KunstGeschichten

KunstGeschichte: Kein guter Platz

Loslassen ist niemals einfach, und mancher Maler trennt sich von einem Werk ebenso ungern wie eine Mutter von ihrem Kind. In Erich Wurths neuer KunstGeschichte erwägt ein Künstler gar, sein Bild vom Käufer zurückzustehlen. Doch dessen schöne Tochter erweist sich als der beste Wächter.

Die Aggressivität seiner Gemälde war förmlich greifbar. Trotzdem war Bert kein aggressiver Typ, im Gegenteil.
Bert malte Bilder, die einen förmlich ansprangen mit ihrer Kombination von abstrakten Farbkompositionen und durchaus gegenständlichen Details. Man konnte die Bilder in keine bekannte Stilrichtung einordnen, sie drückten eben auf irgendeine Art Aggressivität aus. Aber trotz der manchmal sogar fast brutalen Wirkung der Gemälde, die sowohl von der Ferne betrachtet als auch im Detail ungemein spannend waren, war Berthold Pöschl als Person ein „Softie“ durch und durch.

Wohlhabende Eltern hatten es ermöglicht, dass Bert über ein Atelier in einem ausgebauten Dachboden am Alsergrund, Wiens neuntem Bezirk, verfügte, das in der Nähe des Liechtenstein Museums lag und von dessen schrägen Fenstern man hinüber auf die Dächer des zwanzigsten Bezirks sehen konnte, wobei es sich um keinen sehr reizvollen Ausblick handelte. Lediglich an klaren Tagen war ganz links im Blickfeld das Grün des Bisambergs sichtbar, das die relativ einförmige Dächerlandschaft auflockerte.

Bert brauchte den Ausblick nicht, zumindest was seine Malerei betraf. Er malte, was ihm sein inneres Auge zeigte – und das war manchmal recht seltsam. Im Moment war er damit beschäftigt, eine zarte, elegante Mädchenhand auszuarbeiten, die eine Rose hielt. Man konnte die Vorsicht förmlich spüren, mit der die Finger den Stängel der Blume umfassten, um deren Dornen aus dem Weg zu gehen. In diese Hand hatte sich Bert irgendwie ein bisschen verliebt. In die Hand selbst, nicht in das Mädchen, dem die Hand gehörte und das ja gar nicht existierte – nicht einmal in Berts Vorstellung.

Bert hatte sich mit seinen achtundzwanzig Jahren bereits so etwas wie einen Namen gemacht in Wien und von seinen Gemälden konnte er tatsächlich bereits leben, sofern er nicht zu anspruchsvoll war.

Er war ein attraktiver Bursche, der seinen hellbraunen Vollbart in der Manier Andreas Hofers trug und so seine Abstammung väterlicherseits demonstrierte. Als halber Tiroler fühlte er sich in Wien trotzdem heimisch, obwohl seiner Meinung nach ein Atelier in Innsbruck auch nicht schlecht gewesen wäre.

Bert Pöschls Wohnung war dem Atelier angeschlossen und bestand aus einem einzigen, relativ großen und nur mit Möbeln unterteilten Raum. Mehr brauchte er nicht, da er sich ohnehin meist im Atelier aufhielt. Gemeinsam mit seinen beiden Katzen übrigens, der braun-weißen Bianca und dem getigerten Jimmy, Viecher, die ihm die Sache mit der Christl vermurkst hatten. Die Christl war ein ganz besonders liebes Mädel mit einem großartigen Kunstverstand – und leider einer ebenso großen Katzenallergie. Schade. Denn einem Mädel zuliebe die Katzen wegzugeben, das kam für Bert überhaupt nicht in Frage.

Seinen Zimmerlöwen die Treue zu halten, war für Bert ganz selbstverständlich. Ebenso gern hätte er seinen Gemälden die Treue gehalten und es tat ihm jedes Mal weh, wenn er eins verkaufte. Aber das war eben unumgänglich, wenn man die Kunst als Beruf betrachtete. Alles, was er tun konnte, war, dafür zu sorgen, dass seine Bilder „einen guten Platz“ kriegten.

Wenn man Bert gefragt hätte, wie denn ein guter Platz für ein Bild aussähe, er hätte es nicht sagen können. Aber er legte großen Wert darauf, sich vorher anzusehen, an welcher Stelle eines seiner Gemälde hängen würde. Kriterien dafür, ob ein Platz gut oder schlecht war, gab es nicht. Es hing ganz von Berts Eindruck ab, ob sich das Bild an dem ihm zugedachten Platz „wohl fühlen“ würde.

Hinsichtlich der Rose in der zarten Frauenhand bräuchte er sich keine Sorgen zu machen, hatte Frau Wanzenböck von der Galerie gesagt. Ein „Großkopferter“ aus der Weinbranche der Region Baden wolle Pöschls nächstes Gemälde kaufen und der Käufer verfüge über eine ansehnliche Villa am Eingang des Helenentales. Das wäre auf jeden Fall ein exzellenter Platz. Aus diesem Grund müsse Bert auf seine gewohnte Besichtigung des dem Bild zugedachten Ortes diesmal verzichten.

Bert war etwas ungehalten gewesen. Warum denn das?
Frau Wanzenböck brachte einige Gründe vor, die Bert allesamt als Ausreden durchschaute. Der wahre Grund war ganz einfach ein sehr gutes Angebot seitens des Käufers, eines gewissen Herrn Aschentaler, seines Zeichens Inhaber der Weinkellerei Aschentaler, der über ein beträchtliches Vermögen verfügte. Weinkellerei war sein Betrieb allerdings nicht, sondern ein ganz gewöhnliches Handelsunternehmen, das den Weinbauern um Baden einen Großteil ihrer Produktion abkaufte, in Flaschen füllte und diese zu weit überhöhten Preisen exportierte. Nachdem die Qualität der Weine der Region, insbesondere der Weißweine, keinen Vergleich zu scheuen brauchte, machte Herr Aschentaler blendende Geschäfte und hatte vor gar nicht langer Zeit begonnen, Kunst zu sammeln.

Herrn Aschentalers Sammelwut entsprang nicht seiner Liebe zur Kunst, sondern nüchternen Überlegungen. Ein kunstsinniger Geschäftspartner aus Novosibirsk hatte ihn auf die Idee gebracht, indem er von einer Ausstellung der von ihm gesammelten Gemälde in der sibirischen Metropole erzählte, die sich geschäftlich sehr positiv ausgewirkt hatte.

Seither träumte Herr Aschentaler davon, sich möglichst rasch eine Kunstsammlung anzuschaffen und diese dann in seiner Heimatstadt Baden bei Wien auszustellen. Davon erhoffte er sich die Unterstützung der Stadtverwaltung beim Erwerb einer Liegenschaft, die einen idealen Standort für seine neue Abfüllanlage abgeben würde.

Bert Pöschls Mädchenhand mit Rose sollte das dreiundzwanzigste Gemälde sein, das Herr Aschentaler seiner Kollektion einverleiben wollte. Gesehen hatte er es nicht, aber wie so ein Bild aussah, war ja völlig unerheblich, wenn es sich beim Maler um einen aufstrebenden, jungen Künstler handelte, dessen Werke voraussichtlich im Preis noch steigen würden.

Wie bereits erwähnt, Bert war ein Softi. Er wehrte sich erst gegen die Zumutung, eines seiner Gemälde „blind“ abzugeben. Aber als Frau Wanzenböck lang genug ihren „Lavendelschmäh“ verbreitet hatte, stimmte Bert dem Kauf schließlich zu, ohne sich vorher die Villa in Baden angesehen zu haben.

Die Mädchenhand war ein relativ großes Bild, beinahe zwei Meter breit, aber nur knapp sechzig Zentimeter hoch. Die Hand selbst befand sich im rechten Drittel des Gemäldes und das Zentrum bildeten einige schattenhaft dargestellte menschliche Gestalten und viel Blut. Bert hatte es verstanden, der reichlich benutzten roten Farbe den Charakter von vergossenem Blut zu verleihen und somit war auch die zarte „Mädchenhand“ ein aggressives Bild. Bert zögerte die Lieferung des Kunstwerkes an die Galerie Wanzenböck noch ein paar Tage hinaus, denn ihm war gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass das Gemälde an einem Platz hängen sollte, den er nicht kannte. Aber nachdem Frau Wanzenböck mehrmals angerufen hatte, gab er sich doch einen Ruck und trug das Bild hinüber in die Galerie.

Vier Tage später reute ihn seine Nachgiebigkeit gegenüber der dicken Wanzenböck bereits. Und zwar war es, als Jimmy abends vor dem Fernseher auf Berts Schoß gesprungen war und fragend miaut hatte, was Bert als „Was hast du Schurke mit der Mädchenhand gemacht?“ übersetzte.

Spontan entschloss er sich, dem neuen Besitzer des Gemäldes einen Besuch abzustatten, schaltete den Fernseher ab und suchte im Internet die Adresse des Herrn Aschentaler, die er auch bald gefunden hatte.

Am nächsten Tag fuhr er einfach mit seinem Motorrad hinaus nach Baden, ohne sich vorher telefonisch anzumelden. Vielleicht reichte es ihm ja, wenn er sich nur einen Eindruck von der Villa verschaffte und ein Gespräch mit dem Käufer war gar nicht nötig.

Er erreichte die stille Seitengasse am westlichen Ende des Städtchens Baden gegen halb elf und das einstöckige Haus inmitten des großen Grundstücks am Hang des Mitterberges, hinter dem sich der für die Region typische Föhrenwald erstreckte, machte einen günstigen Eindruck auf Bert. Die Villa schien aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu stammen, aber erst kürzlich umgebaut worden zu sein, denn eine moderne Doppelgarage war dem Gebäude angefügt und die Fassade war neu verputzt. Bert überlegte, wie viele Räume der Bau haben konnte und wo seine Mädchenhand wohl hängen könnte. Kurz entschlossen drückte er auf den Klingelknopf.

Nichts geschah. Offenbar war niemand zu Hause.
Bert wartete zwei Minuten. Ärgerlich war er nicht, denn er hatte sich ja nicht angekündigt und wenn sein Besuch hier vergeblich war, dann stellte es wenigstens eine Abwechslung dar, einmal aus seinem Atelier heraus zu kommen und die Motorradfahrt hierher in der milden Oktobersonne hatte er wirklich genossen.

Also startete er seine Maschine wieder und beschloss, nicht über die Autobahn heim zu fahren, sondern den Umweg über Mayerling und die Hinterbrühl zu nehmen, um das schöne Herbstwetter noch ein wenig genießen zu können.

Als er die abschüssige Seitengasse langsam bergab rollte, bog von der Bundesstraße ein silbergrauer Kleinwagen mit ziemlichem Tempo in die Gasse ab und kam ihm flott entgegen, wobei der Motor klang, als mache es ihm Spaß, in der schmalen Gasse noch einmal beschleunigen zu können.

Im Vorüberfahren sah Bert, dass die Fahrerin des Kleinwagens mit einer eleganten Bewegung ihrer rechten Hand die Sonnenbrille abnahm und für den Bruchteil einer Sekunde sah Bert ihre Augen.
Dieser Sekundenbruchteil veranlasste Bert, seine schwere Maschine sofort abzubremsen.

Zugegeben, es war ein Bild von einem Mädel, das da hinter dem Steuer gesessen hatte. Aber das war nicht der Grund für seine Reaktion. Der fröhliche Ausdruck der Augen war es! Bert hätte darauf wetten können, dass die Iris grau gewesen war, ein ähnlicher Farbton, in dem der Kleinwagen des Mädchens lackiert war. Und dabei hatte der Sekundenbruchteil, in dem sich ihre Blicke trafen, kaum gereicht, Einzelheiten zu registrieren. Bert musste diesen Augenausdruck einfach malen!

Aber dafür hatte er die Augen zu wenig lang gesehen. Bert wendete das Motorrad, wobei er fürchtete, zu lang gezögert zu haben und den Kleinwagen nicht mehr einholen zu können. Schließlich war das nur eine ganz schmale, kurze Seitengasse, eine Zufahrt zu den Häusern am Waldrand. Das Mädchen musste bereits irgendwo angehalten haben.

Zum ersten Mal in seinem Leben fuhr er einer Frau hinterher. Und er hatte Glück.
Als er zum Haus des Herrn Aschentaler kam, fuhr der silbergraue Kleinwagen gerade die recht steile Zufahrt zu dessen Doppelgarage hoch. Bert stellte sein Motorrad neben dem Grundstückseingang ab und sah zu, wie das Mädchen das Garagentor öffnete und den Wagen anschließend auf dem rechten der beiden Plätze in der Garage abstellte. Und gleichzeitig sah er noch etwas, das ihm einen ehrlichen Schock versetzte.

An der Hinterwand der Garage lehnte sein Bild! Die „Mädchenhand mit Rose“!
Einige Sekunden starrte Bert ungläubig durch das hochgeklappte Kipptor. Dann bemerkte er, dass die Fahrerin des silbergrauen Autos einen Karton aus dem Kofferraum gehoben hatte und im Begriff war, das Haus durch eine offenbare Verbindungstür mit der Garage zu betreten.
„Entschuldigung“, rief Bert.
Das Mädchen wandte sich um. „Ja, bitte?“
„Hätten Sie eine Minute Zeit?“
Das Mädchen stellte den Karton ab, der recht schwer zu sein schien, und kam langsam die Garagenzufahrt herunter.
„Um was geht’s denn?“
„Pöschl mein Name. Und es geht um das Bild in Ihrer Garage.“
Das Mädchen sah ihn verständnislos an, kam aber näher.
„Stimmt was net mit dem Gemälde?“
„Gar nix stimmt! Vor allem net der Platz!“
Das Mädchen sah etwas verwirrt drein. „Und was hab’n Sie zu tun mit dem Bild?“
„Ich hab’s g’malt“, sagte Bert.
Die junge Frau kam ganz an den Garteneingang und in ihren Augen blitzte es belustigt auf. „Ihr Bart“, sagte sie lächelnd. „Sie schauen aus wie der Tiroler Terrorist, der Hofer.“
„Andreas Hofer war kein Terrorist“, protestierte Bert.
„Na, was denn? Für Napoleon war er so was wie Osama Bin Laden!“

Bert war erst sprachlos. Noch nie hatte er jemanden vom Tiroler Freiheitshelden so respektlos sprechen gehört! Erst nach einigen Sekunden wandte er zögernd ein: „Is der Vergleich net a bisserl weit herg’holt?“
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Egal. Was stört Sie dran, dass das Bild in der Garage steht?“
„Ich hab’s gemalt, damit man’s anschaut. Net, damit’s zwischen Autos rumkugelt!“
„Wird auch noch oft genug ang’schaut werden. Papa baut das Wohnzimmer um. Dort kriegt’s dann ein’ Platz. Wollen S’ schauen, wo’s hinkommen wird?“
„Wenn’s Ihnen net z’viel Mühe macht?“

Die junge Frau öffnete die Gartentür und ging voran zum Hauseingang. Bert folgte ihr, wandte sich aber dann zur Garage. „Ihr Karton. Ich trag den gleich rein.“
„Danke! Der hat ein ziemliches G’wicht. Bücher sind ganz schön schwer.“
Bert nahm den Karton, der neben der Verbindungstür ins Haus stand und das Mädchen sperrte deren Schloss auf. „Ich bin übrigens die Helga Aschentaler. Sonst park’ ich draußen in der Gasse, aber jetzt ist der Papa geschäftlich in Tschechien, da ist Platz in der Garage. Ihrem Bild passiert nix da herinnen. Und in ein paar Tagen hängt’s dann eh im Wohnzimmer.“

Bert folgte Helga durch eine hypermodern eingerichtete Küche und einen Vorraum, von dem aus eine Treppe nach oben führte, in einen großen Raum, beinahe einer Halle, in dem der Terrassentür gegenüber eine ganze Anzahl von abstrakten Gemälden hingen und der ansonsten leer war. Eine Seitenwand des Raumes war völlig kahl und wies nicht einmal eine Tapete auf. Helga deutete auf diese Wand.

„Da wird noch neu tapeziert, dann kommen ein paar Elemente von einer Wohnwand da hin und außerdem Ihr aggressives, blutiges Bild. Und natürlich kommt da in die Mitte eine Sitzgruppe.“
„Warum nennen Sie mein Bild aggressiv?“
„Na, is es doch. Oder? Allein das viele Blut!“
„Wieso Blut?“
„Was soll das denn sonst sein? Himbeersaft? Sie haben’s ja selber gemalt, was haben Sie sich denn dabei gedacht, bei dem vielen Rot?“
Bert zögerte mit der Antwort. „Das Hauptelement ist die Mädchenhand“, sagte er dann. „Überhaupt, ich hätte das Bild gern zurück.“
„Wie bitte?“ Helga sah ihn überrascht an. „Was Papa gekauft und bezahlt hat, gibt er nicht mehr her.“
„Na, aber Ihnen g’fallt’s doch eh net!“
„Das sag i net“, meinte Helga. „Ich find’s gut, nur zu aggressiv. Wissen S’, i mag Gewalt net.“
„Das is doch Interpretationssache bei Gemälden. Aber ich hätt’s trotzdem gern zurück. Das da is kein guter Platz für das Bild.“

Helga sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Sie tun fast, als ob Sie sich aussuchen könnten, wer Ihre Bilder kauft“, sagte sie belustigt. Da war es wieder, dieses Aufblitzen in ihren Augen, die tatsächlich grau waren.

Bert begann ein bisschen zu stottern. „Ja, wissen S', so ein Bild is für mich fast wie ein Lebewesen. Wenn ich eins hergeb’, dann soll sich das Bild dort auch wohl fühlen, wo’s hängt. Ich hab Katzen zu Haus. Wenn ich eine davon weg geben müsst’, schau ich mir auch genau an, wo s’ hinkommt. Und wenn’s net passt, geb’ i das Viech net her. Mit den Bildern is das genauso.“

Wieder war das Aufblitzen in Helgas Augen zu sehen und Bert fragte sich im Stillen, ob er fähig sein würde, dieses kurze Leuchten mit gewöhnlichen Ölfarben festzuhalten.
„Sie haben Katzen?“, fragte Helga und wurde wesentlich freundlicher, als sie bisher gewesen war.
„Zwei hab i. Ein’ Tiger und eine weiß-braune.“
„Ich wollt immer schon a Katz. Aber die Mama war dagegen.“
„Na, dann verstehen S’ mich vielleicht... Wegen der Bilder“, sagte Bert zögernd. Und als sich das Lächeln Helgas verstärkte, platze Bert auf einmal los: „Wollen S’ die Katzenviecher kennen lernen? Ich wollt Sie eh malen! Ihre Augen und das lustige Aufblitzen drin, das ich jetzt schon drei Mal g’sehen hab.“
Jetzt lachte Helga lauthals los. „Sonst noch Wünsche? Das Bild wollen S’ zurück und malen wollen S’ mich und was Sie sonst noch wollen, kann ich mir eh denken.“
„Nein! So war’s net g’meint! Aber Ihre Augen g’hören auf a Gemälde! Dann geh’n S’ wenigstens mit mir irgendwo ein’ Kaffee trinken, damit ich mir Ihre Augen länger anschauen kann, vielleicht kann i s’ dann aus’m Gedächtnis malen…“

Noch während Bert auf das Mädchen einsprach, wurde ihm bewusst, dass er sich völlig blöd benommen hatte und er erwartete, dass ihn Helga jetzt hochkant rausschmeißen würde. Stattdessen aber sagte sie: „Na schön. Heut hab i eh keine Vorlesungen. Aber wenn das Bild dann nix wird, bin i bös auf Sie!“
Als Bert zu seinem Motorrad ging, um hinter Helgas Wagen herzufahren, konnte er es gar nicht glauben, dass sie auf seinen Vorschlag so prompt eingegangen war.

Dann saßen sie in einem kleinen Café nahe dem Spielcasino und Bert zeichnete auf einem Blatt Briefpapier, das er sich vom Kellner erbeten hatte, Helgas Augen. Sie saß ihm stumm gegenüber und hatte ein feines, aber ein wenig spöttisches Lächeln auf den Lippen. Also zeichnete Bert auch das Lächeln. Und dann auch noch den Rest – und es wurde ein sehr treffendes, ansprechendes Porträt.

„Wow“, sagte Helga, als er ihr das Blatt zeigte. „Sie können ja wirklich was!“
„Jetzt muss i nur noch den Grauton treffen, wenn i Ihre Augen mal. I stell mir so was Ähnliches vor, wie das mit der Mädchenhand und der Rose. Aber Ihre Augen im Zentrum“, sagte Bert.
„Aber kein Blut!“, verlangte Helga.
„Aber woher! Nix Blut! Hellgrüne Gedanken drum herum, positive Gedanken umgesetzt in Farben. Fröhlichkeit, Frische, Zuversicht. Halt zu Ihnen passend.“
„Aber Ihr Bild mit der Hand wird der Papa nimmer hergeben“, sagte Helga, die plötzlich ernst geworden war. „Jetzt versteh i, was Sie mit dem guten Platz für Ihr Gemälde meinen. Sie haben recht. Das is wirklich kein guter Platz. Dem Papa kommt’s nur auf’s Prestige an. Er verspricht sich von seiner Gemäldesammlung künftige Ausstellungen und damit ein’ gewissen Einfluss im Gemeinderat. I glaub net, dass er a Beziehung hat zu Ihrem Bild.“
„Na, sehen S’. I kauf’s ihm ab.“
Helga schüttelte den Kopf. „Sie kennen meinen Papa net. Das können S’ höchstens stehlen.“
„Dann stehl’ ich’s halt.“

Wieder das Aufblitzen in Helgas Augen, das Bert so faszinierte! „Zuzutrauen wär’s Ihnen“, meinte sie.
Bert griff nach Helgas Hand, die neben dem Tablett mit der Kaffeetasse und dem Wasserglas auf der Tischplatte lag. „I muss eh die Hand noch ändern“, sagte er. „Dass sie ausschaut wie die Ihre!“
„Dann müsst’ aber das Blut auch weg“, meinte Helga. Bert hielt noch immer Helgas Hand, die er mit dem Zeigefinger sanft am Handrücken streichelte...
„Okay“, sagte Bert einfach.

Dann unterhielten sie sich über die Möglichkeiten, das Bild heimlich aus der Garage zu holen. „Papa is eh gut versichert“, meinte Helga. „Da kann er sich wenigstens wieder einmal wichtig machen. Bezirkszeitung und so. Ich mach Ihnen die Garage auf, Sie holen sich das Bild und i sperr später wieder ab. Und keiner wird sich erklären können, wie der Dieb in die Garage ’kommen is.“
„Sie würden mir dabei helfen?“ Bert konnte es kaum glauben.
„Na ja, Schaden hat der Papa ja keinen…Aber es müsst’ sein, solang der Papa net da is. Am Freitag kommt er wieder.“
„Dann Donnerstag?“
„Das würde passen.“
„Dann bin ich um halb zwölf in der Nacht am Gartentor. Und Sie machen mir wirklich die Tür auf?“
„Versprochen! So, und jetzt muss i heim. Die Mama wird auch schon da sein.“
Bert bezahlte und sie brachen beide auf.

Für die Rückfahrt nach Wien benutze Bert nun doch die Autobahn. An der Landschaft des südlichen Wienerwaldes hatte er jetzt kein Interesse mehr. Helga ging ihm nicht aus dem Sinn.
Am Donnerstag war Bert mit einem von einem Freund geborgten kleinen Kombiwagen wieder in Baden und wartete vor dem Grundstück der Aschentalers. Viel zu früh war er dran. Zu Hause hatte er es nicht mehr ausgehalten.

Um ziemlich genau 23 Uhr kam Helga aus dem Haus und öffnete die Schlösser von Garage und Grundstückseingang. Bert winkte ihr zu, sie erkannte ihn aber nicht, weil er in einem geborgten Wagen saß.

Etwa eine halbe Stunde später machte Bert sich ans Werk.
Ohne Probleme und ohne von irgendjemandem gesehen zu werden gelangte er in die Garage und schloss hinter sich das Garagentor. Beide Autoabstellplätze waren belegt. Neben Helgas silbergrauem Kleinwagen stand der stattlicher BMW ihrer Mutter und an der Rückwand lehnte Berts Gemälde.

Bert fühlte sich völlig sicher hier in der Garage. Er hatte seine Taschenlampe eingeschaltet und sah sich die Mädchenhand an. Dabei fiel ihm ein, dass Helga verlangt hatte, er möge die rote Hintergrundfarbe entfernen. Aber je länger er das Gemälde betrachtete, umso besser gefiel es ihm. Er würde mit Helga noch einmal über die von ihr verlangten Änderungen des Bildes reden.

Während er noch da stand und wegen des Bildes überlegte, wurde plötzlich die Tür der Garage, die direkt ins Haus führte, geöffnet. Bert war zu Tode erschrocken. Aber bevor er noch neben den Autos in Deckung gehen konnte, hörte er schon Helgas leise Stimme:
„Bert! Kommen S' schnell mit! Mein Vater ist zurück!“

Bert murmelte unhörbar einen Fluch, den Helga nicht hören sollte und zwängte sich zwischen Stoßstange und Garagenrückwand hinüber zu Helga, die noch in der geöffneten Verbindungstür stand. „Sei'n S' bitte leise“, bat sie.

Rasch ging es durch die Küche und die Stiege hinauf. Dort lotste Helga den verdutzten Maler in ihr Zimmer. Es brannte kein Licht dort.

„Der Papa soll glauben, i schlaf' schon“, erklärte Helga leise. „Sonst kommt er vielleicht noch rein.“
Bert trat ein, Helga schlüpfte an ihm vorüber und sah vorsichtig aus dem Fenster. Bert stellte sich hinter sie und sah einen etwa 45-jährigen Mann mit einem Koffer den Weg zum Hauseingang herauf kommen.
„Er hat gar nicht in der Garage nachg'schaut“, flüsterte Helga. „Sonst tut er das oft, weil er den Mercedes gern drin stehen hat. Ich könnte ja noch irgendwo unterwegs sein.“
„Dann kann i ja durch die Garage raus“, flüsterte Bert zurück.

Helga schüttelte den Kopf. „Sie müssen warten, bis er eing'schlafen ist. Nehmen S' irgendwo Platz!“
Es war dunkel im Zimmer. Die Straßenbeleuchtung reichte kaum bis zum Haus. Bert sah nicht allzu viel, deshalb setzte er sich an den Schreibtisch, der am Fenster stand. Helga hatte sich auf ihr Bett gesetzt.
So saßen sie einige Minuten in der Dunkelheit, ohne etwas zu sagen.
Erst hörte man jemanden vor Helgas Zimmer vorübergehen, dann hörte man eine Tür. „Jetzt ist er im Bad“, sagte Helga leise.
„Ich werde das Bild doch nicht stehlen“, meinte Bert.
„Warum denn auf einmal?“ Helgas Stimme klang ein bisschen überrascht.
„Wenn Ihr Vater die Polizei holt, findet die keinerlei Einbruchsspuren. Da kommt sicher bald raus, dass der Dieb einen Komplizen im Haus gehabt hat. Das kann nur Ihre Mutter sein – oder Sie selbst. Glauben Sie nicht, dass das Probleme geben könnte?“
„Ist mir egal“, sagte Helga. Aber Bert glaubte, eine gewisse Unsicherheit in ihrer Stimme zu vernehmen. Sehen konnte er Helga nur als dunklen Schatten.

„Ich mal' dafür a neues“, kündigte Bert an.
„Aber der Platz für's Bild g'fallt Ihnen ja net“, warf Helga ein.
„I hab mir's überlegt“, flüsterte Bert. „Wenn S' mir versprechen, dass Sie jeden Tag einmal das Bild anschauen, is es doch a guter Platz!“
„Wieso auf einmal?“ Helga war einigermaßen verwundert.
„Weil...“. Bert hatte plötzlich Schwierigkeiten, sich auszudrücken. „Na, weil jeder Platz, wo Sie sind, a guter Platz is...“, stotterte er schließlich. Helga kicherte geschmeichelt, aber ganz leise.
Wieder wurde einige Sekunden nicht gesprochen. Entfernt hörte man das Geräusch einer laufenden Dusche.

Dann sagte Helga: „Bert, kommen S' doch rüber da. Auf'm Bett sitzt man weicher....“
Die Mädchenhand mit Rosa blieb in der Villa Aschentaler. Und Bert auch. Jedenfalls bis zum nächsten Morgen.

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