KunstGeschichten

KunstGeschichte: Katastrophenbilder

Stefan Rumpold arbeitet als Werbegrafiker in einer Firma, die Killerspiele produziert. Auch privat malt er Gewaltszenen, die viele Betrachter anwidern. Eines Tages legt ihm eine Frau in seiner Ausstellung eine Therapie nahe. Doch als er sich mit ihr treffen will, geraten beide selbst in ein Rumpold-Gemälde. Erich Wurth über Grauslichkeiten, Gemetzel und Gewalt.

Stefan Rumpold malte ausschließlich Hässliches.
Das bezieht sich jetzt nicht auf den Malstil, die Farben oder Ähnliches. Malen konnte er nämlich, sogar ganz ausgezeichnet, wie manche behaupteten. Das „Hässliche“ bezieht sich ausschließlich auf seine Motive.

Stefan hatte von klein auf immer gerne gemalt. Erst natürlich mit Wasserfarben, später kam er auf die Acrylmalerei. Er verwendete als Untergrund so genannte Holzfaserplatten, die den Vorteil hatten, billig zu sein und die man selbst leicht in alle gewünschte Formate zurecht sägen konnte. Und er malte sehr realistisch. Seine Bilder erinnerten an Fotos.

Stefan war jetzt dreiundzwanzig und hatte das Glück gehabt, trotz seiner mangelnden Schulbildung einen Job zu finden, in dem er seine Malerei sogar ein bisschen zu Geld machen konnte. Er war eine eher untergeordnete Bürokraft in einem Unternehmen mit der Bezeichnung HFGames, wobei die Buchstaben H und F hard fight bedeuteten. Herr Bruno Mitwalsky, der geschäftsführende Gesellschafter, schätzte den Stefan vor allem wegen seines grafischen Talents. Im Büro war er hingegen nicht viel wert.
Der Chef erteilte dem Stefan nämlich oft Aufträge, Szenen aus seinen Computerspielen, in denen es nur darum ging, den Gegner abzumurksen, für deren Verpackung grafisch umzusetzen.
Stefan lieferte dann Acrylbilder der gewünschten Szenen, die wesentlich mehr Details enthielten, als die Software liefern konnte. Da zerriss es den bösen Feind in mehrere Einzelteile oder der Feind zerplatzte in einem Feuerball, aber das Blut spritzte immer reichlich in der Gegend herum.

Für die Erstellung der Verpackungsgrafik erhielt Stefan zwar nur einen Pappenstiel, aber Herr Mitwalsky ermöglichte stattdessen dem Stefan, seine übrigen Bilder auszustellen. (Das kostete ihn kaum etwas und hielt seinen Verpackungsgrafiker bei der Stange.)
Also Ausstellungen waren kein Problem für Stefan. Allerdings war es für die Besucher ein Problem, sich die gezeigten Acrylbilder anzusehen! Denn Stefan malte ausschließlich Grauslichkeiten.

Erst jetzt, Ende Februar, hatte er von seinem Chef wieder die Möglichkeit erhalten, in einem kleinen, unbenutzten Saal eine Ausstellung zu zeigen. Es waren zwar nur etwa fünfzig Gemälde darin unterzubringen, aber die hatten es in sich!
Etwa war da auf einem recht breiten Bild ein zum Teil noch brennendes, zerschelltes Flugzeug zu sehen. Teilweise verkohlte und verstümmelte Leichen in erheblichen Stückzahlen lagen um die Unglücksstelle und zwischen den Flugzeugtrümmern. Für den Betrachter nicht gerade erbaulich.
Der ganze kleine Ausstellungssaal, ein ehemaliges Kino, war erfüllt mit Eisenbahnunfällen, Bränden, überschlagenen Autos, vielen, sogar sehr vielen Explosionen und mehreren, mit erstaunlicher Detailliebe dargestellten Leichen.

Heute war Stefan Rumpold wieder einmal persönlich in dem Ausstellungsraum anwesend. Er wanderte die Front seiner Gemälde entlang und freute sich über den Gesichtsausdruck der meisten Besucher. Viele gingen bereits, nachdem sie die ersten drei, vier Bilder gesehen hatten.

Vor einem schmalen, aber hohen Bild, das in einer Blutlache eine männliche Leiche mit einem Messer im Hals zeigte, standen eine junge Frau und ein sehr junges Mädchen. Das Mädchen konnte noch keine sechzehn sein, war aber mit viel schwarzer Farbe intensiv geschminkt und aus ihrem Gesicht stachen nur die grellen, dunkelrot gefärbten Lippen hervor. Es war völlig schwarz in Leder gekleidet, trug schwarze Springerstiefel und hatte mehrere Piercings in der Unterlippe. Ihr glattes, natürlich ebenfalls tiefschwarzes Haar war schulterlang.

Stefan wunderte sich ein bisschen, denn die Subkultur der Gothics hat ja ihren Höhepunkt längst überschritten. Das Mädchen schien trotzdem noch einiges von dieser Szene zu halten.
„Nein, wir gehen jetzt“, sagte die junge Frau soeben.
„Das is aber geil da“, widersprach das Mädchen.
„Julia, Gewalt tut dir net gut! Das weißt doch! Wenn ich das geahnt hätt', dass da zugeht wie in einer Prosektur, hätt ich dich nie da her 'bracht.“
„Geh, Miriam, da gibt’s ja gar ka Gewalt! Is nur geil!“ Das Mädchen ging weiter zum nächsten Bild, einer Massenkarambolage auf einer Autobahn.
Stefan trat auf die junge Frau zu: „Die sind alle zum Verkaufen, die Bilder“, sagte er. „Interesse? Ich mach Ihnen ein' guten Preis – i bin der Maler.“
Die junge Frau sah ihn spöttisch an: „I werd mir doch keine Leichen an die Wand hängen!“
Stefan zuckte mit den Schultern: „Zeitgeist“, sagte er. „Es is nimmer modern, nur schöne Sachen anschaun. Is doch meistens Kitsch!“
„Da is mir ein schöner Kitsch aber lieber als Ihre grausliche Realität“, meinte die junge Frau.
„Dann dürfen S' fernsehen aa net! Richtige Krimis gibt’s ja fast nimmer. Meistens is der Kommissar heutzutag a Leichenfledderer. I mein, einer der Leiche obduziert.“
„Fernsehen tu i eh net“, gestand Miriam. „Viel zu gewalttätig!“
„Hab'n Sie was gegen Gewalt?“

Miriam fischte eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und reichte sie Stefan. „Miriam Heinzel – Liga zur Prävention von Gewaltdelikten“ stand drauf. Aber noch während Stefan die Karte las, ging Miriam rasch ihrer jungen Begleiterin nach, die einige Meter weiter genüsslich einen gigantischen Explosionsblitz betrachtete, der einige menschliche Körper durch die Luft schleuderte.
„Julia! Jetzt komm endlich! Wir geh'n noch woanders hin“, rief sie.
„Vielleicht ins Kasperltheater“, spottete Stefan. „Aber passen S' auf, vielleicht frisst den Kasperl das Krokodil!“

Miriam drehte sich zu Stefan um: „Machen Sie sich nur lustig, Herr - “, sie schaute auf die Signatur des ihr am nächsten hängenden Bildes - „Herr Rappold! Die Julia da soll ich betreuen, damit sie nimmer mit Halbstarke rauft!“
„Rumpold heiß i“, verbesserte Stefan. Er deutete auf das Bild mit der Explosion und sagte:“ Auf meine Bilder rumpelt's nämlich oft!“
„Ja“, sagte Miriam. „Vielleicht sollt' ich mich mit Ihnen einmal unterhalten. Über Gewalt!“
„Gern“, meinte Stefan. „I geb Ihnen mei' Telefonnummer im Büro.“ Auf einer zerknüllten Quittung eines Supermarkts, den Stefan in der Hosentasche fand, schrieb er die Nummer und überreichte Miriam den Zettel.

Als Miriam mit ihrem Schützling Julia abzog, sah Stefan den beiden lang hinterher. Er wunderte sich ein wenig, dass er einem Treffen mit Miriam so ohne Bedenken zugestimmt hatte. Sie hatte ja den Grund genannt: Sie wollte Stefan offenbar zur Gewaltlosigkeit bekehren.
Aber Miriam sah gut aus und wirkte sympathisch. Und vor der Gefahr, von ihr bekehrt zu werden, fürchtete sich Stefan nicht im Geringsten.

Stefan Rumpold war einer jener modernen jungen Leute, die über ein geradezu unwahrscheinliches Selbstwertgefühl verfügen. In den Castingshows der Privatfernsehsender, etwa den Staffeln von DSDS, sieht man immer wieder solche Burschen und Mädchen, die davon überzeugt sind, mit ihrem Talent und den einfachen „Songs“, die alle in Molltonarten gehalten und großteils ohne musikalischen Einfälle sind, dem Publikum die Millionen aus der Tasche zu ziehen.

Stefan Rumpold war nicht nur davon überzeugt, der kommende Maler zu sein, sondern er betrachtete sich als so etwas wie „Superman“. Sämtliche Kampftechniken hatte er „im kleinen Finger“, schon allein deshalb, weil er die Spiele der Firma HFGames alle beherrschte. Und die waren gar nicht einfach zu spielen, denn die bösen Gegner steckten voller gemeiner, raffinierter Tricks. Wenn er also per Spielkonsole und Computer der Bösewichte Herr wurde, dann in Wirklichkeit natürlich auch!

Stefan hielt es gar nicht für notwendig, einmal irgendeine Kampfsportart auszuprobieren. Er war eben ein Naturtalent. Dass er damit natürlich allen anderen überlegen war, daran hatte er keinerlei Zweifel. Wozu also sich anstrengen?

Na und der Miriam, diesem verweichlichten Weibsbild, der würde er auch noch klar machen, dass man heutzutage hart zu sein hatte! Die Zeit der harmlosen Unterhaltung im Fernsehen war vorüber! Katastrophenfilme waren in! In den Krimiserien wurden verstümmelte, schockierend aussehende Leichen obduziert. Das ist halt die Realität! Pfeif doch auf süßen Kitsch und Romantik!
Seichte Schlager waren out, jetzt sagten die Rapper schonungslos dem Zuhörer, was mit den Gutmenschen, den Spießbürgern und Weicheiern zu geschehen hatte. Und Melodie brauchten sie dabei auch nicht mehr. Rhythmus ist alles! Harter Rhythmus! Rap oder Heavy Metal.

Stefan Rappold wurde aus seinen Gedanken gerissen, als ein offenbar reicher Ausstellungsbesucher ein Gemälde erstehen wollte. Es war die äußerst farbenprächtige Explosion eines Gebäudes und der junge Mann, der das Bild haben wollte, schien den Beruf „Sohn“ zu haben. Er trug Markenjeans und hatte das dunkelblonde Haar mit Unmengen von Haargel in senkrechte Stellung frisiert. Zweifellos ein moderner junger Mann, der das hintergründige Genie des Malers erkannt hatte! Stefan war mit dem Abend höchst zufrieden.

Am nächsten Tag schon rief Miriam Heinzel bei HFGames an. Stefan freute sich richtig, als er das Gespräch entgegennahm. Er würde dieser schreckhaften Tussi schon klar machen, dass ihre weiche
Masche heutzutage nichts mehr galt.

Miriam lud Stefan in ein Café im dreizehnten Bezirk ein. Sie arbeite im dreiundzwanzigsten und von ihrem Arbeitsplatz könne sie bequem mit der Straßenbahn Linie 60 dort hin kommen. Ob ihm 19 Uhr recht wäre?
Stefan sagte sofort zu.

Natürlich kriegte er zunächst keinen Parkplatz und Miriam war schon da, als er nach einem kurzen Marsch durch die Dunkelheit endlich das Café betrat.

„Na, wieder ein paar halb verweste Leichen g'malt?“, wurde Stefan gefragt, als er sich an Miriams Tisch setzte. Er schüttelte den Kopf.
„Keine Zeit g'habt. Haben Sie auch was gegen Leichen? Hab nur geglaubt, Sie sind gegen Gewalt.“
„Auch vergammelte Leichen sind net schön!“, behauptete Miriam.
„Aber existieren tun s' trotzdem!“, wandte Stefan ein.
„Und deshalb muss man s' malen?“, wunderte sich Miriam.
„Warum sollte man sie nicht malen?“
„Weil s' grauslich sind!“
„Man muss sich halt auch an das Grausliche gewöhnen.“
Miriam sah Stefan groß an: „Warum denn?“
„Na, wollen Sie a naives, verweichlichtes Trutscherl bleiben? Nur die Härtesten kommen durch! Hart im Austeilen und hart im Nehmen muss man heutzutag' sein! Man darf net so tun, als ob's Gewalt gar net gibt! Man muss sich der Gewalt stellen!“

Miriams Blick wurde spöttisch. „Ja, so wie die Julia, auf die ich a bisserl aufpassen soll. Wissen S', was die g'macht hat, die blöde Gurke? Mit Halbstarken hat sie sich ang'legt. Die hat richtig g'rauft mit denen. Und jetzt muss sie immer ihre Ohrwascheln mit die Haar' zudecken. Die hat nämlich so große Ring' in die Ohren g'habt – und die hat man ihr raus g'rissen! Wissen S', wie das ausschaut? Junges Mädel mit halberten Ohrwascheln?“
„Immerhin hat sich Ihre Freundin g'stellt! Das war mutig!“

„Ah, was!“ Miriam war leicht entrüstet. „Das war deppert! Jetzt hat s' was von ihrem Mut! Zwei halbe Ohrmuscheln! Und die tät das sicher wieder! Deshalb soll ich s' ja betreuen. Dass die jungen Leut' heut alle so aggressiv sind! Vielleicht ist da das Fernsehen schuld dran, oder das Kino oder die Computerspiele.“
„Sagen S' nix gegen Computerspiele! Unsere Firma entwickelt solche Spiele. Und die sind alle sehr lehrreich! Da lernt man, dass man zuschlagen muss, wenn einer einem blöd kommt!“
„Eben“, lachte Miriam. „Also sind's die Computerspiele!“
„Verstehn S' denn net?“ Stefan bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Wenn Ihnen einer blöd kommt, müssen S' ihm eine auflegen! Sonst hat er keinen Respekt vor Ihnen!“
„Pfeif auf'n Respekt. Wozu ist denn der gut?“
Stefan war verblüfft. „Ja, legen Sie kein' Wert auf Anerkennung?“
„Ah, wenn man wem die Zähnd einschlagt, wird man anerkannt?“, fragte sie fast giftig.
„Logisch“, sagte Stefan. „Wenn Sie's net tun, werd'n S' ausg'lacht.“
„Das is mir egal.“ Miriam sagte das mit Überzeugung. Dann fügte sie hinzu: „Tun Ihnen die Leut' net Leid, denen Sie die Birne einschlagen?“
„Leid?“ Stefan lachte. „I tu denen ja auch net Leid! Außerdem is es immer besser, die anderen haben a Loch im Schädel als ich!“
„Sie sind nicht nur ein Egoist, Sie sind auch ein Staatsfeind“, stellte Miriam fest.
„Staatsfeind?“ Jetzt wurde Stefan fast ein wenig böse. „Warum denn?“
„Weil Sie das staatliche Gewaltmonopol nicht anerkennen! Sie wollen der Polizei ins Handwerk pfuschen!“
„Der Staat mischt sich eh viel zu viel in alles ein“, tat Stefan die Anschuldigung ab.
„Ihnen ist alles egal, nur Sie selber nicht!“, sagte Miriam resigniert.
„Jeder denkt halt nur an sich – ich alleine denk an mich“, rezitierte Stefan fröhlich. „Und das ist auch gut so. Da käm' ich schön weit, wenn ich auf all die Rindviecher Rücksicht nehmen tät.“

Miriam sah Stefan lange wortlos an. Dann meinte sie, mehr zu sich selbst: „Was mach ich mit Ihnen? Ich glaub nämlich nicht, dass Sie ein schlechter Kerl sind. Nur a bisserl dumm vielleicht, was andere Leute betrifft.“
„Und Sie sind – entschuldigen schon – ganz bestimmt ein bisserl naiv“, stellte Stefan fest.
„Okay. Ich geb's auf. Aber darf ich Ihnen nächste Woche noch was zeigen? Kommen S' mich einmal nach Dienstschluss im Büro besuchen?“
„Was wollen S' mir denn zeigen?“
„Sag ich Ihnen noch nicht. Sie werden ja selber sehen.“
Stefan war amüsiert. Also gab sie doch noch nicht auf! Sie wollte ihn mit irgend etwas überzeugen.
„In Ordnung“, sagte er lächelnd. „Aber es könnt' sein, dass Sie sich hinterher für ein' Karatekurs anmelden.“
„Das Risiko nehm' ich in Kauf“, meinte Miriam und schrieb eine Mobiltelefonnummer auf einen Zettel, den sie aus der Handtasche nahm. „Speisinger Straße 121 – ich schreib's Ihnen dazu. Rufen S' mich an, wenn S' dort sind. Sonst finden S' mich net, es sind so ungefähr dreißig Firmen dort auf'm Gelände.“

Dann winkte Miriam dem Kellner, bestand darauf, ihren Kaffee selbst zu bezahlen und verließ das Lokal.
Stefan fühlte sich ganz eigenartig. Diese Miriam war ein durchaus beachtenswertes Mädel. Schade nur, dass sie so ein Hasenfuß war. Ein richtiger Feigling!

War sie das wirklich? Stefan fiel wieder ein, wie bestimmt sie ihren Standpunkt vertreten hatte. Es schien fast, als ob sie tatsächlich jegliche Gewalt aus innerer Überzeugung ablehnte.
Na, jedenfalls war der erste Punkt an ihn, Stefan, gegangen. Was sie ihm jetzt noch zeigen wollte? Sicher keine Gewalt, die lehnte sie ja ab. Stefan war sehr gespannt aufs nächste Treffen mit dem Mädel.
Es dauerte diesmal ganze vier Tage, da rief Miriam den Stefan wieder an. Und die Zusammenkunft wurde für kommenden Dienstag vereinbart.

Stefan kam nicht sehr oft in diese Gegend Wiens, wo er Miriam treffen sollte. Er selbst wohnte im siebzehnten Bezirk. Trotzdem fand er rasch die Speisinger Straße, die die Stadtteile Speising und Mauer miteinander verbindet. Stefan hielt Ausschau nach irgendeinem Bürogebäude, fand jedoch nichts. Die leicht ansteigende Straße wies nach den städtischen Wohnbauten aus den Dreißiger Jahren in weiterem Verlauf hauptsächlich niedrige Einfamilienhäuser auf.

Sein Navigationsgerät führte ihn schließlich zur Nummer 121. Es war ein Einfahrtstor in einer Mauer, die das Grundstück zur Straße hin abschloss.
Stefan hatte keine Ahnung, wie viele einstige Berühmtheiten bereits durch dieses Tor gegangen waren. Seit 1919 bestehen hier die „Rosenhügel-Filmstudios“.

Nie hatte diese Filmproduktionsstätte die Bedeutung, die Hollywood, Berlin, München oder Rom für sich in Anspruch nehmen konnten. Aber es wurden hier immerhin Streifen gedreht, die jahrelang in den Kinos des deutschsprachigen Raums liefen. Sämtliche Publikumslieblinge hatten hier gearbeitet – und nach wie vor sendet der Österreichische Rundfunk an Samstagnachmittagen die alten österreichischen Filme, davon ein Großteil hier am Rosenhügel gedreht.
Diese Zeiten sind selbstverständlich endgültig vorüber. Allerdings bestehen die Anlagen hier noch und werden an moderne Filmproduktionen vermietet.

Noch auf dem Gehsteig der Speisinger Straße wählte Stefan Miriams Handynummer. Sie bat um ein paar Sekunden Zeit, sie werde sofort zum Tor kommen.
Zunächst fragte Miriam den Stefan, ob er wisse, wo er hier wäre. Stefan hatte natürlich keine Ahnung.
Daraufhin führte ihn Miriam ein wenig auf dem Gelände herum, wobei Stefan in der fortgeschrittenen, abendlichen Dunkelheit nicht viel erkennen konnte. Sie erzählte dabei aus der Glanzzeit der Studios und es stellte sich heraus, dass Stefan mit Namen wie Hans Moser, Willi Forst, oder Paula Wessely nichts anfangen konnte. Ja nicht einmal mehr Romy Schneider war ihm bekannt.
Er war eben ein moderner junger Mann, der für die alten „Schmachtfetzen“ nichts übrig hatte. Bei Stefan musste viel geschossen werden und noch mehr explodieren, damit ein Film den Anspruch auf Qualität erheben konnte.

Als Miriam Stefan dann in die Haupthalle bat und ihn zu ihrem Büro im Obergeschoß führen wollte, wurden sie überfallen.
Es waren vier Männer. Alle sahen wenig vertrauenerweckend aus. Maskiert waren sie allerdings nicht.
Miriam, die hysterisch um Hilfe rief, wurde von zweien dieser Kerle weg gebracht. Die anderen beiden machten den Stefan fertig.

Dem half gegen die beiden brutalen Typen seine natürlichen Begabung zum Superman natürlich überhaupt nichts, zumal er ja nur ein theoretischer Kämpfer war. Er hatte zwar halbherzig versucht, seinen beiden Gegnern die Nasen einzuschlagen, diese zeigten sich aber wesentlich gewandter als Stefan und nach wenigen Sekunden hatte der Maler nicht nur einige gewaltige Ohrfeigen abgekriegt, sondern auch noch die Hände auf den Rücken gebunden.

So schaffte man ihn in die große Haupthalle des Studios. Dort brannte nur gedämpftes Licht, man fesselte Stefans Beine und legte ihn auf einen flachen Stapel leerer und auseinander gefalteter Kartons.

Dann kamen die anderen beiden Gangster, die Miriam offenbar irgendwo anders abgelegt hatten. Sie hätten die Kasse bereits gefunden, meldete einer von ihnen.
Dann wäre es Zeit, sich zurückzuziehen, schlug ein anderer vor. Und um die Einbruchsspuren zu verwischen, wäre es sicher gut, die ganze Bude hier anzuzünden. Es wäre genug brennbares Material hier vorhanden und um das alte Filmstudio wäre es nicht schade.

„Und die zwei Typen?“, fragte einer. Der Einwand zeigte immerhin, dass anscheinend einer von den Vieren doch besorgt um Miriam und Stefan war.
Das wäre nicht ihr Problem, meinte der andere, der der Anführer zu sein schien. Das hysterische Weibsstück läge im Dachgeschoß und hätte immerhin eine kleine Chance, rechtzeitig gefunden zu werden. Und der Hampelmann, der Schnösel, der so frech gewesen war, sich zu wehren, der solle hier ein bisschen braten. Wäre sicher eine neue Erfahrung für ihn.

Zu Stefans Entsetzen stimmten die anderen drei zu. Zwei von ihnen näherten sich dem bewegungsunfähigen Maler und schlangen noch einige Elektrokabel um ihn, die sie sorgfältig verknoteten. Stefan wand sich hilflos. Er wollte die vier Verbrecher mit den ausgesuchtesten Schimpfnamen belegen, aber seinem Mund entrang sich nur die Bitte, ihn loszubinden.
Natürlich erntete er nur boshaftes Gelächter.

Dann verschwanden sie. Einer schien sich außerhalb von Stefans Gesichtsfeld zu bemühen, ein Feuer zu entfachen. Mehrmals hörte Stefan ein Feuerzeug klicken. Und dann sah er plötzlich am entgegengesetzten Ende der Halle Feuerschein. Und dann hörte er die Tür zufallen.

Vergeblich versuchte Stefan, sich so weit aufzurichten, dass er sehen konnte, was dort hinten vor sich ging. Aber er fiel immer wieder auf seine Unterlage aus Karton zurück.
Panisch riss er an seinen Fesseln. Aber die waren widerstandsfähig. Deshalb war Stefan völlig zur Unbeweglichkeit verdammt. Und dann sah er die erste Flamme.

Zwischen der anderen Wand des Saales, dort, wo es brannte, und Stefan befanden sich offenbar einige alte Sessel. Das konnte Stefan gegen den Feuerschein erkennen. Aber was es war, das da hinten brannte, konnte er nicht sehen. Immerhin, dass ihm nicht viel Zeit blieb, war ihm klar.

Da durchzuckte auf einmal ein skurriler Gedanke sein Hirn. Er, der geniale Katastrophenmaler Stefan Rumpold, befand sich inmitten einer tatsächlichen Katastrophe. Und er konnte nichts dagegen tun! Er, der ja genau wusste, wie man aus kritischen Situationen herauskam, nämlich mit Coolness und Cleverness, war ganz einfach hilflos!

Und plötzlich fiel ihm noch etwas anderes ein: Gab es in so einem Studio Explosivstoffe?
„Hilfe! Feuer!“ Stefan schrie, so laut er nur konnte. Aber die Studiohalle war solide gemauert und die Entfernung bis zur Speisinger Straße beträchtlich, zumal diese relativ dicht befahren war und der Verkehrslärm alle seine Hilferufe übertönen musste.

Von Sekunde zu Sekunde drehte Stefan mehr durch. Sein Geschrei steigerte sich noch zum Gebrüll, sofern das überhaupt möglich war. Er warf sich auf seiner Kartonunterlage hin und her, ohne vom Fleck zu kommen. Verdammt, der Karton, auf dem er lag, war ja auch gut brennbar!

Näher kamen die Flammen zwar nicht, aber sie wurden immer größer. Das prasselnde Geräusch des Feuers wurde lauter – nur Stefan konnte nicht mehr lauter werden. Er brüllte ohnehin, so laut es ging und hatte dabei das Gefühl, die Stimmbänder flögen ihm aus dem Mund.

Dann wurde Stefan sich bewusst, dass es die nackte, panische Angst war, die ihn so brüllen ließ. Noch nie war dieses schreckliche Gefühl der Hilflosigkeit angesichts einer unausweichlichen Katastrophe so stark gewesen. Genau genommen hatte er noch nie eine derart lähmende Angst verspürt. Sein ausgeprägtes Selbstwertgefühl hatte ihm immer gesagt, dass er aus jeder Situation heraus kommen könnte.

Wenn er seine Bilder von Katastrophen malte und die dazugehörigen Leichen auf die Holzplatte platzierte, hatte er immer so etwas wie Verachtung für die Opfer empfunden. Selber schuld waren die alle, wenn es ihnen nicht gelang, dem Unheil zu entgehen.

Obwohl das Feuer immer noch nicht auf ihn zu kam, loderte plötzlich eine besonders helle, besonders hohe Flamme da drüben auf.
Stefan begann wieder zu brüllen und diesmal erfasste so etwas wie ein Krampf seinen Körper. Er fühlte, dass sein Blutdruck gefährliche Höhen erreicht hatte, aber er brüllte weiter. Immerhin war ein Herzschlag besser, als hier langsam geröstet zu werden.

Plötzlich kam Miriam.
Sie kam direkt aus dem Feuer und lief mehr, als sie ging, auf Stefan zu. „Genug“, sagte sie und dann rief sie: „Macht das Feuer aus! Der kratzt uns sonst noch vor Angst ab!“

Augenblicklich erloschen die Flammen. Helles Licht flammte auf und Stefan war so verdattert, dass er nichts sagen konnte.
Miriam beugte sich zu ihm hinunter und nahm ihm die Fesseln ab. „Na? Eindrucksvoll, oder?“, fragte sie mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme. „Das Studio ist immer noch in Betrieb“, erklärte sie. „Da werden zwar keine Kinofilme mehr produziert, aber Werbespots. Für die braucht man auch so Dinger wie Blue Box und Hintergründe aus der Videokonserve.“

Durch eine Tür an der Längsseite des Saales kamen jetzt die vier „Verbrecher“ auf Stefan zu, der sich soeben langsam aufrichtete.
„Darf ich Ihnen meine Kollegen vorstellen?“, ließ sich Miriam wieder vernehmen. „Wir arbeiten alle da bei Brückner und Co. Werbefilme. Und ich wollte ihnen nur einmal zeigen, dass Ihre Bilder wirklich nicht schön sind. Wenn die kleine Demonstration nichts genützt hat, können Sie ja ein ausgebranntes Filmstudio malen mit einem toten, verkohlten Maler mitten drin. Jetzt wissen Sie nämlich, wie sich der fühlt.“

Stefan hatte anscheinend seine Sprache verloren. Wortlos inspizierte er seine Kleidung. Er war völlig verschwitzt und seine größte Sorge war, dass sich eventuell sein Darm entleert haben könnte. Aber glücklicherweise hatte er die Hose doch nicht voll.

„Ich hab's kapiert“, hörte Stefan sich sagen. Die Stimmbänder funktionierten nach seinem Gebrüll doch noch.

Miriam lud Stefan ein, nach dem Schock irgend etwas zu trinken. Aber der lehnte ab. Er wollte nur mehr nach Hause und all diesen Horror vergessen.
Und so zog ein völlig gedemütigter Stefan Rumpold dann sehr still und bescheiden ab, nachdem er sich in aller Form für seine eindrucksvolle Vorstellung „Superman in Panik“ entschuldigt hatte.

Er brauche sich nicht zu entschuldigen, meinte Miriam. Jeder hätte so reagiert wie Stefan. Aber er solle nachdenken, ob nicht andere Motive für seine Malerei lohnender wären...
Die Geschichte hat noch ein kleines Nachspiel.

Eine ganze Woche lang malte Stefan nichts mehr. Dann endlich raffte er sich auf und wollte einen blühenden Baum malen, an dem sich jemand erhängt hatte.
Er entschied sich für eine prächtige Zierkirsche mit rosafarbenen Blüten und Stefan traf den Farbton so genau, dass man meinen konnte, der Baum sei wirklich auf der Holzfaserplatte vorhanden.

Aber als er dann den Erhängten malen wollte, dachte er kurz nach, wie sich der Bursche fühlen mochte, wenn die Schlinge schon um seinen Hals lag.
Und da ließ er den Erhängten weg.
Es wurde eines seiner besten Gemälde.

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