KunstGeschichten

KunstGeschichte: Grottenparty

So manchen architektonischen Schatz kann man aus kostentechnischen Gründen nur schwer erhalten. Oft geraten diese Kleinodien außerdem in Vergessenheit. Dabei sind Abrissbuden der letzte Schrei bei Partymachern. In seiner neuen KunstGeschichte führt uns Erich Wurth zu einem der verborgenen, doch gefährdeten Schätze Wiens.

Ist Ihnen schon aufgefallen, dass Wien kunsthistorisch gesehen gar nicht so viel zu bieten hat?
In den letzten dreihundert Jahren ist all das entstanden, was man den Touristen heute zeigt. In erster Linie barocke Kunstwerke, ob es jetzt die Architektur, die Plastik oder die Malerei betrifft, kann man den Besuchern demonstrieren.
Mittelalter? Renaissance? Fast nix! Außer vielleicht den wenigen Gemälden im Kunsthistorischen Museum und im Belvedere.

Was haben da nicht alles die Städte in Deutschland zu bieten! Nürnberg, Bamberg, na und erst Rothenburg ob der Tauber! Was gibt es da nicht alles an wunderbaren Sehenswürdigkeiten!
In Wien stehen zwar ein paar wenige interessante Häuser aus der Renaissance, aber man muss in den Innenhof, etwa vom Haus Bäckerstraße 7. Von außen sind Renaissancebauten kaum als solche zu erkennen. Alles hat man barockisiert.

Schön, man muss Wien zugute halten, dass es immer wieder Besucher gegeben hat, die nicht eingeladen waren und die ein infernalisches Vergnügen entwickelten, unsere Bauwerke möglichst kaputt zu machen. Das waren nicht einmal so sehr die Schweden im Dreißigjährigen Krieg, aber dann die Osmanen und die Franzosen und nach der Abreise all jener Truppen hieß es immer wieder: Schutt wegräumen und neu aufbauen.

Dass der gotische Dom noch steht, liegt daran, dass man 1529 und 1683 die Türken ganz einfach nicht in die Stadt gelassen hat. Obwohl sie ganz verbissen versucht haben, reinzukommen. Sie hätten mit Vergnügen eine Moschee aus dem Dom gemacht. Aber der Stephansdom mit Minaretten würde mir nicht so sehr gefallen...

Trotzdem: Um ehrlich zu sein, all die sinnlosen Kriege allein waren es nicht!
Nach 1690 hatten die Wiener ein bisschen Geld. Wie nach jedem Krieg florierte damals die Wirtschaft. Und wenn man Moneten hat, gibt man sie aus. Zum Beispiel modernisiert man.
Damals hat man alles aus Gotik und Renaissance weggeschmissen und etwas Barockes hingestellt. Musste sein! Was hätten denn die Nachbarn sonst gesagt?

Aber wirklich alles ist doch nicht zum Teufel gegangen. Manche konnten es sich leisten, einfach anderswo neu zu bauen und das alte Zeug verfallen zu lassen. Ist billiger als wegreißen.
Da gibt es zum Beispiel in Wien ein Renaissanceschloss, das niemand beachtet. Kein Tourist kriegt das jemals zu sehen.
Ja, die wenigsten Wiener kennen es überhaupt.

Wenn man – etwa mit der Straßenbahn Linie 71 – raus nach Simmering fährt, dann höchstens, um der Tante Mali zu Allerseelen ein paar Chrysantemen aufs Grab zu legen. In der Gewissheit, dass das Gemüse ohnehin gestohlen wird, möchte man möglichst rasch aus dem riesigen Zentralfriedhof wieder rauskommen. Würde man die Simmeringer Hauptstraße überqueren und am Krematorium vorüber nach Norden wandern, wäre man schon da: Schloss Neugebäude.

Dass niemand diesen kurzen Spaziergang macht, das liegt erstens an der Größe des Zentralfriedhofs, die jeden Besucher ermüdet (in Wien heißt es oft, der Zentralfriedhof wäre zwar nur halb so groß wie die Stadt Linz, aber doppelt so lustig) und – vor allem – am kläglichen Zustand des Schlosses.
1499 kam das Jagdschloss Ebersdorf an die Habsburger (jetzt heißt es Kaiser-Ebersdorf). Der festungsartige Bau wurde von Kaiser Maximilian II. umgebaut, aber wohl fühlte er sich offenbar dort immer noch nicht. Deshalb wurde in der Nähe des alten Schlosses ein Neubau geplant und im Gegensatz zum alten Schloss Ebersdorf »Neugebäude« genannt.

1568 wurde mit der Planung begonnen – und höchstwahrscheinlich sind Bauherr und Architekt identisch. Ein paar namhafte Italiener waren allerdings an der Planung beteiligt. Aber im Großen und Ganzen stammt der Gesamtentwurf mit ziemlicher Sicherheit von Maximilian selbst.
Es handelte sich um ein reines Lustschloss, denn Wohnräume waren gar nicht vorgesehen. Lediglich ein oder zwei Nächte wollte der Kaiser jeweils dort verbringen, nur knapp acht Kilometer von seinem Wiener Hauptwohnsitz, der Hofburg entfernt.
Maximilian erlebte die Fertigstellung nicht mehr. 1576 starb er. Sein Sohn, Rudolf II., ließ zwar zunächst noch weiter bauen, aber das Schloss hatte seinen Sinn verloren. Rudolf hielt sich meist in Prag auf und hatte keinen Bedarf an dem Gebäude.

Bald zeigten sich die ersten Verfallserscheinungen. 1683, als die Osmanen zum zweiten Mal Wien belagerten, verschonten die türkischen Truppen das Schloss. Es gab in der Türkei das Gerücht, 1529 hätte Sultan Suleyman gerade hier sein Hauptquartier für die Belagerung aufgeschlagen. Kara Mustafa ließ daraufhin das Schloss Neugebäude unversehrt, verwendete es als Lebensmittellager und ließ es deshalb sogar von seinen Truppen bewachen. Schon damals gab es offenbar so was wie Nostalgie.
1687 gab Kaiser Leopold I. den Befehl, das von den Türken arg verwüstete Schloss Schönbrunn im Westen Wiens durch Johann Bernhard Fischer von Erlach großartig auszubauen. Das Neugebäude war inzwischen offenbar nicht mehr zeitgemäß.

Die Kuruzzen, die ungarischen Aufständischen, fielen 1705 in Wien ein und wüteten ausgiebig im Schloss Neugebäude. 1752 übersiedelte man die Menagerie nach Schönbrunn und mit den Tieren hatte die Anlage ihren letzten Nutzen verloren.
Bis ins neunzehnte Jahrhundert dämmerten Schloss und Park unbenutzt vor sich hin, dann kam ein Labor der Artillerie hinein und außerdem wurde das Schloss als Pulvermagazin genutzt. In die Luft geflogen ist es zwar nicht, aber so eine Nutzung ist nicht grade das Ideale für ein historisches Bauwerk. Sogar Schienen wurden im Schlossgebäude verlegt!

Na, und jetzt steht also die Ruine wieder unbenutzt da und keiner hat das Geld, was draus zu machen. Zwar kümmert sich ein privater Verein darum, dass möglichst nicht noch mehr kaputtgeht (so ist zum Beispiel das Dach mittlerweile saniert), aber von einer umfassenden Restaurierung kann man nur träumen.

Marcel Schwertfeger kannte das Gebäude natürlich. Er war ganz in der Nähe aufgewachsen, in einem jener Neubauten an der Kaiser-Ebersdorfer Straße. Von dort zum Schloss Neugebäude sind es nur ein paar Minuten. Und schon, als Marcel noch im Kinderwagen saß, schob ihn seine Mutter öfter da zum Schloss hinauf. Das Schloss steht nämlich tatsächlich oben, am Rand des Abbruchs der Stadtterrasse zur Praterterrasse – und auch wenn der Höhenunterschied nur knapp zehn Meter beträgt, hier in der Ebene im Osten von Wien sind die Schotterterrassen der urzeitlichen Donau deutlich sichtbar.

Marcel war jetzt knapp zwanzig und ein durch und durch moderner junger Mann. Er hatte einen Job bei einer Versicherung gefunden, der ihn nicht sonderlich reizte, was ihn dazu veranlasste, vermehrt seinen Hobbys nachzugehen. Und auch in diesen unterschied er sich kaum von anderen jungen Männern seines Alters, denn er hätte wohl als Steckenpferde nur »Facebook, Partys und Rockmusik« angegeben.

Seine derzeitige weibliche Begleitung unterschied sich grundlegend von ihm. Maria Rohrmoser, knapp über 19 und mit langen, braunen Haaren, war eine sehr behütete Tochter aus gutem Haus, die gerade erst begonnen hatte zu studieren: Lehramt Philosophie und Geschichte. Maria war sehr kunstsinnig, beschäftigte sich viel mit Architektur und hielt nicht allzu viel von Marcels lauten »Events«. Nichtsdestoweniger machte sie bei solchen Partys mit, wenn auch nur, um ihrem Marcel den Gefallen zu tun.

Eines Tages im April holte Marcel seine Maria von der Wohnung ihrer Eltern im dreizehnten Bezirk ab und versprach, ihr was »ganz Cooles« zu zeigen. Die Fahrt in Marcels klapprigem VW ging über die Südosttangente hinaus nach Simmering und Maria hoffte schon ganz leise, Marcel würde sie seinen Eltern vorstellen, was auf gewisse ernstere Absichten hätte schließen lassen.

Aber Marcel fuhr stattdessen die Neugebäudestraße stadtauswärts und hielt vor einem unscheinbaren, ja geradezu hässlichen Gemäuer.
Maria war etwas konsterniert. Das sollte was »Cooles« sein? Das war ein großes, graues, desolates Gebäude, dessen Bestimmung nicht erkennbar war. Verputz war nur mehr wenig vorhanden, die Mauern präsentierten sich großteils als nackte Ziegelwände. Trotzdem folgte sie dem Marcel, der sie durch eine freie Fläche vor dem Bau führte und plötzlich standen sie im Urnenhain der Feuerhalle Wien.

Im Jahr 1922 hatte man hier, im Oberen Garten des Neugebäudes das erste Krematorium Österreichs gebaut, nachdem die Feuerbestattung lange Zeit von der Kirche verboten war. Der durchaus moderne Bau mit orientalischen Elementen von Clemens Holzmeister ist heute zwar keine Provokation mehr, führte aber damals zu der Redensart, dass die Gestaltung des Regierungsviertels in Ankara durch den selben Architekten die Rache Österreichs für die beiden Türkenbelagerungen wäre.

Maria Rohrmoser war etwas durcheinander. Was wollte Marcel eigentlich? Ihr den Zentralfriedhof auf der anderen Seite der Simmeringer Hauptstraße als »urcool« verkaufen?
Marcel rückte endlich mit der Sprache raus. Sie stünden im Oberen Garten des Neugebäudes und er habe eine Möglichkeit gefunden, in die Grotte des Schlosses zu gelangen. Und dort sollte es nächste Woche eine private Party geben. Sozusagen eine »Grottenparty«. Cool, nicht wahr? Ob Maria die Grotte sehen wolle?
Na, und ob sie das wollte!

Marcel betätigte sich als Führer durch das Gelände. An wie vielen Tafeln mit der Aufschrift »Betreten der Baustelle verboten« sie vorüber kamen, hätte Maria am Ende gar nicht sagen können. Aber es wurde nirgends gebaut. Also betraten sie ja gar keine Baustelle!
»Marcel, erzähl mir was über das alte Gemäuer da«, bat Maria während sie einen abenteuerlichen Weg vorbei an einigen Schutthaufen entlanggingen. Als Kind des Nobelbezirks Hietzing hatte sie noch nie von dem Schloss hier gehört.

Marcel wusste fast nichts.
Irgend so ein altes Grammel, angeblich ein Kaiser, habe das Schloss Neugebäude vor fünfhundert Jahren bauen lassen, so sage man. Aber der Kaiser habe die Patschen gestreckt, bevor das Schloss fertig war, deshalb verfalle es seither.
Marcel war zu jung, um die peinliche Geschichte des Atomkraftwerks Zwentendorf zu kennen, das gebaut wurde, bevor der damalige Bundeskanzler Dr. Kreisky einer Volksbefragung zugestimmt hatte. Das Volk stimmte dann mehrheitlich dagegen und seither gibt’s in Österreich ein Atomkraftwerk, das nie in Betrieb gegangen ist. Hätte das Marcel gewusst, hätte er wohl das Neugebäude als »Renaissance-Zwentendorf« bezeichnet.

Na, umfassend war die Auskunft Marcels für Maria ja nicht gerade, aber erstens sah sie jetzt die alten, grauen Mauern mit anderen Augen und zweitens beschloss sie, über das seltsame Bauwerk eine Recherche zu versuchen.
Aber zunächst betraten sie die »Grotte«.
Im Westflügel des Gebäudes liegt sie direkt unter dem so genannten Spaziersaal und besteht aus einer annähernd kreisförmigen Anordnung von Pfeilern mit tiefen Nischen in den Wänden und einer absichtlich unregelmäßigen Mauerung, wobei man viele Ziegel halb aus der Wand hatte herausragen lassen. Insgesamt entsteht damit trotz der unverputzten Wände tatsächlich der ungefähre Eindruck einer natürlichen Felshöhlung.

»Na? Was sagst? Obermegacool, oder? « Marcel war ganz begeistert von diesem Raum. »Schaut doch aus wie a Mischung aus Höhle und Geisterbahn. Dort drüben kommt der CD-Player hin, dort hinten die Boxen und in den Nischen da drüben baut der Ronny die Bar auf. Und dann: Lautstärke full power! «
Maria war etwas skeptisch. »Und das machst einfach so, ohne Genehmigung? «
»Ah was, Genehmigung! Die Bude g'hört ja eh niemand! Glaubst der alte Kaiser wird si' aufregen? Dem tut scho lang ka Ban mehr weh! «
»Aber die muss ja irgendwem g'hör'n, die Bude! «
»Bund oder Gemeinde, schätz i«, meinte Marcel, »Is mir aber wurscht. Kümmert si' eh kaner um den alten Ziegelhaufen. «
»Na, wie'st willst. I hab di' g'warnt. «
»Geh, da stör'n wir kein' Einzigen net! Die Toten drüben am Zenträu werd'n scho die Goschen halten und bis zu die Gemeindebauten hin hört man nix mehr. Da könn'ma wirklich die Booster voll blasen lassen! Des wird klass! Kommst eh am Freitag? «
Na, viel Lust dazu hatte Maria Rohrmoser ja nicht gerade, zumal sie die anderen Typen aus Marcels Freundeskreis großteils kannte. Aber es blieb ihr ja wohl nichts Anderes übrig.

Die Woche bis zur großen Grottenparty surfte Maria im Internet und fand eine ganze Menge Informationen über das Neugebäude. Etwa, dass es einst als eines der wichtigsten Gebäude des Manierismus gegolten hatte, also jenes Baustils, der den Übergang von der Spätrenaissance zum Frühbarock darstellt, dass es als Gesamtkunstwerk konzipiert war und dass es wahrscheinlich eines der schönsten Schlösser Europas geworden wäre, hätte man es fertiggestellt. Wasserspiele, eine große Anzahl von Skulpturen und Brunnen wären einstmals in den Gärten gestanden, besonders im oberen Baumgarten, den jetzt der Urnenhain des Krematoriums einnimmt. Sie erfuhr, dass einzelne Brunnen und sogar Säulen nach Schönbrunn geschafft worden wären und sogar die Gloriette unter Zuhilfenahme von Bauteilen des Neugebäudes errichtet worden war.

Das Schloss hatte sogar eine Menagerie und ein eigenes Ballspielhaus, in dem ein Sport betrieben wurde, der dem heutigen Tennis ähnelt. Kaiser Maximilian II. hatte nicht gespart, wenn es um sein Vergnügen ging.
Maria fand sogar im Internet die Abbildung des Gemäldes »Kaiserlicher Waldspaziergang mit Schloss Neugebäude im Hintergrund« von Lukas van Valkenborch, gemalt zwischen den Jahren 1590 und 1593, das jetzt im Kunsthistorischen Museum in Wien hängt, und in dem sich der Maler am linken Rand selbst porträtiert hat. Wenn das Schloss damals wirklich so ausgesehen hatte, dann war es tatsächlich ein beachtlicher Bau gewesen.

Und noch etwas erfuhr Maria. Die »Löwenhof« genannten Gebäude an der Nordseite des Schlosses sollen der Schauplatz jener Geschichte gewesen sein, die Adelbert von Chamisso in seinem Gedicht »Die Löwenbraut« beschrieben hat. Die Vertonung durch Robert Schumann im Jahre 1840 hat diese Begebenheit allgemein bekannt gemacht.
Nun, Chamissos »Löwenbraut« kannte Maria natürlich. Und jetzt wusste sie, wo sich die Sache abgespielt hatte.

Das alte, hässliche Gemäuer »Neugebäude« hatte ganz plötzlich einen besonderen Reiz für sie bekommen und sie nahm sich vor, bei der Party in der Grotte darauf zu achten, dass keiner von den »jungen Deppen« um Marcel Schaden am Bauwerk anrichtete.
Das erwies sich als gar nicht so einfach.
Maria fuhr am Freitag mit ihrem eigenen kleinen Auto hinaus nach Simmering, denn man konnte nie wissen, was und wie viel ihr Freund Marcel bei einer solchen Fete, wie sie in der Grotte geplant war, konsumieren würde.

Als sie beim Schloss eintraf, hörte sie ein rhythmisches Geräusch, dass sie erst nicht zuordnen konnte. Aber dann, als sie sich dem Zugang zur Grotte näherte, erkannte sie, was es war. Guns 'n' Roses, tatsächlich full power. Und als sie die Grotte schließlich betrat, nahm ihr der Lärm aus den acht riesigen Lautsprechern völlig den Atem.

Eine ganze Menge aus Marcels Bande war schon da: Jennifer Slezak stand an der in einer Nische aufgebauten Bar, sog an ihrem Joint und mischte gerade Red Bull mit Baccardi. Sie hatte bereits ihren stieren Blick und um sie herum stank es nach Tabak und Cannabis.
Der Indianer, dessen Name Maria gar nicht kannte, stand mit dem Rücken zu den acht Lautsprecherboxen und schüttelte sich derart im Rhythmus der E-Gitarren, dass es schien, seine Irokesenfrisur flöge davon.
Marcel saß in einer Ecke auf einem Campinghocker, schob sich etwas aus einer Schachtel Sushi zwischen die Zähne und spülte mit Bier aus der Flasche nach.

Maria spürte plötzlich eine tiefe Abneigung gegen all die durchgedrehten Typen hier. Aber es waren ja die Freunde ihres Marcel, also nickte sie jedem einzelnen davon zu. Mit Worten verständigen konnte man sich natürlich nicht. Der Lärm entsprach in etwa demjenigen eines startenden Eurofighters.
In einer Nische zwischen den unregelmäßigen Säulen tanzte Obama mit Whitney Karlovac. Den wirklichen Namen Obamas hatte Maria bereits gehört, sich aber nicht gemerkt. Er war ein in Wien geborener Mulatte westafrikanischer Abstammung und von ihm konnte man immer was zu kiffen kriegen. Mit der Whitney war er gerade im Clinch und wie sie sich bewegten, passte gar nicht zu der Nummer, die die Wände der Grotte erzittern ließ.

Jetzt hatte Marcel die Maria bemerkt und reichte ihr einen weiteren Karton Sushi. Dabei bewegte er die Lippen, aber verstehen konnte ihn Maria nicht.
Jetzt betrat noch jemand die Grotte. Es war Norman Seiwald und er hatte in einem Papiersack einige Hamburger mitgebracht. Als er eine der kleinen Pappschachteln aus dem Sack nahm und damit herumfuchtelte, ließ Obama seine Whitney einfach im Stich, um sich so ein Ding zu angeln. Er wand sich aus ihrer Umklammerung und strebte dem Norman zu, was aber Whitney gar nicht cool fand. Sie ging Obama nach und als dieser seinen Burger ausgepackt hatte und gerade hinein beißen wollte, nahm ihm Whitney den Burger einfach weg und schmiss ihn an die Wand.

Aus einer Nische im Hintergrund tauchte jetzt der Wrestler auf. Ein Bursche wie ein Schrank mit extra cooler Glatze und besonders löchrigen Jeans. Er lachte anscheinend und hieb Whitney kräftig auf die Schulter.
Maria lief erschrocken zu der Wand, gegen die das mit dem Fleischlaibchen und viel Ketchup gefüllte Gebäck gekracht war und begann, Ketchup, Zwiebelring und Gurkenscheibchen von dem vorstehenden halben Ziegel, auf dem das Zeug gelandet war, mit einem Papiertaschentuch wegzuputzen.

In dem Augenblick trat Stille ein. Guns 'n' Roses hielten für ein paar Sekunden die Schnauze.
»Spinnst, Mary? « Der Wrestler wunderte sich wohl, was die Maria da an der alten Ziegelwand herum putzte.
»Ihr könnt da net so ein' Saustall machen! «, warf Maria der Whitney vor.
Die kam provozierend auf Maria zu: »Und warum net, Depperte? «
»Uralte, denkmalgeschütze Wänd' da in dem Keller! «
»Na und? «
»Die darf man net demolieren! «

Ob den letzten Satz die Whitney gehört hatte, blieb unklar, denn Guns 'n' Roses legten wieder los.
Whitney Karlovac, kroatischer Abstammung, die tatsächlich von ihren Eltern, wahrscheinlich aus Aktualitätsgründen, den ungewöhnlichen Vornamen bekommen hatte, war an und für sich schon mit einem aufbrausenden Temperament gesegnet. Jetzt fühlte sie sich von Maria (die natürlich alle nur Mary nannten, sie waren ja alle soo modern) provoziert und packte sie an den langen, braunen Haaren.
Ronny kam hinter der Bar hervor, stieß Marcel an und deutete auf Whitney und Maria, die in einer kleinen Rangelei begriffen waren.

Natürlich griff Marcel ein. Da Guns 'n' Roses einen derartigen Lärm vollführten, dass eine Verständigung unmöglich war, blieben dem Marcel nur Gesten. Deshalb erhob er die flache Hand und kündigte so der Whitney eine »mordstrumm Watschen« an.

Whitney ließ Maria los und flüchtete zum Wrestler, da ihr früherer Klammerpartner Obama mit einem neuerlich aus dem Papiersack gefischten anderen Hamburger bereits wieder vollauf beschäftigt war.
Innerhalb von nur ganz wenigen Minuten entstand so ein Tumult, obwohl gar nicht gesprochen wurde. Allein die Gestik, die wütenden oder drohenden Gesichter brachten die Anwesenden gegeneinander auf. Nur die bereits ziemlich eingerauchte und besoffene Jennifer Slezak lehnte mit starrem Blick an einer Säule und genoss leicht grinsend die Situation. Sie hatte immer ihren Spaß, wenn sich andere gegenseitig die Schnauzen einschlugen.

Maria Rohrmoser verstand die Situation mittlerweile völlig richtig. Die Party in der Grotte war im Begriff zu kippen. Sie versuchte, zunächst einmal diesen infernalischen Lärm der E-Gitarren abzustellen und näherte sich dem an der Bar aufgebauten CD-Player. Aber Ronny hinderte sie daran, das als »Musik« bezeichnete Getöse abzustellen.

Als die erste Flasche Coca Cola gegen die Wand flog und einen Ziegel beschädigte, beschloss Maria, die »location« zu wechseln. Sie arbeitete sich durch die aufgebrachten Jugendlichen und forderte ihren Marcel durch Gesten auf, mitzukommen. Aber Marcel musste bereits mehr als eine Flasche Bier konsumiert haben. Denn er drehte Maria an den Schultern um und stieß sie in den Rücken.
Als Maria nun in Eile die Grotte verließ, knallte neben ihr ein Schnapsglas an die Wand und Scherben und Ziegelsplitter fielen zu Boden.

Maria lief zu ihrem Auto, stieg ein und wählte mit ihrem Handy den Polizeinotruf. Dem Beamten sagte sie nur, im Schloss Neugebäude wäre offenbar eine illegale Party im Gange und sie bat, den Lärm abzustellen.
Dann fuhr sie los, um in einiger Entfernung in der Neugebäudestraße auf den Funkwagen zu warten.
Der kam tatsächlich kurz darauf.

Während die beiden Polizisten die Grotte offenbar räumten, hatte Maria Gewissensbisse.
Sie hatte ihren Marcel verraten.
Um eine alte Bausubstanz zu schützen, hatte sie Marcel nicht nur den Spaß verdorben, sondern auch dessen Freunde in Schwierigkeiten gebracht. Denn dass irgendeiner der anwesenden Rockfans Cannabis bei sich hatte, war wohl klar.

Maria, die auch von Tabak nichts hielt und Alkohol mied, war ohnehin fehl am Platz zwischen all diesen Rockern, denen es nur wichtig war, »amerikanische« Namen zu tragen und auch sonst einfach »in« zu sein. Dass Marcel in so eine Gesellschaft geraten war, das hatte sie immer schon gestört.
Aber unerlaubt in ein Gebäude einzudringen, nur weil die »location« ungewöhnlich ist, und sich dort aufzuführen wie eine Eroberungsarmee, das war ja nun doch etwas zu viel.

Das alte Schloss hatte so etwas einfach nicht verdient. Und wenn sich Marcel jetzt so benehmen sollte, wie es der Löwe mit seiner vertrauten Herrin getan hatte, als sie sich von ihm verabschiedete, na das musste sie eben in Kauf nehmen.
Sehr lange musste Maria in ihrem Kleinwagen warten, bis der Polizeiwagen wieder an ihr vorüber fuhr. Und Maria glaubte, auf dem Rücksitz des Funkwagens zwei Gestalten gesehen zu haben.
Jetzt war sie doch sehr beunruhigt. Hatte man Marcel etwa mitgenommen? Sofort rief sie ihn am Handy an.

»Maria, wo steckst denn? Bist der Schmier ausg'kommen? Da hat sich wer wegen dem Lärm beschwert und uns die Kieberer g'schickt! « Marcel jammerte richtig am Telefon.
»I steh da mit'm Auto in der Neugebäudestraßen«, erklärte Maria.
»Na, Gott sei Dank! Kannst mi nach Haus bringen? Party is aus. Den Obama und die Jenny hat die Schmier mitg'nommen. Die haben noch Joints g'habt. «
»I komm z'rück zum Schloss«, versprach Maria, steckte das Handy weg und startete den Motor.

Marcel wartete schon auf sie am Ende der Neugebäudestraße.
»Wieso hab'n di' die Kieberer net 'kriegt? «, fragte Marcel, als er zu Maria ins Auto stieg.
»I hab dich ja eh ang'stossen, dass d' mitkommen sollst. Aber du hast mi' wegg'schoben«, erklärte Maria. »Da bin i halt allein raus. Hab 'glaubt, jetzt gibt’s gleich Tote. «
Marcel brummte nur. Nach einer Weile sagte er: »Möcht wissen, wer uns da verpfiffen hat! «
Es war ja nur eine kurze Strecke bis zu Marcels Elternhaus. Maria überlegte, ob sie die Wahrheit sagen sollte. Ja. Es hatte keinen Sinn, zu lügen.

»I war's«, gestand sie plötzlich.
»Du? Warum denn? « Marcel war völlig baff.
»Die hätten di' leicht erschlagen können, deine so genannten Freund'. Und außerdem haben s' die Mauern demoliert. «
»Na und? «, fragte Marcel verständnislos.
Da hielt Maria das Auto an und begann ihm über das Neugebäude zu erzählen. Zwar ohne Jahreszahlen (die hatte sie sich nicht gemerkt), aber doch mit vielen Einzelheiten. Auch von der Löwenbraut berichtete sie und diese Geschichte war Marcel natürlich unbekannt.
»Du, das war vor vierhundert Jahr' a richtiger Hammer, das Schloss. Eines der schönsten überhaupt! Mit phantastische Gärten! Wenn der Kaiser net ab'kratzt wär, wär das heute noch a Sensation! Und so a historisches Schloss wollen deine Haberer hin machen?«, schloss sie.

»Woher weißt denn du das alles?«, fragte Marcel.
»Im Internet gibt’s noch mehr, als deine geliebten Rocksongs auf youtube«, erklärte Maria. »Wie wär's einmal mit Wikipedia?«
»Musst mir die URL geben«, sagte Marcel. »Vielleicht schau i einmal rein.«
Aber das war alles, was er zu der missglückten Grottenparty zu sagen hatte.
Er benahm sich nicht wie der Löwe, der sein geliebtes Frauchen mit einem Tatzenhieb abgemurkst hatte, als es sich vor seiner Hochzeit von ihm verabschiedete.
Vielleicht haben sich die Zeiten seit dem sechzehnten Jahrhundert doch ein bisschen geändert. Wenn man in die Zeitung schaut, dürfte es zwar nicht so sein, aber wünschenswert wäre es.

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