KunstGeschichten

KunstGeschichte: Horoskope

Glauben Sie an Horoskope? Regine Reznicek tut es nicht – sie erstellt sie nur. Und eines Tages muss sie feststellen, welche Wirkung ihre Voraussagen entfalten können. Erich Wurth mit einer KunstGeschichte über Esoterik, Umweltschutz und Korruption.

Mors certa – hora incerta.
Die studentische Scherzübersetzung dieser Inschrift an der Leipziger Rathausuhr, nämlich »Todsicher geht die Uhr falsch« ist möglicherweise ein Ausdruck der resignierenden Hilflosigkeit gegenüber der unumstößlichen Wahrheit der Aussage: Der Tod ist sicher, die Stunde ungewiss.

Seit Menschengedenken hat man versucht, der Ungewissheit der Zukunft wenigstens zum Teil ihre Gnadenlosigkeit zu nehmen. Vergeblich. Der Blick in die Zukunft bleibt dem Menschen verwehrt. Daran ändern alle Versuche, den Lauf der Dinge aus Vorzeichen zu erschließen, nichts. Die Beobachtung des Vogelfluges bei den Römern und des Kaffeesudes bei den Roma späterer Zeit führte ebenso wenig zu brauchbaren Ergebnissen, wie das Studium des gestirnten Himmels.

Trotzdem hat das »Gesetz« des griechisch-ägyptischen Gottes Hermes Trismegistos »Wie oben, so unten« nie seine Faszination verloren, sowohl die Kirche als auch die Wissenschaft beißen sich daran die Zähne aus und der hermetische Grundsatz ist immer noch die Basis für ein florierendes Gewerbe.
Ob die Betreiber des Gewerbes nun an ihre Prophezeiungen und Horoskope glauben oder nicht, sei dahingestellt. Aus nahe liegenden Gründen geben sich natürlich alle überzeugt davon.

Hingegen, von der Gültigkeit der Horoskope überzeugt zu sein, ist für die Klientel der Astrologen und Wahrsager nicht unbedingt nötig. Hier liegen die Dinge ähnlich wie bei jener überzeugten Atheistin, die dem heiligen Antonius eine Kerze spendierte, weil »man schließlich nichts Genaues wisse«. Allein die Zahlungsbereitschaft ist das entscheidende Kriterium und für diese ist Überzeugung nicht unbedingt Voraussetzung.

Für Regine Reznicek begann die Tätigkeit in der Astrologie nicht gerade lukrativ, entwickelte sich später aber durchaus erfreulich. Begonnen hatte die Studentin der Informatik bereits im ersten Semester. Damals war sie mit einem Studenten der Publizistik liiert und dieser hatte eine Vorlesung über Zeitungsbetriebslehre inskribiert. Der Lehrbeauftragte, im Hauptberuf Redakteur eines Revolverblattes mit beachtlicher Auflage, benutzte seine Studenten für diverse Arbeiten, die vom Personal des Blattes nur ungern übernommen wurden – unter anderem zur Erstellung von Horoskopen.

Einen hauptberuflichen Journalisten mit dieser Tätigkeit zu betrauen, kam für den Dozenten Waldmann natürlich nicht in Frage, denn das hätte Kosten verursacht. Aber unter den Hörern seiner Vorlesung fanden sich immer welche, die für ein Honorar von zwei Kinokarten, die die Redaktion natürlich kostenlos von Filmverleihfirmen zur Verfügung gestellt bekam, bereit waren, Horoskope zu schreiben.

Regines Freund hatte zwar keinerlei Talent dafür, nichts sagende Phrasen interessant zu formulieren, aber Regine konnte das und übernahm gern ein bis zweimal im Monat die Mühe, im Rahmen einer vorgegebenen Zeichenzahl gute Ratschläge zu formulieren, wenn als Belohnung ein Abend mit Mark im Kino winkte, zumal immer die neuesten Streifen auf dem Programm standen.

Somit entstanden kleine, literarische Kunstwerke wie dieses:
»Heute dürfen Sie persönliche Interessen größer schreiben, doch hüten Sie sich davor, den Beruf zu vernachlässigen! Dann dürfen Sie sich aber reinen Gewissens in unterhaltsame Aktivitäten stürzen. Venus macht diesen Tag besonders geeignet zur Pflege von Bekanntschaften. Treffen Sie also spontan eine Verabredung! «

Diese 312 Buchstaben – mit Leerzeichen – lagen genau im Rahmen der vorgegebenen 300 bis 330 und erfüllten alle notwendigen Kriterien: Nicht zu konkret, nicht gegen die guten Sitten, im Grunde für jeden Tag zutreffend und trotzdem »ein gutes Horoskop«, das dem Leser die »Gunst der Sterne« suggeriert.
Regine hatte Talent für so etwas, sie schüttelte solche guten Ratschläge ohne Probleme aus dem Ärmel und klopfte eine Serie von zwölf Stück solcher »Prophezeiungen« in weniger als dreißig Minuten in ihren Computer.

Als dann nach nicht ganz zwei Jahren ihre Beziehung zu Mark endete, besaß sie eine ganze Sammlung von solchen Texten auf ihrer Festplatte. In ihrer ersten Wut, den Mark mit diesem hässlichen Besen Hildegard erwischt zu haben, wollte sie die Horoskope alle löschen, besann sich aber dann doch noch eines besseren. Vielleicht konnte man die Dinger noch brauchen.

Tatsächlich stellte sich später heraus, dass es ein Glück für sie war, die Horoskope aufbewahrt zu haben. Allerdings erst, nachdem sie Günter kennen gelernt hatte.
Günter Kapra war Maler und Bildhauer, studierte an der Kunstakademie und fiel besonders durch seinen blonden Vollbart auf. Seine Gemälde signierte er mit »Capricornus«, da er tatsächlich im Sternbild des Steinbocks geboren war und sein Familienname unzweifelhaft auf »Capra« – die Ziege – zurückzuführen sein musste.

Regine und Günter trafen einander erstmals auf einer Party, die irgendeine Studentengruppierung veranstaltete, die den Grünen nahe stand. Günter präsentierte sein neuestes Gemälde »Zukunft des Globus«, das eine Orgie in Rottönen war. Er war fest davon überzeugt, dass der Klimaerwärmung der Erde kein Einhalt mehr geboten werden könne, weil die Großkonzerne an ihrer Politik der Gewinnmaximierung eisern festhalten würden: Möge die Menschheit krepieren – die Zahlen hätten zu stimmen, die Dividende und der Aktienkurs! Deshalb hatte er sich bemüht, eine überhitzte Erde zu malen, was ihm auch eindrucksvoll gelungen war.

Regine war weniger von der Botschaft Günters fasziniert, als von seiner athletischen Erscheinung sowie von seinem blonden Bart und tatsächlich machte sie seine Bekanntschaft ohne Mühe.
Die Party fand in den Räumen der LRK statt, der »Liga für radikalen Klimaschutz«, einer Studentenorganisation im »Alten AKH«, jenem Krankenhausgebäude, das 1784 unter Kaiser Joseph II. eröffnet wurde und damals als eines der modernsten Spitäler Europas galt. Noch bis zum Anfang der Neunzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts als Klinik genutzt, steht der weitläufige Gebäudekomplex nun Studenten zur Verfügung und das Clublokal, in dem Günter sein neuestes Werk vorstellte, war eines der am gemütlichsten eingerichteten des ganzen Campus.

Günter, sein Gemälde auf einer Staffelei neben sich, saß in einem weichen, tiefen Lehnsessel, der zu einer Wohnlandschaft unweit der Bar gehörte. Um ihn hatten sich Bewunderer gruppiert, darunter nicht wenige junge Damen, die irgendwie uniformiert wirkten, denn ausnahmslos alle trugen Jeans. Günter war soeben dabei, einen südländisch aussehenden, etwa zwanzigjährigen Burschen zur Sau zu machen, denn als Regine sich der Gruppe näherte, hörte sie ihn sagen: »…total für’n Hugo[1], die idiotische Scharia! Dass Zinsen bei euch verboten san, ändert nix an der Tatsache, dass das Klima wegen Handel und Produktion im Arsch is und net weg’n die Kredite! Da nutzt so a g’schissener islamistischer Gottesstaat an großen Schaaß! «

Als Regine an den niedrigen Couchtisch trat, der im Zentrum der Gruppe stand, machte ihr eine ziemlich übergewichtige, junge Frau, deren Jeanshose kurz vor dem Platzen der Nähte zu sein schien, bereitwillig Platz und der diskutierende Künstler Günter wandte seinen Blick von dem jungen Moslem ab und betrachtete Regine mit offensichtlichem Wohlgefallen.
Regine hob sich auch von den anderen Studentinnen wohltuend ab, denn sie hatte an diesem Tag eine Prüfung absolviert und dafür die üblichen Jeans mit einem kurzen, schwarzen Rock vertauscht, was ihr auch prompt eine akzeptable Note eingetragen hatte.

Als sie sich neben die »Venus von Kilo«, die zur Seite gerückt war, setzte und dabei aufpasste, die Hose ihrer Nachbarin nicht durch eine unbedachte Berührung zur Explosion zu bringen, verteidigte der junge Mohammedaner gerade sein traditionelles Rechtssystem mit Argumenten, denen Günter keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Er sah nur mehr Regine an. Schließlich endete die Argumentation des Moslems, der sich in ein paar Widersprüche verrannt hatte, in einem Gestammel.

»Was sagen Sie dazu, Kollegin? «, fragte Günter Regine.
»Weiß net. Hab net auf’passt, bin grad erst dazug’stoßen«, entschuldigte sich diese.
»Macht nix«, sagte Günter. »Der Kollege Bin Laden junior verzapft sowieso nur große Scheiße. Unsern Planeten kann eh nix mehr retten und in hundert Jahr’ hamma a Klima wie auf der Venus« Dabei drehte er sich nach seinem Gemälde um.
»Schaut sehr nach Venus aus«, stellte Regine fest. »Alles in Rottönen. Die Farbe der Liebe. Könnte man auch ‚Venus im Steinbock’ nennen, wenn schon ‚Capricornus’ draufsteht auf dem Bild. «
Günter sah sie misstrauisch an. »Astrologie? «, fragte er. »Glauben S’ an den Humbug? «
Regine schüttelte den Kopf. »Trotzdem. Meine Horoskope sind noch immer alle hundertprozentig ein’troffen! «, sagte sie.
Günter sah sie länger forschend an. Dann rappelte er sich mit etwas Mühe aus dem tiefen Lehnsessel hoch. »Tschuldigen, Kollegen, i muss mir dringend a Krügel Bier in die Venen schmeißen«, sagte er zu der versammelten Runde. Und zu Regine: »Trinken Sie was, Kollegin? Das interessiert mich, was Sie grad g’sagt haben! Kommen S’ mit an die Bar? «
Regine nickte und stand auf, wobei sie wieder darauf achtete, im Sinne einer ganz gebliebenen Jeanshose ihre dicke Nachbarin nicht zu sehr zu erschüttern.

Nachdem Günter an der Bar einen G’spritzten für Regine und ein Krügel für sich bestellt hatte, fragte er interessiert, was es mit den Horoskopen auf sich habe.
Zur Demonstration erstellte ihm Regine eins:
»Venus sorgt heute dafür, dass sie eine starke Anziehungskraft auf das andere Geschlecht ausüben. Nützen Sie die Gelegenheit zur Selbstbestätigung, aber spielen Sie nicht mit Gefühlen. Eine unvorhergesehene Begegnung könnte Ihr Leben nachhaltig verändern, aber unternehmen Sie nichts, ohne sorgfältig Für und Wider abzuwägen. «
Günter machte große Augen. »Sie kennen ja mein Sternzeichen gar net! «, wunderte er sich dann.
»Is doch völlig wurscht«, gestand Regine. »Das Horoskop hat zwischen dreihundert und dreihundertdreißig Lettern mit Leerzeichen, so wie’s die Zeitungen brauchen. Und stimmen tut’s auch. «
»Prost! «, sagte Günter und nahm einen großen Schluck aus dem soeben servierten Bierglas, wobei er sich bemühte, seinen blonden, dichten Bart nicht mit Bierschaum zu verunzieren. »Nachzählen werd’ i die Buchstaben sicher net, ich glaub Ihnen. Mit Sternen hat das also gar nix zu tun? «
»Mehr mit Plattitüden als mit Planeten«, erklärte Regine.
»Und das Horoskop, das Sie grad erstellt haben, trifft zu, sagen Sie? «
»Hundertprozentig! «
Günter trank das Bier aus und lächelte Regine an. »Den Beweis dafür können S’ mir ganz leicht liefern. Die Luft da is zum Schneiden, ich muss a bisserl raus. Kommen S’ mit runter in’ Hof? Da könn’ ma uns viel besser unterhalten. «

Fünf Minuten später spazierten Regine und der Maler durch den weitläufigen Hof Eins des alten Allgemeinen Krankenhauses, der nun, nach der Eröffnung des neuen AKH und dem Abriss der nachträglich errichteten, barackenartigen Bauten für zusätzliche Institute wieder den ursprünglichen Charakter eines Parks erlangt hatte. Unter den Bäumen nahe dem Standbild des bedeutenden deutschen Chirurgen Theodor Billroth, der einst hier seine Wirkungsstätte hatte, nahmen sie auf einer Bank Platz. Nach einer halben Stunde wusste Günter Kapra bereits relativ viel über die Informatikstudentin Regine Reznicek und Regine erhielt die Gelegenheit, zu testen, wie sich der blonde, weiche Vollbart des Malers auf ihrer Gesichtshaut anfühlte. Das Ergebnis des Tests war überaus positiv – und Günter hatte seinen Beweis, dass das Horoskop tatsächlich stimmte, zumindest dessen erster Teil (von der Anziehungskraft auf das andere Geschlecht).

Wenn Günter sein Gemälde nicht aus dem Clublokal der Liga für radikalen Klimaschutz hätte holen müssen, wäre er mit Regine noch lange unter den Bäumen im nächtlichen Schatten des frühklassizistischen Krankenhausbaus gesessen und hätte in den Sternenhimmel gesehen, obwohl dieser wegen der Parkbeleuchtung und des Smogs über der Stadt nicht allzu eindrucksvoll war. Aber man vereinbarte ein Wiedersehen für den nächsten Abend und bekräftigte die Verabredung mit einem weiteren, intensiven Kuss.

So kam es in den folgenden Tagen schließlich zu der Zusammenarbeit zwischen dem Maler Günter Kapra und der Informatikstudentin Regine Reznicek. Günter hatte Probleme mit der Vermarktung seiner Gemälde. Es ist schließlich nicht jedermanns Sache, sich eine überhitzte Erde über die Couch zu hängen und so kam ihm Regines Idee, seine Kunst mit der Astrologie zu kombinieren, sehr gelegen. Für die Horoskope und den Verkauf der Bilder über das Internet sorgte Regine, Günter hatte lediglich zu malen.
Das war gar nicht so leicht! Regine stellte ihm Ausdrucke ihrer auf der Festplatte gesammelten Horoskope zur Verfügung, Günter sollte jeweils ein Gemälde draus machen.

Lange grübelte er zum Beispiel über folgendem Text: »Die etwas verfahrene Situation wird sich lösen, sobald Sie den richtigen Einfall haben. Partner sind immer gut, aber achten Sie auf Neider. Versuchen Sie, zwischen echten und falschen Freunden zu unterscheiden, aber akzeptieren Sie auch einmal die Meinung anderer und bleiben Sie vor allen Dingen gelassen.«
Diese dreihundertsechs Lettern mit Leerzeichen, ideal für Zeitungsfritzen, waren seinerzeit von Regine nicht dazu entworfen worden, sie in einem Gemälde optisch umzusetzen. Günter fertigte vier Entwürfe an, dann legte er den Text beiseite, fluchte ein bisschen und machte sich stattdessen an die Arbeit, einfach die den einzelnen Tierkreiszeichen nachgesagten Eigenschaften (und natürlich deren uralte, alchimistischen Symbole) in möglichst kräftigen Farben darzustellen. Wenn der Verkauf einmal anlief, war es gut, einen gewissen Vorrat an Ware verfügbar zu haben.

Es dauerte auch gar nicht lange, da liefen bei Regine, die sich um die Homepage professionell kümmerte, die ersten Bestellungen ein.
Herr Brauneder, ein verwitweter, vierundachtzigjähriger Großindustrieller, dessen sechsundzwanzigjähriger Freundin es angesichts des Bankkontos und der Lebensversicherung ihres Verehrers unter Aufbietung all ihres Raffinements gelungen war, ihm einen Heiratsantrag abzuluchsen, bestellte ein Ölgemälde, das die gemeinsame Zukunft der beiden, Waage und Zwilling, zum Gegenstand haben sollte. Regine drängte Günter zu rascher Arbeit, denn der Käufer sollte immerhin noch bezahlen, bevor ihm der Holzpyjama verpasst werden musste. Allerdings verbat sich Regine Motive wie Särge, Urnen oder Grabsteine auf dem Bild, obwohl es die Zukunftserwartungen darstellen sollte.

Der Maler Capricornus lieferte ein Meisterwerk. Das Gemälde war der Wiener Schule des Fantastischen Realismus zuzurechnen, allerdings mit impressionistischen und abstrakten Elementen, welches den etwas skurrilen Geschmack des alten Kapitalisten haargenau traf. Das führte dazu, dass eine mit diesem bekannte alte Dame, Frau Isolde Blaha, auf den talentierten Astrologiemaler aufmerksam wurde. Frau Blaha war nach dem Ableben ihres Gatten die Hauptaktionärin der Blaha AG, eines Mischkonzerns, der aber den größten Teil der Gewinne mit dem Tourismus erwirtschaftete. Allerdings beschränkte sich Frau Blaha darauf, mit den Erträgen der geerbten Firmenanteile ihr aufwändiges und behagliches Leben zu finanzieren und griff gewöhnlich nicht in die Geschicke des Unternehmens ein.

Isolde Blaha war stinkreich und stockkonservativ. Der bloße Anblick eines Computers löste bei ihr nervöse Krämpfe aus, weshalb sie sich weigerte, mit dem Künstler Capricornus via Internet in Verbindung zu treten und auf einer persönlichen Unterredung beharrte, die dann durch Vermittlung des vierundachtzigjährigen, heiratswilligen Industriellen Brauneder tatsächlich zustande kam.
Capricornus – Günter Kapra – beeindruckte mit seinem blonden Vollbart auch die knapp achtzigjährige Isolde ungeheuer und die alte Dame benahm sich beinahe wie ein Backfisch, als Günter sie besuchte und von ihr genötigt wurde, in dem luxuriösen Wohnzimmer ihrer Villa schräg an ihrer Seite in einem tiefen, weichen Lehnsessel Platz zu nehmen.

»I hab’s ja immer g’wusst, wenn feinfühlige Menschen wie Künstler sich mit Astrologie beschäftigen, dann kommt was Vernünftiges raus«, ging sie Günter um den blonden Bart. »Können S’ meine Aussichten für die nächsten Jahre in ein’ Bild z’samm’fassen? Dann hab i’s immer vor Augen und kann mi’ dran halten. «
»Ich werd’s versuchen, gnä’ Frau«, versprach Günter. »Obwohl so was net alle Aspekte berücksichtigen kann. «
»Klar! Halt nur das Wichtigste! Also, ich bin Löwe, Aszendent Stier. Was sagt denn das Horoskop?«

Günter hatte von Regines Ausdrucken etwa hundert Blätter in einer Mappe mit und begann nun, diese durchzublättern. Gespannt sah ihm Frau Blaha zu.
Dann zog Günter aufs Geratewohl ein Blatt heraus und las: »Die Monotonie des Alltags macht Sie mitunter etwas melancholisch. Durchbrechen Sie die üblichen Abläufe und lassen Sie Ihrer Kreativität freien Lauf. Die Zuwendung auf ein neues Ziel wird Ihnen viel Freude bringen und eine Spende für einen guten Zweck kann Ihnen dank Merkurs Einfluss reichlichen Gewinn bescheren. 314 m. L. «
‚Scheiße!’, dachte Günter. ‚Das is nix. Wie mal i das?’ Er wollte das Blatt gerade wieder in der Mappe verschwinden lassen, als Frau Blaha, die offenbar noch ausgezeichnete Augen hatte und zumindest ein Bruchstück des Textes mitgelesen haben musste, aufgeregt fragte: »Was steht da von Merkur? Das is’ a wichtiger Planet für mi’! Darf i? « Und damit griff sie nach dem Blatt, das ihr Günter widerstrebend überlassen musste.

Frau Blaha las tatsächlich ohne Brille. »Stimmt! «, rief sie dann. »Das mit der Melancholie stimmt hundertprozentig! Sie san a Wahnsinn, Herr Capricornus! Na, dann stimmt alles andere auch! «
»Ja, aber ich frag mich, wie ich das malen soll…«, meinte Günter verlegen.
»Na, ja, wenn ich Ihnen da Vorschläg’ machen dürft’? «, sagte Frau Blaha und wirkte dabei irgendwie wie ein junges, schüchternes Mädchen, was so gar nicht zu ihrem Aussehen passte. »Nur, sagen S’, was soll das 314 m. L. heißen? « Dabei zeigte Isolde Blaha auf die letzte Zeile des Textes.

Günter war ein bisschen überrumpelt. 314 m. L. bedeutete natürlich, dass der Text 314 Buchstaben inklusive Leerzeichen umfasste und somit genau in den vorgegebenen Rahmen der Zeitung passte. Aber das konnte er natürlich nicht zugeben.
Stockend sagte er: »Das is der Indikator für Löwe mit Aszendent Stier. So genau kenn’ i mi da auch net aus. Wissen S’, Frau Blaha, die Horoskope berechne i net selber, das macht die Frau Reznicek, a gute Bekannte von mir. Die hat jahrelang Astrologie studiert. I mal nur. «
»A gute Bekannte? A sehr gute Bekannte? Ihr’ Freundin vielleicht? «
»Na ja, man könnt’ fast so sagen…«
»Dann lassen S’ die Frau nimmer aus, Herr Capricornus! Wenn wer solche Horoskope machen kann, dann ist das a besondere Gnade! Mit der Frau werden S’ sehr glücklich werden, Herr Capricornus. « Dabei schniefte Frau Blaha ein bisschen, so als ob sie gerührt wäre über ihre eigene Großzügigkeit, zu entsagen und den blondbärtigen, athletischen Mann einer anderen, jüngeren Frau zu überlassen.
Günter fühlte sich plötzlich leicht unbehaglich in der Gesellschaft der verrückten Alten. Aber dann wurde Isolde Blaha wieder sachlich: »So, und das Bild stell ich mir ungefähr so vor: Links a Trauerweide als Symbol für die Melancholie und rechts…« Sie erging sich in diversen, klischeehaften Symbolen, widerrief ihre Entwürfe wieder und begann von neuem, bis sie schließlich mit der Floskel endete: »Na so was in der Art halt. Das überlass i natürlich ihnen! «

»Ich werd’ mir was überlegen«, versprach Günter und war bereits im Begriff aufzustehen, als Isolde noch mit einer Frage kam: »Und die Spende? Wem soll i was spenden? «
»Welche Spende? «
»Na, von der im Horoskop die Rede is! «
»Ach so. Na da gibt’s doch genug Möglichkeiten. Suchen Sie sich halt eine aus. «
»Das geht net! Sie müssen mir sagen, wem i was spenden soll! Geld hab i genug! Aber wem i’s geben soll, das muss mir a Experte sagen! Was meinen denn die Planeten? «
Günter setzte sich wieder. Das war ja was ganz Neues! Die spinnerte Alte hätte es bestimmt akzeptiert, wenn er einfach gesagt hätte: »Geb’n Sie’s halt mir. « Aber das widerstrebte ihm, das wäre schändlich gewesen.

Trotzdem ritt Günter plötzlich der Teufel. Nach kurzer Überlegung sagte er: »Ich kenn da schon eine Organisation, die dringend Mittel braucht, damit s’ unsern eigenen Planeten retten kann. Die LRK, die Liga für radikalen Klimaschutz. «
»Was machen die? Radikal kling net sehr gut! «, meinte Isolde Blaha zweifelnd.
»Die machen so was Ähnliches wie Greenpeace«, erklärte Günter. »Die wollen die Treibhausgase bekämpfen und Energie sparen. Sonst schaut die Erde bald so aus! « Damit überreichte er Isolde ein Foto seines Werkes »Zukunft des Globus«, das seinerzeit bei der Party im AKH irgendein Funktionär der LRK fotografiert hatte und das er immer bei sich trug.
Isolde war beeindruckt. »Das macht die Klimaerwärmung? «, fragte sie ungläubig.
»Jawohl!«, behauptete Günter mit Nachdruck. »All die dicken Geländeautos und Großraumlimousinen, die die Leut’ heutzutag’ haben müssen, weil’s modern is’; all die Freizeitgeräte, die Energie fressen, Motorboote und Gokarts und was weiß der Teufel was noch. Die Wälder, die das CO2 binden könnten, holzt man ab und bald schaut der Globus wirklich so aus!«
Isolde war betroffen. »Abholzung«, murmelte sie. »Und der Tichy will in Kärnten den Wald umhauen für das neue Hotel.« Sie zeigte auf das Foto. »Sagen das die Sterne, das mit dem Klima?«
»Net nur die Sterne, sondern alle Klimatologen und Meteorologen sagen das!«
Isolde war erschüttert. »Also soll man den Wald in Ruh lassen?«

Jetzt war Günter betroffen, weil die alte Dame so nachdenklich geworden war. »Na ja«, lenkte er ein. »Der Verkehr is das Hauptproblem. Aber der Wald muss schon auch geschützt werden!«
Isolde stand auf und ging zu einer eleganten, sehr alten Kommode, deren Schublade sie öffnete. »Gut, i spend’ denen was. Können Sie ein’ Scheck für die übernehmen?«
Sie entnahm der Lade ein Scheckheft und stellte, an der Kommode stehend, einen Scheck aus, wobei sie sich nicht einmal hinunter beugen musste, um die Schrift zu sehen. Dann kam sie zu Günter zurück und überreichte ihm das Papier.
Wäre Günter nicht gesessen, es hätte ihn umgeschmissen. Der Scheck war auf den Betrag von fünfundzwanzigtausend Euro ausgestellt.
»Das is… das is ja…«, stammelte er.
»Ja, net viel, i weiß. Aber für’n Anfang halt«, sagte Isolde Blaha. »Wenn i das Bild hab, geb’ ich Ihnen noch ein’ Scheck.«

Günter hatte Mühe, seine Fassung zu bewahren, so sehr hatte ihn die Spende aus dem Gleichgewicht gebracht. Auf der Heimfahrt mit der Straßenbahn (Günter besaß kein Auto) fühlte er immer wieder das Bedürfnis, den Scheck aus der Brieftasche zu holen und nachzusehen, ob er real und kein Traum war. Er unterließ es aber, um nicht aufzufallen.

Noch am selben Tag begann Günter mit dem Entwurf für das Gemälde.
Wenn die verrückte Blaha eine Trauerweide wollte, na schön. Günter platzierte sie am linken Bildrand, wie die reiche Alte das vorgeschlagen hatte. Der Rest der Motivgestaltung war dann bedeutend schwieriger…

Einige Tage später rief dann ein gewisser Rudolf Tichy an, stellte sich als Direktor eines von Isolde Blahas Unternehmen vor und bat Günter um eine Unterredung im Rahmen einer kleinen Präsentation. Ein Fahrer der Alpine Recreation Resorts, eines Hotel- und Touristikunternehmens im Verband der Blaha Gruppe, werde ihn am nächsten Tag abends abholen.
Günter hatte zwar keine Ahnung, was dieser Tichy mit dem Bild für Isolde Blaha zu tun hatte, aber eingedenk der großzügigen Spende seiner Kundin sagte er zu.

Der Fahrer, der zum angekündigten Zeitpunkt erschien, trug einen Smoking und Günter sah sich deshalb gezwungen, doch zumindest den Hemdkragen zuzuknöpfen und eiligst eine Krawatte umzubinden. Dann brachte ihn der dicke, silberfarbene BMW in den neunzehnten Bezirk zu einer Villa in Sievering, nahe der Höhenstraße.

Direktor Tichy war das typische Exemplar eines Topmanagers: Ein jugendlich wirkender, schlanker Sechziger mit angenehmer Stimme. Seine Frau war mindestens fünfzehn Jahre jünger als er, benahm sich überaus zuvorkommend und schien einiges von Malerei zu verstehen.

Günter wurde in den Salon gebeten, erhielt ein Glas Sherry und das Gespräch drehte sich zunächst um den Expressionismus. Dann zog sich Frau Tichy zurück, kümmerte sich noch um einen Imbiss und überließ das Feld ihrem Mann.

Direktor Tichy bat Günter vor die Leinwand einer Heimkinoanlage und führte zunächst seinem Gast einen professionell gemachten Film über die Alpine Recreation Resorts GmbH vor. Gleich im Anschluss daran ließ er einen Film über das nächste Projekt seines Unternehmens laufen: In den Nockbergen Kärntens sollte ein ganzer Berghang abgeholzt werden und auf künstlichen Terrassen eine ganze Anlage von Hotelbungalows entstehen, mit eigenem Thermalbad und hoteleigener Skiabfahrt, die Einheimischen und Tagesgästen nicht zur Verfügung stehen sollte. Die betuchte Prominenz sollte unter sich bleiben können.
Günter war gegen seinen Willen beeindruckt, fragte aber trotzdem, ob auch eine hoteleigene Unfallklinik geplant wäre, damit die gebrochenen Haxen der Reichen und Schönen unter Ausschluss der nicht standesgemäßen Öffentlichkeit eingegipst werden könnten.

Direktor Tichy lächelte säuerlich: »Dazu wird’s wohl nicht mehr kommen. Seit Sie unserer Hauptaktionärin den Floh mit dem Klimaschutz ins Ohr gesetzt haben, ist Frau Blaha strikt gegen das Projekt. Und die alte Dame verfügt über eine Sperrminorität.«
Günter verstand endlich den Zweck der Einladung.
»Finden Sie nicht, dass Bäume wichtiger sind als prominente Hotelgäste?«, fragte er, gab sich aber gleich selbst die Antwort: »Nein, das finden Sie sicher nicht, Herr Tichy, weil Bäume nix zahlen dafür, dass sie dort sein dürfen.«
»Wir wollen ja nicht alle umschmeißen!«, sagte Tichy. »Zwischen den Bungalows können genug davon stehen bleiben. Und vergessen Sie nicht den Nutzen für die Region!«
»Ich kenn’ die Region«, wandte Günter ein. »Und ich glaub’ nicht, dass die Hotellerie von Bad Kleinkirchheim am Hungertuch nagt.«
»Wir wollten ja auch nicht in Bad Kleinkirchheim bauen, sondern zwanzig Kilometer weiter.«
»Ja, eine Autobahn für Lawinen!«, wandte Günter ein.
»Den Lawinenschutz lassen Sie unsere Sorge sein. Sie sehen das alles viel zu einseitig! Bitte schauen Sie sich den Film an, den ich für Sie vorbereitet hab. Hat die BBC gedreht und nicht eine Werbeagentur!« Damit schaltete Tichy den Projektor wieder ein.

Die Dokumentation dauerte etwa vierzig Minuten.
Zunächst wurden die Durchschnittstemperaturen der letzten Jahrhunderte grafisch dargestellt. Demnach war es im Spätmittelalter noch wesentlich wärmer als heute, dann setzte eine kleine »Zwischeneiszeit« ein, die bis etwa zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dauerte. Weiters wurde behauptet, es gäbe keinen Beweis dafür, dass Kohlendioxyd tatsächlich für den Treibhauseffekt verantwortlich wäre und schließlich vertrat ein britischer Wissenschaftler vehement die These, dass für die derzeitige globale Erwärmung die Sonnenfleckentätigkeit verantwortlich sei.

Günter wurde aber erst nachdenklich, als darüber berichtet wurde, dass mittlerweile ganze Industrien von der Angst vor einer Klimakatastrophe profitieren würden, etwa die Betreiber der angeblich sauberen Atomkraftwerke, aber auch Produzenten von Biotreibstoffen, die aufgrund des Rohstoffbedarfs den Lebensmittelmarkt durcheinander brachten. Regierungen würden mittlerweile Forschungsprojekte nur mehr finanzieren, wenn diesen ein »Klimaschutzmäntelchen« umgehängt bekämen.

Als Direktor Tichy den Projektor schließlich abschaltete, saß Günter still da, ließ sich den Bart wachsen und wusste nicht, was er dazu sagen sollte.
Im Gegensatz zu ihm wusste Tichy sehr wohl, was er zu sagen hatte! Erst gute eineinhalb Stunden später verabschiedete sich Günter und wurde im silbernen BMW wieder nach Hause gefahren.
Günters nächste beide Wochen waren gekennzeichnet von angestrengter Arbeit. Regine sah er nicht, telefonierte aber mehrmals täglich mit ihr. Die Astro-Kunst Website entwickelte sich gut und Regine lieferte dem Künstler Capricornus täglich mindestens einen Auftrag. Langsam ergab sich eine richtige Warteliste mit bestellten Kunstwerken. Trotzdem lieferte Günter sehr bald das Gemälde für Isolde Blaha ab, das er aber völlig neu konzipiert hatte. Nur die Trauerweide am linken Bildrand war geblieben.

Als ihn gegen Ende der beiden Wochen Regine anrief, hatte sie keinen neuen Auftrag für ihn, sondern etwas ganz anderes: »Günter, Kuschelbart, wir fahren übers Wochenende weg!«, verkündete sie.
»Wäre schön, aber i hab ka Zeit! Du hast mich mit Arbeit ein’deckt«, lehnte Günter bedauernd ab.
»Blödsinn! Kommt doch nicht drauf an, auf die zwei Tag, die die Leut’ dann länger warten auf deine Bilder!«
»Zwei Tage? Wohin?«
»Nur auf den Semmering. Einladung von einem Mäzen! Luxushotel mit allem teuren Schnickschnack. Ideal dort zum Sterngucken!«
»Warum Sterngucken? Was geh’n dich die Sterne an?«
»Na hör einmal! Ich bin Astrologin!«
»Du hast doch selbst g’sagt, dass Astrologie mit Sternen nix zu tun hat!«
»Na ja, wer weiß? Außerdem möcht’ ich mit dir was besprechen.«
»Auf dem Semmering?«
»Warum nicht? Ist doch romantisch dort! Komm, sag schon ja, Kuschelbart! Ich hol’ dich am Samstag in der Früh ab. Und ein neues Nachthemd hab ich auch, aus Seide, das sieht man fast gar nicht.«
Das war immerhin ein Argument, gegen das man kaum etwas vorbringen konnte. Günter seufzte und sagte dann: »Na, dann is’ der teure Schnickschnack im Hotel aber echt für’n Hugo… Wann geht’s los am Samstag?«
»Ich bin um neun bei dir. Und dass du mir ja net das Malzeug mitnimmst!«

Tatsächlich ließ Günter Leinwand, Farben und Pinsel zu Hause. Nur eine kleine Reisetasche reichte ihm als Gepäck für die zwei Tage.
Regine erschien am Samstag bereits einige Minuten vor neun, aber Günter war schon fertig zur Abfahrt und da es sowohl auf der A2 als auch auf der S6 relativ wenig Verkehr gab, konnte Regine ihren kleinen, alten Japaner ungehindert laufen lassen.
Etwa eine Stunde später, noch vor der Einfahrt zum Semmeringtunnel fuhr Regine von der Autobahn bei Maria Schutz ab und benützte die alte Bundesstraße bis zum Pass.
Das Hotel lag abseits des Ortszentrums und unterhalb der Passhöhe. Sie mussten am Hotel »Panhans« vorbei, um die »Villa Sonnwendstein« zu erreichen, die nahe dem Bahnhof lag.

Günter war beeindruckt von dem alten Gebäude, das aus der Zeit um 1880 stammen musste und offensichtlich nur eine sehr beschränkte Zahl von Gästen aufnehmen konnte. Der dazugehörige Parkplatz war nicht groß, aber es standen einige sehr exklusive Schlitten da, sogar ein Maybach war darunter.
Regine zögerte, ihren Kleinwagen da zu parken. »Hoffentlich wird die alte Schüssel net als Sperrmüll entsorgt«, meinte sie, als sie dann doch ihren Wagen neben einem dicken Mercedes abstellte.

Die alte Villa war aufwändig renoviert worden und als sie zur Rezeption kamen, hatte Günter das Gefühl, um eineinhalb Jahrhunderte zurückversetzt worden zu sein. Empfangen wurden Regine und er mit der leicht distanzierten Höflichkeit, die für einen Hotelbetrieb dieser Klasse typisch ist.

Als Günter die Anmeldung ausfüllte, schob ihm der Portier ein verschlossenes Kuvert zu. »Sie sind doch Herr Capricornus, nehme ich an.«, sagte er.
Überrascht nahm Günter den Briefumschlag entgegen. Kein Absender, keine Briefmarke. Er steckte den Umschlag in die Tasche.

Ein Page brachte sie zu ihrem Zimmer im zweiten Stock und Günter sah sich genötigt, ihm ein Zweieurostück in die Hand zu drücken. Es war zwar kein Appartement, aber sehr geräumig, mit allem Komfort und Balkon, von dem aus man zum Sonnwendstein hinüber sah. Allerdings hatte Günter im Moment keinen Sinn für die Aussicht, sondern öffnete den Umschlag, den er an der Rezeption erhalten hatte.

»Sie sollten heute ausnahmsweise Ihr Horoskop beachten! Schönen Aufenthalt!« Mehr stand nicht auf dem einzelnen, weißen Blatt, das der Umschlag enthielt.
Günter reichte Regine, die bereits ihre Reisetasche auspackte, das Blatt: »Hast du eine Ahnung, was das heißen könnte?«, fragte er.
Regine unterbrach ihre Tätigkeit, las und zuckte die Schultern. »Is aber kein schlechter Rat«, meinte sie.
»Von wem stammt denn das? Wer hat uns denn überhaupt hierher eing’laden?« wollte Günter wissen.
»Die Besitzerin. Frau Isolde Blaha. Du hast ihr doch das Bild g’malt, dafür wollt’ sie sich bedanken.«
»Glaubst, der Wisch is von ihr?«, fragte Günter misstrauisch.
»Kann i mir net vorstellen«, sagte Regine. »Vergiss den Brief jetzt. Wollen wir gleich rausgehen, oder soll ich dir erst mein neues Nachthemd zeigen? Nach der Fahrt wär a Dusche nämlich gar net schlecht.«
»Dusche klingt gut«, stimmte Günter zu und Regine verschwand im Bad.

Das kleine Nichts aus fast durchsichtiger Seide, mit dem sie wieder aus dem Badezimmer kam, erwies sich als äußerst hinderlich für ihre ursprüngliche Absicht, einen Spaziergang durch den Ort zu unternehmen. Günter hängte das »Bitte nicht stören«-Zeichen vor die Zimmertür und dann beschäftigten sich die beiden intensiv miteinander, bis Mittag längst vorüber war.
»Kuschelbart, willst das ganze Wochenend’ im Bett bleiben?«, fragte Regine schließlich.
»Hätte nix dagegen«, brummte Günter.
»Da hätt’ma z’Haus bleiben können auch«, gab Regine zu bedenken. Also unternahmen sie doch noch einen Spaziergang.

Der Ort Semmering ist eigentlich gar kein Dorf, sondern eine Ansammlung von luxuriösen Villen und Wochenendhäusern aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die in knapp tausend Metern Seehöhe die Berghänge bedecken. Nach der Fertigstellung der Eisenbahn über den Semmering im Jahr 1854 wurde das Gebiet von den wohlhabenden Wienern entdeckt und binnen kürzester Zeit war es für die Neureichen und den Adel unumgänglich geworden, sich dort eine möglichst luxuriöse Bleibe für die Sommerfrische zu errichten. Der Bildhauer Franz Schönthaler als erster Bauherr auf dem Semmering hatte gemeinsam mit dem Architekten Franz Neumann und dem Schweizer Bautechnikprofessor Ernst Georg Gladbach ein Gebäude errichtet, das den nachfolgenden Ansiedlern als Vorbild diente und die »Sommerfrischenarchitektur« des Semmering begründete.

Prominente Gäste gab es damals hier. Außer Mitgliedern des Kaiserhauses hielten sich unter anderen Adolf Loos, Peter Altenberg, Oskar Kokoschka und Karl Kraus hier auf.
Im zwanzigsten Jahrhundert büßte die Gegend einen Großteil ihrer Attraktivität ein, da sie einfach zu nahe an Wien lag und es jetzt moderner war, weiter entfernte Ferienziele aufzusuchen. Erst seit kurzem hat sich das geändert und das Gebiet erlebt eine beachtliche Renaissance.

Anstelle des verpassten Mittagessens »zelebrierten« Regine und Günter eine Kaffeejause, dann wanderten sie lange Zeit durch den Ort und Regine versuchte, sich vorzustellen, wer die Bauherren der einzelnen Villen gewesen sein konnten. Später stiegen sie dann hinunter zum Bahnhof mit dem Denkmal für den Erbauer der Bahnstrecke, Ghegha und die etwa tausend Toten, die der Bahnbau seinerzeit gefordert hatte, hauptsächlich Opfer einer Choleraepidemie unter den Arbeitern.

Sie setzten sich auf eine Bank, sahen den gemächlich vorbeifahrenden Zügen zu und genossen die beschauliche Ruhe des kleinen Bahnhofes inmitten der Berge. Langsam wurde es dunkel – den ganzen Nachmittag waren sie auf den Beinen gewesen.
Als die ersten Sterne sichtbar wurden, fragte Günter: »Was hast denn g’meint mit’m Sterngucken, neulich am Telefon?«
»Dass i dir dein Horoskop erstell’n werd’, heute«, antwortete Regine.
»Also, ich bitte darum«, forderte Günter auf. Regine lehnte sich auf der Bank zurück und sah nach oben.
»Willst mitschreiben?«
Günter schüttelte den Kopf. »Das merk ich mir schon.«
»Sie haben die Fronten gewechselt«, begann Regine. »Bevor Sie sich allerdings für die Zukunft festlegen, bedenken Sie, dass man mit Statistiken alles beweisen kann und dass es die Konzerne mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Die Wissenschaft dient mitunter kommerziellen Interessen! Bleiben Sie ehrlich und hüten Sie sich vor Korruption!«

Günter saß minutenlang da und sagte kein Wort. Er war froh, dass es bereits recht dunkel war und Regine nicht sehen konnte, dass er blass geworden war.
»Was hat dir die Blaha erzählt?«, fragte er dann mit etwas gepresster Stimme.
»Alles«, bekannte Regine. »Schau, Kuschelbart, mir persönlich is es ja wurscht! I versteh zu wenig vom Klimawandel. Kann sein, dass der Al Gore Recht hat mit dem Kohlendioxyd, kann sein, die andern haben Recht, die sagen, das hat damit nix z’tun. Aber die alte Blaha weiß net, was’ tun soll. Sie hat mich g’fragt, ob sich die Sterne manchmal a Horoskop noch einmal überlegen können. Das glaubt s’ nämlich net. Warum hast mi’ net g’fragt, Kuschelbart, bevor’st ihr das Bild g’liefert hast und das neue Horoskop?«
Regine zog ein Blatt Papier aus ihrer Handtasche. »Das is nämlich gar net schlecht formuliert!«

Sie las: »'Sie erfreuen sich bester Gesundheit und Merkur ist Ihnen günstig. Geben Sie doch auch Anderen die Chance, in angenehmer Atmosphäre etwas für ihre Gesundheit zu tun. Sie haben es in der Hand! Wenn Sie sich für ein lang geplantes Projekt entscheiden, winkt neben materiellem Lohn eine tief befriedigende Partnerschaft.' Hast den richtigen Nerv erwischt bei der alten Blaha mit der Partnerschaft. Aber das Bild war a bisserl zuviel. Die Trauerweide is ja schön und gut, aber auf der anderen Seiten den Hotelkomplex hast genau so g'malt, wie ihn der Tichy entworfen hat! Das Projekt kennt die Blaha natürlich auch!«
»Scheiße«, murmelte Günter und ließ den Kopf hängen.
»I hoff’, du schmeißt mi jetzt net vor’n nächsten Zug, wenn i dich frag’, was dir der Tichy dafür zahlt hat«, sagte Regine.
»Zwanzigtausend«, sagte Günter leise.
»Und die fünfundzwanzig Spende von der Blaha, die’st auch eing’steckt hast«, stellte Regine sachlich fest. »Die Radikalen wissen nämlich nix davon. A schöner Batzen Flins[2]. Was wolltest dir denn kaufen drum?«
»Na ja, vielleicht a Auto. Und im Winter wollt i dich einladen auf die Malediven oder nach Hawaii«, gestand Günter. »Zwei Wochen mindestens.«
Regine lachte. »A Auto! Ein’ dicken Jeep vielleicht, du radikaler Umweltschützer? Und a Fernreise mit mir! Dann bin eigentlich ich schuld, dass d’ deine Umweltschützer beschissen hast! Aber das kann man noch reparieren.«
»Wie denn?« Günters Stimme klang einigermaßen verzweifelt.

»Mal der Blaha das Bild so, wie sie sich’s vorg’stellt hat, zahl dem Tichy die zwanzigtausend z’rück und liefer’ die Spende an die radikalen Klimaschützer im AKH ab! Mit der Blaha red’ i dann schon. Berechnungsfehler im Horoskop, der Astrocomputer is abg’stürzt oder so was, das versteht s’ eh net.«
»Und der Tichy?«
»Na, der wird dich halt ein’ bucklerten Hund nennen. Macht’s was? Dafür bleibt der Wald in Kärnten steh’n und die Viecher dort hab’n a Freud! Zu viel Wald kann man nämlich bestimmt net haben.«
»Und die Malediven?«, fragte Günter unglücklich.
»Pfeif auf die Sandflöh’! I krieg die alte Blaha schon so weit, dass s’ uns im Winter zwei Wochen da in die Villa Sonnwendstein einlad’t. Die hab’n a Hallenbad da und a Sauna und a Solarium. Schlecht?«

Ein Schnellzug kam aus dem Semmeringtunnel, durchfuhr den Bahnhof und begann den Abstieg nach Gloggnitz. Die Spurkränze der Räder quietschten in der engen Kurve nach dem Bahnsteig und der Lärm machte eine Antwort nicht möglich.
Stattdessen griff sich Günter Regine und küsste sie voll Leidenschaft.
»Komm. Es wird kühl«, sagte er dann. »Und dein Nachthemd musst mir auch noch zeigen!«
»Das kennst ja schon!«
»So? Kann mich net erinnern! Da muss mich was abg’lenkt haben. Hab mir net g’merkt, wie’s ausschaut.«
»Wüstling!«, schimpfte Regine. Aber sie stand bereitwillig auf.
Hand in Hand legten sie den Anstieg zu ihrem Hotel zurück. Als sie beinah angekommen waren, fragte Günter: »Das geheimnisvolle Kuvert heut Vormittag war von dir?«
Regine nickte. »Gemein von mir, net?«
Und etwas später fügte sie hinzu: »Weißt, a Meinung kann man ändern, das is mir schon klar. Aber gut überlegen sollt’ man sich das. Und vor allem, man sollt’ sich net was zahlen lassen für’s Meinung ändern!«

Anmerkungen:

[1] sinnlos
[2] Geld

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