten Stellung beim Straßenbau. Weiter berichtete er von seiner momentanen Tätigkeit unter dem „Fly over“ auf der Tangente und davon, dass diese von Stadtverwaltung und Ministerium so hoch gerühmte innovative Einrichtung (denn die Bauarbeiten beeinträchtigten den Verkehr nur unwesentlich) für den darunter steckenden Arbeiter eine Zumutung sei, zumindest bei den derzeitigen Temperaturen.
Renate gestand, Toni heute bereits „überrollt“ zu haben und bedauerte ihn ehrlich. Und dann erzählte sie Toni eine Tatsache, die sein Interesse erweckte.

Sie hätte einen Bekannten, der möglicherweise Tonis Kunstwerke vermarkten könne. Klar, ein noch unbekannter Künstler könne kein Vermögen erwarten. Aber wenn Toni weitere Gemälde liefern könne, würde sie versuchen, einen Preis von, na ja, vielleicht zwanzig bis dreißig Euro pro Bild für Toni auszuhandeln. Damit wären zumindest seine Materialkosten gedeckt.


So recht glauben wollte Toni das zwar nicht, aber die Aussicht, auf diese Weise öfter mit Renate zusammentreffen zu können, war für ihn durchaus erstrebenswert. Okay! Er würde sofort zu Haus nachsehen, wie viele Bilder er noch nicht weggeschmissen hätte, die könne Renate alle haben. Und neue werde er umgehend anfertigen, sofern es nichts ausmachte, dass er nur ein einziges Motiv hätte: Die Alte Donau vom Gänsehäufel aus gesehen. Abstrakt, so dass man’s nicht erkennen konnte.
Nun ja, fürs Erste wäre das in Ordnung, aber vielleicht könne Toni mit der Zeit einmal versuchen, was anderes zu malen?


Toni schluckte. Sollte er sagen, was ihm auf der Zunge lag? War das nicht zu aufdringlich und plump?
Ach was, es war eine zu gute Gelegenheit! Er nahm all seinen Mut zusammen, überwand die Schüchternheit und sagte: „Ja, Sie würd’ i gern malen!“ Dann fügte er noch hinzu: „Wenn i’s könnt.“ Er konnte aber nicht verhindern, dass sein Gesicht dabei rot wurde wie ein Paradeiser[6].
Renates fröhliches, helles Lachen ertönte wieder. „Toni, Sie sind süß! Ein Riegel von einem Mann und wird rot dabei wie ein Gymnasiast!“
„Tschuidigen[7]. War net so g’meint“, stammelte Toni, der plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen hatte.
„Ah, net?“, fragte Renate und sah Toni ein wenig enttäuscht und auch ein wenig frivol an. „G’fall i Ihnen net?“
„Zum Anbeißen san S’ – a Weltkatz, die an jeden aus die Schuach[8] haut!“, sprudelte es aus Toni heraus.
Renate lachte wieder. „Also – bei Ihnen oder bei mir?“
Toni sah ungefähr so intelligent drein wie ein Autobus im Straßengraben und Renates glockenhelles Lachen ertönte wieder einmal. Aber diesmal wollte sie gar nicht mehr aufhören, zu lachen. Sie fasste nach seinem Arm und drückte seinen Bizeps, als ob sie damit ihrem Heiterkeitsausbruch Einhalt gebieten könne.
„Toni, Sie san a Wuchtel ! Aber a liebe Wuchtel[9]!”
Sie stand auf und ging zum Schanktisch des Buffets. Dort zog sie einen Geldschein aus dem Top ihres Bikinis und bezahlte. Außerdem schob ihr der Kellner Karl ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber zu. Renate schrieb etwas auf den Zettel, ließ den Kugelschreiber liegen und kehrte zum Tisch zurück, wo sie den Zettel vor Toni hinlegte.
„Rufen S’ mich an, wenn S’ das nächste Bild fertig haben. Dann gemma was trinken und nachher dürfen S’ mich vielleicht malen, ja?“
Toni saß noch immer verdattert da. „I hoff’, Sie san et bös“, murmelte er. „I wollt sicher net anlassig[10] sein.“
„Waren Sie nicht, Toni, Sie waren einfach süß, Sie Berg von einem Mann!“
„Na ja, dann…“ Toni war einigermaßen beruhigt.


Sie verabschiedeten sich beinahe wie alte Freunde. Toni kündigte noch an, sich sehr bald zu melden, er werde Bilder malen wie beim Semmelbacken, auch wenn er die Baustelle auf der Tangente dafür vernachlässigen müsste. Solle doch der Verkehr in dieser Scheiß Stadt zusammenbrechen, er wolle endlich Renate malen, auch wenn er das – künstlerisch gesehen – gar nicht könne. Aber nicht künstlerisch gesehen – Oho und Halleluja! Gar so ein Trottel, wie er aussähe, wäre er ja nun doch nicht!
Renate musste immer noch grinsen, als sie ihr Auto über die nunmehr bereits weniger befahrene Autobahn heim lenkte. Toni allerdings schlief schlecht diese Nacht. Er träumte von Renate und den Schwierigkeiten, so eine „Weltkatz“ auf surrealistische Manier zu malen. Falls sie wirklich auf die Malerei Wert legen sollte, weil wie man ein solches Mädel anderweitig zufrieden stellen konnte, das wusste Toni, trotz seiner eher dürftigen Erfahrungen in dieser Hinsicht.


Renate legte anderntags das so wohlfeil erworbene Bild ihrem „Bekannten“ Jörg Kovac, bei dem sie als Sekretärin angestellt war und mit dem sie ein Verhältnis hatte, auf den Schreibtisch.
„Was soll i mit dem Dreck?“, fragte dieser.
„Deiner g’stopften[11] Frau Stern verscherbeln. Dreh den Kunden doch einmal was anderes an als deine hatscherten Wertpapierfonds! Solln s’ in Kunst investieren, is einmal was Neues!“
Jörg unterzog das Gemälde einer genaueren Betrachtung. „Was soll denn des sein?“
„Na – Kunst!“
Jörg Kovac, selbständiger Anlageberater, Versicherungsmakler und ein großes Schlitzohr, das von den Erträgen der angelegten Gelder auf raffinierte Weise einen guten Teil in die eigene Tasche fließen ließ, legte das Bild zur Seite und wandte sich wieder dem Bildschirm zu, der die aktuellen Börsenkurse anzeigte. „Glaubst, die Stern is so deppert und kauft so an Schamott?“
„Des is ka Schamott! Das da is wirklich gut! Nur der Maler weiß’s net. Von dem kann i noch mehr kriegen – um an Pappenstiel!“
Jörg sah sich das Bild nochmals an. „I versteh nix davon“, gab er zu. „Von wem is’n des?“
„Von irgend so ein’ primitiven Affen, den kaner kennt. Bisserl deppert, aber malen kann er! Sommerlechner heiß er.“
„Wenn den kaner kennt, kauf die Stern nix von dem. Weißt ja, wie die is! Bei der muss alles exklusiv sein, alles an Namen haben! Ja, wenn’s a Prominenter g’malt hätt…“
Renate dachte nach. „Na, dann hat’s eben a Prominenter g’malt!“, sagte sie dann.
Jörk Kovac begann plötzlich zu grinsen. „Und i weiß auch schon, wer! Des kann wirklich a Rebbach werden!“, meinte er fröhlich und griff nach der Computermaus, um in seinem Adressbuch nach einer Telefonnummer zu suchen.
Noch an diesem Vormittag rief Toni Sommerlechner im Büro der Firma Kovac an und wurde von Jörg zu Renate verbunden.


Toni war kaum zu verstehen, so gewaltig war der Hintergrundlärm während des Gespräches. Er rief vom Handy eines Kollegen an (er selbst besaß gar keines, sein Festnetzanschluss zu Hause reichte ihm völlig) und das Getöse des Autobahn- und Baustellenlärms tat Renate beinahe weh in den Ohren. Er hätte daheim noch acht Bilder gefunden, berichtete er. Und zaghaft setzte er hinzu, er würde sich freuen, wenn sich Renate diese ansehen und ihm hinterher Modell stehen würde.
Sie verabredeten sich in einem Espresso in Meidling nahe der Philadelphiabrücke.


Während Renate mit Toni telefonierte, wurde sie von Jörg misstrauisch beobachtet. Sie musste lächeln, als sie trotz des Lärms im Hintergrund bemerkte, wie sich Toni einen Ruck gab, um zu erwähnen, dass sie versprochen hatte, ihm Modell zu stehen. Rührend, dieser unbeholfene Riese…


Jörg hatte Renates beinahe liebevolles Lächeln bemerkt und kam rüber zu ihr, als sie aufgelegt hatte. „Hör einmal, Süße: Wenn das dein Maler war, untersteh dich ja nicht, dem schöne Augen zu machen!“
Renate fauchte Ihren Chef an: „Doch, du Dodl[12]! Glaubst, ohne dem krieg i die Bildln fast umsonst?“
Jörg beeilte sich, seine Ermahnung zu relativieren: „Aber, wenn’st dir mit dem was anfangst, brich i euch sämtliche Finger! Dir und dem Maler! Dann kann er mit die Zechen malen!“
Renate lachte: „Probier’s! Wenn dir der Toni ane zischt, reißt’s dir die Ruabn[13] ab!“
Jörg zog es vor, nichts mehr drauf zu sagen und kehrte an seinen Schreibtisch zurück, wo er nochmals versuchte, seine Kundin Franziska telefonisch zu erreichen, was ihm diesmal auch gelang. Als er mit dieser, einer jungen, aufstrebenden Schlagersängerin, einen Termin für den Abend abmachte, sah er öfter zu Renate hinüber. Aber die reagierte nicht.

So fanden also am Abend zwei geschäftliche Treffen statt und die gesamte Belegschaft der Anlageberatungsfirma Kovac war im Einsatz.
Die Unterredung des Firmenchefs Jörg mit dem Schlagersternchen Franziska, die mit bürgerlichem Namen Lotte Huber hieß, verlief problemlos und für Jörg – allerdings mit einer Einschränkung - höchst erfreulich.
Fräulein Huber war eine bildhübsche, aber schlichte Blondine, deren hervorstechende Charaktereigenschaft ein brennender Ehrgeiz war. Bereits während ihrer Schulzeit hatte sie versucht, im Showbusiness Fuß zu fassen und schließlich war es ihr gelungen, einen unbedeutenden Musikproduzenten mit ihrem Aussehen, ihrer etwas naiven Art und ihrem dünnen, aber angenehmen Stimmchen soweit zu beeindrucken, dass ihr dieser einen „Schlager“ schreiben ließ, eine CD produzierte und einen Auftritt im Fernsehen verschaffte. Es war zwar nur eine unbedeutende Sendung am Nachmittag, aber in den „Musikantenstadel“ kommt man eben nicht so schnell, und wenn, dann nur mit besten Beziehungen.


Komponist und Texter waren erfahrene Profis. Der Komponist hatte sich drauf spezialisiert, alte Nummern, die sich seinerzeit gut verkauft hatten, soweit zu verändern, dass er einer Plagiatsklage in Ruhe entgegen sehen konnte. Der Texter hatte auf seine bevorzugten Reimpaare zurückgegriffen, in geradezu genialer Weise „Stern“ auf „gern“ und „fern“ gereimt, sowie „Herz“ auf „Schmerz“ – uns so konnte gar nichts mehr passieren.


Franziskas erste Single verkaufte sich zwar nicht sensationell, aber immerhin zufrieden stellend und der in Tirol ansässige Marktführer auf dem Gebiet der volkstümlichen Schlagermusik begann sich für Franziska zu interessieren.
Franziska war das noch immer nicht genug. Sie lechzte nach Fernsehauftritten und hätte alles dafür gegeben, in den Kreis der Prominenten aufgenommen zu werden. Aber so weit war sie noch nicht.
Jörg Kovac, bei dem ein Teil des Ertrages ihrer CD in einen Wertpapierfonds investiert war, hatte die kleine Lotte Huber sofort richtig eingestuft, insbesondere auf Grund ihrer Enttäuschung, als sie in sein Büro kam und er zugeben musste, vom Schlagerstar Franziska noch nie etwas gehört zu haben.
An diesem Abend, in einem Restaurant in der Innenstadt, schlug er ihr vor, sie zur Malerin zu machen. Ein Multitalent, Sängerin und Malerin zugleich, hätte sicher wesentlich bessere Chancen, Aufmerksamkeit zu erregen, als ein einfaches Schlagersternchen. Er hätte da einen Maler an der Hand, dem an Berühmtheit und dem dazu gehörenden Rummel nichts gelegen sei. Der würde ihr seine Gemälde, die übrigens echte Kunstwerke von hohem Wert wären, gegen ein bescheidenes Entgelt, etwa 500 Euro pro Gemälde, überlassen. Diese Bilder könne sie dann als ihre eigenen ausgeben und damit sicher einen beachtlichen Erfolg einheimsen, auch finanziell.


Zu Lotte Hubers Ehre sei angemerkt, dass ihr der Vorschlag zuerst nicht besonders gefiel. Es widerstrebte ihr, sich mit fremden Federn zu schmücken, sie fühlte sich selbst durchaus talentiert genug, um ihren Weg allein zu machen. Das erklärte sie auch ganz unverblümt dem Anlageberater.
Bei Jörg Kovac wirkte die Ablehnung seiner Kundin fast, als ob man auf einen Knopf gedrückt und damit ein Programm mit der Bezeichnung „Verkaufsgespräch.exe“ in Gang gesetzt hätte.
Die Argumente prasselten nur so auf das Schlagersternchen nieder. Nach zehn Minuten wusste die biedere Lotte Huber nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Nach fünfzehn Minuten willigte sie ein.
Jörg versprach, seiner Klientel zu empfehlen, in Gemälde des Schlagerstars Franziska zu investieren. Auf diese Weise könne sie mit beachtlicher Nachfrage rechnen und er wäre mit dreißig Prozent vom Verkaufspreis als Provision zufrieden. Vertrag benötige man nicht, er vertraue der berühmten Franziska und überdies wäre es vielleicht doch besser, wenn über ihre Vereinbarung nichts Schriftliches existiere, immerhin wären die Finanzämter ja ziemlich neugierig.


Anschließend versuchte Jörg noch, die hübsche Sängerin „einzubraten“ und „abzuschleppen“, was ihm aber total misslang. Das war die vorhin erwähnte Einschränkung des erfolgreichen Abends. Lotte Huber war durchaus nicht bereit, in Jörgs Wohnung noch etwas zu trinken. Sie ließ sich nicht einmal von Jörg heimfahren, sondern nahm ein Taxi, denn sie war der Ansicht, dem gerissenen Anlageberater bereits genug entgegen gekommen zu sein und überdies war sie viel zu verwirrt.


Nachdem sie also Herrn Kovac „auf die Seife steigen“ hatte lassen, überlegte sie auf der Fahrt im Taxi die Konsequenzen ihrer Abmachung und die waren durchaus positiv. Vielleicht ließ sich eine Ausstellung organisieren? Vielleicht brachte man eine dieser illustrierten Klatschblätter dazu, drüber zu berichten? Oder gar das Fernsehen?


Nicht „auf die Seife gestiegen“ war an diesem Abend hingegen der malende Riese Toni Sommerlechner. Renate war von den acht Gemälden, die er in das nüchterne Espresso mitgebracht hatte, einfach begeistert. Sie sparte nicht mit Komplimenten und ging sogar so weit, dem Toni dessen eigene Bilder zu erklären und zu interpretieren. Tonis Achtung vor sich selbst wuchs langsam und seine Schüchternheit schwand in gleichem Maße. Schließlich erinnerte er Renate an ihre Zusage, Modell zu stehen und zu seiner unverhohlenen Freude war diese sofort einverstanden, mit ihm zu kommen.
Toni hatte in weiser Voraussicht seine bescheidene Junggesellenbude noch am frühen Abend einer gründlichen Säuberung unterzogen, Getränke gekauft (sogar Tee war dabei, den er gar nicht mochte) und eine neue Tischdecke über den Esstisch gebreitet.


Mit einem burgenländischen Blaufränkisch stießen sie auf ihre neue Zusammenarbeit an, dann überwand Toni seine Schüchternheit beinahe vollständig, schlug Renate das „du“ vor und sie tranken auf ihre neue Freundschaft.

Und dann hätte Toni beinahe der Schlag getroffen: Als Renate ihn fragte, wie er sie denn malen wollte, als Portrait, sitzend oder stehend, da fiel Toni ein, dass seine Staffelei und die Farben in seiner Jahreskabine im Gänsehäufel geblieben waren.


Renate erschrak, als Toni plötzlich käsebleich im Gesicht wurde. Was denn los sei, fragte sie besorgt.
Stammelnd gestand Toni sein Missgeschick, Renate ließ wieder ihr glockenhelles Lachen ertönen und drückte dem verzweifelten Toni einen Kuss auf die Lippen. „Dann mach’ ma halt a Stellprobe, wie im Theater“, schlug sie vor und bevor Toni noch begriffen hatte, was damit gemeint war, begann sie bereits, sich die Bluse aufzuknöpfen.


Für den Künstler und Straßenbauarbeiter Anton Sommerlechner begann damit eine phantastische Zeit. Der Sommer ging in den Herbst über, das Wasser der Alten Donau wurde langsam zu kalt, um darin zu schwimmen, aber Toni verbrachte jede freie Minute im Gänsehäufel. Er malte wie besessen.
Ein bis zwei Mal pro Woche übergab er die Bilder Renate, die es sich meist nicht nehmen ließ, sie von Tonis Junggesellenbude abzuholen (und gleich über Nacht zu bleiben).


Der Kunsthandel funktionierte einwandfrei. Renate zahlte an Toni dreißig Euro pro Bild aus der Kasse der Firma Kovac. (Toni nahm die Beträge nur, weil ihm Renate versicherte, es wäre nicht ihr eigenes Geld.) Franziska / Lotte Huber zahlte an Jörg Kovac fünfhundert Euro pro Bild (wobei sie ihn manchmal auf vierhundert herunter handelte) und verkaufte die Gemälde – nach anfänglichen Absatzschwierigkeiten – als ihre eigenen weiter, wobei sie zwischen achthundert und tausendfünfhundert Euro dafür bekam. Einige der Bilder konnte Jörg Kovac an seine Klienten verscherbeln, wobei er Franziska natürlich über den Tisch zog. Frau Stern zum Beispiel, zahlte für drei Bilder jeweils dreitausend, als ihr Jörg erklärte, die Gemälde der jungen Sängerin, die demnächst schrecklich berühmt sein würde, stellten eine todsichere Wertanlage dar. Franziska erhielt davon jeweils tausendfünfhundert abzüglich fünfhundert Provision.


Am besten verdiente Jörg Kovac an der Sache, aber alle Beteiligten waren zufrieden und so hätte es auch weitergehen können, wenn nicht die liebe Eifersucht für ein Ende mit Knalleffekt gesorgt hätte.
Selbstverständlich hatte Jörg aus der Tatsache, dass seine Mitarbeiterin Renate nun privat kaum mehr Zeit für ihn hatte, die korrekten Schlüsse gezogen. Und diese Schlussfolgerungen trafen sein Ego empfindlich.


Schön, er hatte es mittlerweile geschafft, die kleine Lotte Huber doch noch herumzukriegen und eine intime Beziehung aufzubauen (was Jörg nicht hinderte, sie finanziell zu bescheißen). Aber dass seine Renate einen grobschlächtigen Maler mit kaum vorhandener Halbbildung ihm, dem cleveren Geschäftsmann, vorzog, das nagte an ihm.


Zu einer offenen Konfrontation mit Renate wollte er es nicht kommen lassen – sie wusste zu viel über seine Geschäftsmethoden und hätte ihm großen Schaden zufügen können – aber so konnte es nicht weitergehen.


Schließlich lieferte ihm Franziska mit ihrem übersteigerten Ehrgeiz die Möglichkeit, einen Keil zwischen seine Renate und den gehassten, malenden Nebenbuhler zu treiben. Sollte das Bildergeschäft eben zum Teufel gehen, er wollte Renate zurück!
Franziska hatte inzwischen begonnen, an ihrer zweiten künstlerischen Karriere als Malerin zu basteln und war dabei äußerst raffiniert zu Werk gegangen. Erst ein paar Bilder kostenlos in Kommission an ein paar Galeristen (natürlich mit einem beigefügten Exemplar ihrer CD), da und dort eine beiläufige Bemerkung über ihre Gemälde, vor allem dem Produzenten ihrer Single gegenüber, ein Bild als Geschenk an den Tiroler Produzenten, der als Marktführer all die populären Lederhosengruppen unter Vertrag hatte, ein Bild an eine wohltätige Stiftung zur Versteigerung – langsam sprach es sich herum, dass es sich bei Franziska um ein Multitalent handelte.


Franziska ging das noch nicht schnell genug.
Mittlerweile hatte sie eine ganz hübsche Anzahl von Bildern auf Lager, da Toni im Akkord malte, um möglichst oft einen Grund für ein Treffen mit Renate zu haben. Mit diesem Fundus veranstaltete Franziska nun eine Ausstellung.
Über ein paar Ecken herum kannten ihre Eltern (die wahnsinnig stolz auf Tochter Lotte waren und von dem Betrug mit Tonis Gemälden nichts wussten) einen Kommunalpolitiker, der von Franziskas erster Single immerhin so beeindruckt war, dass er ihr im Eingangsbereich des Thermalbads Oberlaa eine Ausstellungsfläche zur Verfügung stellte.


Franziska sorgte dafür, dass die Vernissage ein „Event“ wurde. Ihr Schlagerproduzent stellte ihr die Musikergruppe zur Verfügung, mit der Franziska ihre erste Nummer aufgenommen hatte und Franziska versandte Einladungen an alle, die für sie irgendwie von Bedeutung werden konnten. Vor allem natürlich an Presse und Fernsehen.


Als Renate im Büro der Firma Kovac die Post öffnete und die Einladung zur Vernissage vorfand, bekam sie ein flaues Gefühl im Magen. Damit hatte sie nicht gerechnet! Was, wenn Toni Wind von der Sache bekam? Es war zwar kaum anzunehmen, dass Toni von der Ausstellung erfuhr, so desinteressiert wie er an solchen Dingen war, aber man konnte ja nie wissen, der Teufel schläft nicht!
Ihr Verhältnis zu dem übergroßen, biederen Bauarbeiter hatte sich in den letzten Wochen gewandelt. Toni benahm sich ihr gegenüber … nun ja, liebenswürdig. Ein besserer Ausdruck fiel Renate für Tonis Verhalten nicht ein. Er hatte Renate voll und ganz als die Klügere akzeptiert, bewunderte sie, ging auf alle ihre Wünsche ein und konnte, trotz seiner Bärenkräfte, so wunderbar zärtlich sein. Die Nächte mit ihm waren jedes Mal ein Erlebnis.

Als Renate jetzt die Einladung in der Hand hielt, wurde ihr mit einem Mal klar, dass ihre gönnerhafte Zuneigung zu dem sanften Riesen mehr und mehr einer echten Liebe Platz gemacht hatte.
Schon seit drei Wochen hatte sie darüber gegrübelt, wie sie diese betrügerische Komödie mit den Bildern beenden könne. Toni alles gestehen? Das hatte sie sich nicht getraut. Jetzt auf einmal war ihr klar geworden, warum: Sie liebte den einfachen Bauarbeiter und wollte ihre Beziehung nicht aufs Spiel setzen.


Seufzend reichte sie die Einladung ihrem Chef. Jörg las das Blatt, sah Renate durchdringend und ein wenig nachdenklich an und entschied dann: „Na, gemma halt hin.“
Es war noch eine Woche bis zur Vernissage und in dieser Zeit traf Renate zwei Mal mit Toni zusammen. Zwei Mal machte sie einen Anlauf, Toni endlich die Wahrheit zu sagen. Zweimal ließ sie es dann doch bleiben und als sie sich trennten, war Renate bedrückt und traurig.
Am Abend der Vernissage, gegen halb sechs, als es bereits dunkel war, fuhren Renate und Jörg mit Jörgs Auto direkt vom Büro nach Oberlaa.


1974 war das Thermenzentrum im äußersten Süden Wiens, am Hang des Laaerberges eröffnet und seither mehrfach erweitert und modernisiert worden. Nicht nur die großzügigen Kur- und Sporteinrichtungen sorgen für regen Betrieb, sondern auch die Nähe zu den Heurigenlokalen im alten Weinbauerndorf Oberlaa, das in wenigen Minuten zu Fuß vom Kurzentrum aus bequem erreichbar ist.
Die Vernissage fand in einem Nebenraum des Kurcafes statt, der direkt an die Eingangshalle des Thermalbads grenzt. Das heißt, dort waren die Tische für die belegten Brötchen aufgebaut, die für die geladenen Gäste bestimmt waren und dort sollten auch die bei solchen Anlässen üblichen Reden geschwungen werden sowie Franziska ihren „Erfolgsschlager“ trällern, um ihre doppelte Begabung unter Beweis zu stellen. Die Gemälde selbst waren an den Wänden der Kassenhalle sowie an dort aufgestellten Raumteilern angebracht, sollten nach der Vernissage noch vier Wochen hängen bleiben und so ein wenig Kultur in den Badebetrieb bringen.


Es waren noch nicht viele Gäste anwesend und Franziskas Band stimmte eben ihre Instrumente mit der Verstärkeranlage ab. Franziska, in einem kurzen, schwarzen Cocktailkleid mit einem Ausschnitt, der tiefe Einblicke zuließ, begrüßte Jörg und Renate flüchtig und wandte sich sofort wieder an einen jungen Journalisten, mit dem sie bereits heftig geflirtet hatte, als die beiden eintrafen.


Jörg zog sein Handy hervor und entschuldigte sich bei Renate. Er habe ein Telefonat vergessen und ginge kurz nach draußen um den Kunden noch anzurufen. Renate drückte sich in eine Ecke des Raumes und wartete. Sie fühlte sich deplatziert. Außer der Schlagersängerin, die sich furchtbar wichtig machte, kannte sie keinen Menschen hier und sie wäre am liebsten gegangen. Aber das ging wohl doch nicht.
Draußen, vor dem Eingang zum Thermalbad, rief Jörg die Nummer von Toni Sommerlechner an, die er einfach aus dem Telefonbuch hatte.


Toni war zu Hause. „Herr Sommerlechner, Sie sollten gleich zur Therme Oberlaa kommen. Da findet grade eine Vernissage der Schlagersängerin Franziska statt, mit Ihren Bildern. Wär’ schön, wenn Sie da auch dabei wären.“
„Mit meine Bildln? Wieso denn? Wer spricht da überhaupt?“
„Ein Freund.“
„Welcher Freund denn?“
Jörg antwortete nicht mehr, sondern beendete die Verbindung. Toni hatte so geklungen, als ob es ihn keineswegs kalt ließ, was mit seinen Bildern geschah. Vom zwölften in den zehnten Bezirk war es nicht sehr weit, also würde er sicher bald da sein und sehen, was mit seinen Gemälden passiert war und wie Renate ihn beschissen hatte. Natürlich würde er dann stinksauer sein und nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen. Zufrieden kehrte Jörg zurück zu Renate.


Der Abend nahm den üblichen Verlauf. Allzu viele Gäste kamen nicht, die meisten hatten offenbar die Einladung ignoriert, und so gab es mehr Sandwiches als erforderlich. Der Bezirksvorsteher des zehnten Bezirks hielt eine Rede, in der er sich für die Ehre bedankte, die dem Bezirk Favoriten mit der Ausstellung einer so bedeutenden Künstlerin zuteil wurde, auf die Modernität, Weltoffenheit und Aufgeschlossenheit seiner Kommune hinwies und schließlich die Künstlerin bat, die Anwesenden doch auch mit ihrer herrlichen Stimme zu erfreuen.


Franziska trippelte aufs Podium und die Band intonierte die Herz – Schmerz – Schnulze mit der Melodie, die so sehr an einen alten Hollywood Schlager erinnerte.
Als Franziska eben das Mikrophon an die Lippen führte, stieg Toni Sommerlechner aufs Podium und nahm sie am Genick. Seine schwielige rechte Hand umklammerte von hinten den Hals der Sängerin, die vor Schreck das Mikrophon fallen ließ.
„Wie kommst du zu meine Bildln? Speib[14], oder i drah dir’s G’nack um wie an Gansl!“ Toni stellte die Frage ganz ruhig, aber man hörte ihn im ganzen Raum, da die Musiker aufgehört hatten, zu spielen.
Die geladenen Gäste wussten nicht recht, ob es sich um einen inszenierten Gag handelte und Franziska wand sich unter Tonis eisernem Griff. Jörg Kovac, der ziemlich nah am Podium stand, begriff, was los war und begann, sich unauffällig in Richtung Ausgang in Bewegung zu setzen. Scheiße! Renate hatte ihm doch erzählt, dass dieser Toni ein Phlegmatiker wäre! Wieso reagierte der plötzlich so aggressiv?
Franziska, der bereits die Tränen in die Augen traten, so weh tat Tonis Griff, stammelte: „Vom Herrn Kovac hab i s’“ und deutete mit der Hand auf Jörg, der sich eben verdrücken wollte.
„Dem sauf i a Aug’ aus, des andere lass i ihm zum wana[15]“, kündigte Toni an, lockerte den Griff um Franziskas Genick und stieß sie zur Seite. Franziska taumelte auf ihre Band zu und ging mitten im Schlagzeug zu Boden, was einen interessanten akustischen Effekt bewirkte.
„Trampel! Halt die Goschen!“, rief Jörg, sich der Sinnlosigkeit seiner Aufforderung gar nicht bewusst werdend, und dann rannte er. Er hatte nicht die Absicht, sich mit diesem Pfosten Toni, der ihn beinahe um einen Kopf überragte, auf Handgreiflichkeiten einzulassen.
Gerade daran aber war Toni Sommerlechner gelegen. Genauer gesagt, er verspürte den Wunsch, dem Kerl, der da offensichtlich mit seinen Gemälden Schindluder trieb, „ein Packel Haustetschen[16]“ zu verabreichen. Unverzüglich nahm er die Verfolgung auf.


In der Kassenhalle hinderten die Raumteiler mit den Gemälden Jörgs Flucht. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass sein Verfolger im Begriff war, ihm den Weg zum Ausgang abzuschneiden und er wandte sich in die andere Richtung. Das Drehkreuz am Eingang zum Umkleidebereich übersprang Jörg und gewann einen kleinen Vorsprung, da der schwerfälligere Toni etwas länger brauchte, um die Barriere zu überwinden. Leider reichte der Vorsprung nicht, um sich irgendwo zwischen den Umkleidekabinen und Kleiderkästchen zu verstecken und so rannte Jörg in die Halle mit dem Thermalbecken. Die Stufen hinunter zum Bassin schaffte er noch, aber dort, am Beckenrand, waren die Bodenfliesen nass und glitschig. Als Jörg sich zur Seite wandte, um das Becken zu umrunden und so das Freigelände zu erreichen, rutschte er aus und die physikalischen Trägheitsgesetze sorgten dafür, dass er nicht auf den nassen Fliesen, sondern im sechsunddreißig Grad warmen Schwefelwasser landete, und zwar unmittelbar vor einer dicken, älteren Dame, die dort den Strahl einer Massagedüse auf ihren Rücken wirken ließ.

Amüsiert beobachtete Toni, der auf den Stufen zum Becken stehen geblieben war, wie die dicke Dame erst erschrocken aufschrie und dann, als Jörg vor ihr wieder auftauchte, mit beiden Fäusten auf diesen rücksichtslosen Kerl, der da unvermittelt voll bekleidet ins Becken gesprungen war, einschlug.


Das Gekreisch der dicken Dame hatte natürlich die Aufmerksamkeit des Personals auf sich gezogen und Toni nützte die Gelegenheit zu einem taktischen Rückzug, bevor die Aufseher ihn zur Rede stellen konnten. Unbehelligt erreichte er die Eingangshalle.


Im angrenzenden Raum, wo die Gäste der Vernissage versammelt waren, herrschte einiger Tumult. Der Bezirksvorsteher bemühte sich um die völlig geschockte Künstlerin Franziska, die zitternd auf einem Sessel saß und einen langen Riss in ihrem Kleid zuhielt. Die anwesenden Journalisten betätigten eifrig ihre Blitzlichter.


Toni betrat den Raum gar nicht mehr. Man hätte ihn sicher erkannt und festgehalten. Deshalb verließ er das Thermalbad still durch den Haupteingang und wandte sich zu den Parkplätzen entlang der Fontanastraße.


Als er an der Straßenbahnhaltestelle vorüber kam, hörte er plötzlich das leise Schluchzen einer Frau. Besorgt ging er dem Geräusch nach.
Auf einer Bank, abseits der hell beleuchteten Haltestelle, sah er in der Dunkelheit eine zusammengesunkene Gestalt, die das Gesicht in den Händen vergraben hatte.
„Tschuldigen, kann i helfen?“, fragte Toni. Die Gestalt sah auf. Dann folgte ein erneutes Aufschluchzen.
„Mir kann niemand mehr helfen. I hab’s vermurkst“, klagte Renate. Jetzt erst erkannte Toni sie und er setzte sich neben sie auf die Bank.
„Warst du da drin?“, wollte Toni wissen und wies auf das Thermalbad. Renate nickte, kramte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und schnäuzte sich ausgiebig.
Toni begannen langsam die Zusammenhänge zu dämmern. „Du hast meine Bildln dem Django g’eben, der vor mir päulesiert[17] is?“
Wieder nickte Renate. Toni vervollständigte seine Schlussfolgerung: „Und der hat s’ weiterverkauft an die blöde Gurken, die Franziska. Hast du des alles g’wusst?“
Renate schluchzte wieder auf. „I wollt dir’s eh sagen, aber i hab mi net traut. Komm, zisch mir ane, i habs verdient.“
„Warum hast di net traut?“
„Weil i Angst g’habt hab, du bist dann bös auf mi. Und i hab di so gern! Komm, zisch mir scho ane, vielleicht is mir dann besser.“
Einige Zeit saßen sie schweigend nebeneinander. Nur Renate schniefte manchmal.
„Wirklich?“, fragte dann Toni.
„Was, wirklich?“
„Du hast mi wirklich gern? I bin do nur a depperter Baraberer[18].“
Renate griff nach Tonis Hand und zog sie an ihre Lippen. „Du bist der beste Kerl, den’s überhaupt gibt!“
Toni strich ihr übers Haar. „Na ja, dann…“, meinte er. „Komm, fahr’ma ham, da is’ kalt, sonst verkühlst di no.“
„Und du bist mir gar net bös?“, fragte Renate ungläubig.
„Wegen die Bildln? Ah, geh! I hätt s’ doch eh sonst weg g’schmissen.“


Sie standen von der Bank auf und Hand in Hand gingen sie zu Tonis altem VW.
Drinnen im Nebenraum des Kurcafes hatte dummerweise die geschockte Franziska, geschmeichelt und irritiert von der Fürsorge des Bezirksvorstehers, diesem gegenüber zugegeben, dass die Gemälde nicht von ihr selbst gemalt worden waren. Das Geständnis war von einem Journalisten gehört worden und damit hatte die Klatschpresse eine wunderbare Story.


Der Schlagerstar Franziska brachte keine weitere CD mehr heraus und verschwand still von der Bildfläche, was aber dem kulturellen Leben Österreichs nicht allzu viel Schaden tat. Unter ihrem bürgerlichen Namen Lotte Huber hingegen machte Franziska dann doch noch eine eindrucksvolle Karriere.


Allerdings nicht als Künstlerin, sondern bei der Gewerkschaft der Privatangestellten.

Anmerkungen
[1] schwere Arbeit
[2] Spaß, Freude (Gaudium)
[3] umeheben = übers Ohr hauen
[4] Zigaretten
[5] Patschen strecken = sterben
[6] Tomate
[7] Entschuldigen Sie
[8] Schuhe
[9] etwa: irre Type
[10] aufdringlich
[11] gestopft = wohlhabend
[12] einfältiger Mensch
[13] Rübe (Kopf)
[14] Gestehe (speie es aus)
[15] weinen
[16] Haustetsche = Ohrfeige mit persönlicher Note
[17] davon gerannt
[18] Arbeiter

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