KunstGeschichten

KunstGeschichte: Plakate

Der Künstler Werner Pollak ist vom handwerklichen Können, das gemalte Werbeplakate der 50er Jahre verströmen, fasziniert. Daher probiert er, eine Festanstellung in einer Werbeagentur zu bekommen. Neben den Grundlagen der Werbepsychologie muss er jedoch schnell lernen, seine Moralvorstellungen hinten anzustellen.

Werner Pollak war keine ansprechende Erscheinung.
Er ähnelte ein wenig dem Komponisten Franz Schubert, trug ebenso wie dieser dicke Brillen und hatte eine ziemlich gedrungene Statur. Er war gerade 20 Jahre alt, hatte die „Grafische Lehr- und Versuchsanstalt“ in der Leyserstraße absolviert und er suchte momentan krampfhaft nach einem Job.

Er wollte endlich auf eigenen Beinen stehen, zumal er auf der „Grafischen“ mit der nur wenige Tage jüngeren Johanna Zwickel sehr befreundet gewesen war und sich mit dem Gedanken trug, ihr Verhältnis möglichst bald zu legalisieren.
Johanna kehrte sich nicht an Werners unattraktivem Äußeren. Sie wusste, das war ein äußerst liebenswerter Kerl - und er war immer für sie da.

Für Johanna wäre es das größte Glück gewesen, mit Werner in eine kleine, eigene Wohnung zu ziehen und für ihn zu sorgen. Kochen, Waschen und die üblichen häuslichen Tätigkeiten durchzuführen erschien ihr ein erstrebenswertes Ziel. Nur, der Werner brauchte erst einmal einen Job! Johanna studierte an der Pädagogischen Akademie und wollte Lehrerin für „Bildnersche Erziehung“ werden. Da war keine Zeit für eine noch so geringfügige Tätigkeit, die sie selbst übernehmen konnte.

Beide hatten viel Talent für das Gestalten von Grafiken. Wobei Werners große Liebe den Plakaten galt. Was hatte es da doch früher für wundervolle Darstellungen besonders auf Werbung für die österreichische Fremdenverkehrswirtschaft gegeben! Werner fand die modernen Plakate einfallslos und abstoßend. Nur viele Farben und überhaupt keine künstlerischen Effekte!

Im Moment wohnten sowohl Werner als auch Johanna noch bei ihren Eltern. Um nicht völlig zu faulenzen hatte Werner einen Aushilfsjob bei dem Fahrradhändler Oliver Moser angenommen und betreute dort die angeschlossene Werkstatt. Aber das Flicken von Fahrradreifen diente nur dazu, dass er seinen Eltern nicht allzu sehr auf der Brieftasche lag.

Abends verschickte Werner Bewerbungsschreiben. An alle große Firmen, von denen er schon Werbung gesehen hatte. Er war davon überzeugt, es besser machen zu können, als diese großen Werbeagenturen. Und zwar mit eigenen, gemalten Plakaten, die eine besondere künstlerische Linie zeigten und sich wohltuend von dem Einheitsbrei der modernen Werbung unterschieden.
Die Bewerbungsschreiben führten nicht einmal zu Antworten. Die Firmenchefs sahen sie offenbar gar nicht an.
Aber eine „Spielerei“ führte dann dazu, dass Werner zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen wurde. Die „Spielerei“ war ein Werbeplakat.

Er hatte einen Vormittag lang nichts zu tun in seiner Werkstatt. Es war Ende Oktober und die Radler hatten ihre Gefährte offenbar schon „eingewintert“.
Werner brachte die Werkstatt auf Hochglanz, räumte gründlich auf und dabei stieß er auf einen großen Bogen weißen Packpapiers.
Den benutze er dazu, ein Werbeplakat für seinen Arbeitgeber zu entwerfen.
Es war eine Art Comicstrip. Das erste Bild zeigte einen Radfahrer in modernem Outfit, der in hohem Tempo offenbar eine Straße entlang raste. Das zweite Bild zeigte den Radler, wie es „ihn zerlegte“, also wie er „einen Stern riss“. Das dritte Bild zeigte den Radfahrer aufrecht stehend in zerrissener Radkleidung, voller Dreck und mit einem total deformierten Fahrrad daneben. Und drunter stand: „Um das Gewand ist wirklich schad' — doch Moser repariert das Rad!“
Und am Nachmittag stellte Werner das Plakat neben dem Eingang zum Geschäft auf.

Herr Moser lachte schallend, als er die neue Werbung sah. Der Radfahrer auf dem Plakat sah auch zu komisch aus! Und Werner hatte viel Wert auf kleine Details gelegt, wie den Ohrhörern, die der „rasende“ Radler im Ohr trug und seinen absolut idiotischen Gesichtsausdruck nach dem Sturz.

Am nächsten Tag brachte die alte Frau Habela, die nebenan wohnte, ein völlig verrostetes Damenrad mit kaputter Dreigangschaltung. Seit Jahren war sie nicht mehr damit gefahren. Jetzt wollte sie es nochmals versuchen, allerdings nur, wenn die Firma Moser das Rad etwas „aufmotzen“ konnte.
Werner schliff daraufhin stundenlang den Rost ab, brachte die Gangschaltung in Ordnung und zwei Tage später konnte er der Habela–Oma ein beinahe neuwertiges Rad übergeben.

Und am folgenden Tag wurde Werner aus seiner Werkstatt in das Verkaufslokal gerufen. Da stand ein Herr mit Krawatte und fragte Werner, ob er in der Lage wäre, auf eine solche humorvolle Art auch Plakate für andere Branchen zu entwerfen.
„Na klar“, sagte Werner. „Jederzeit!“

Da überreichte ihm der Herr eine Visitenkarte und bat ihn, am kommenden Dienstag zur Werbeagentur Braun und Melzer zu kommen. Und er solle sich Gedanken machen, wie man ein modernes Erfrischungsgetränk mit einem solchen Plakat bewerben konnte.
Am Dienstag tauchte Werner in der Agentur im Ersten Bezirk auf und hatte drei Plakate mit. Diese stellten zusammen wieder eine„Bildergeschichte dar, waren aber diesmal sehr sorgfältig ausgeführt und in Ölfarbe gemalt.

Das erste Bild stellte einen etwa fünfjährigen Buben dar, der auf einem Dreirad saß und soeben ein Glas Milch mit angewidertem Gesichtsausdruck zur Seite schüttete. Auf dem zweiten Bild trank er mit Behagen eine Dose Energydrink mit der Bezeichnung „Energy Limo“ — und auf dem dritten Bild zog er mit dem Dreirad einen Anhänger, der einen Tank mit der Aufschrift „Energy Limo“ geladen hatte, aus dem ein Schlauch in seinen Mund führte.

„Matte Sache“, meinte Herr Braun, dem Werner vorgestellt wurde. „Nicht sehr lustig. Aber sehr sorgfältig gemalt.“ Und dann fügte er hinzu: „Wollen Sie für uns hin und wieder arbeiten?“
Werner verzog das Gesicht. „Fest angestellt?“, fragte er.
„Glauben Sie, wir stellen ein Model fest an? Das wird einmal fotografiert, kriegt sein Honorar und dann: Grüß Gott und danke schön. Bei einem Maler ist das ähnlich.“
„Ich suche aber dringend eine Festanstellung“, sagte Werner schüchtern.
Herr Braun schüttelte den Kopf. „Sie können für uns auf Werkvertragsbasis was malen. Unter Anleitung unserer Frau Doktor Ziegler. Das ist unsere Werbepsychologin.“
Werner war enttäuscht. Aber andererseits, vielleicht konnte er später was aus der Chance machen, die er hier geboten bekam. Er versprach, sich die Sache zu überlegen und verabschiedete sich.

Abends traf er seine Johanna und erzählte ihr alles.
Und, wie er es beinahe erwartet hatte, Johanna riet ihm, die Sache zu versuchen.
So kam es, dass Werner etwa zehn Tage später bei Braun und Melzer wieder vorgeladen war, um mit Frau Doktor Romana Ziegler einen Auftrag zu besprechen. Werner trabte wie vereinbart am frühen Morgen im Büro der Werbeagentur an.

Frau Ziegler war eine unscheinbare, sehr dünne Dame mit kantigen Gesichtszügen und einer dicken Brille, unmodern und unattraktiv gekleidet. Sie mochte knapp vor der Vierzig sein. Werner hatte den Verdacht, dass Frau Ziegler allein stehend war und wegen ihres Aussehens auch wenig Chancen auf eine Beziehung zu Männern hatte, denn sie musterte ihn mit einem gewissen taxierenden Blick – und schien trotz Werners gedrungenem Körperbau nicht uninteressiert an ihm zu sein.

Dann zog sie sich mit ihm in ein leeres Nebenbüro zurück.
Der Auftrag bestand in einer Kampagne der Schneebergbahn und traf damit genau in jene Kerbe, die sich Werner für seine Plakate erträumt hatte. Da konnte er Gebirgslandschaften malen!
Aber Frau Doktor Ziegler bremste Werner sofort. AIDAS müsste zuerst geklärt werden, also die Werbestrategie.

AIDAS, die Anfangsbuchstaben der Wörter „attention, interest, desire, action und satisfaction“, was soviel heißt wie „Aufmerksamkeit, Interesse, Wunsch, Aktion und Zufriedenheit“, beschrieben die Art und Weise, wie man zur Erreichung dieser fünf Ziele vorgehen wolle. Für „A“ schlage Frau Dr. Ziegler eine kurvenreiche, junge Frau vor. Sex sells, das wäre eine alte Tatsache. Für das „I“ habe Werner zu sorgen, ebenso für das „D“. Und für „A“ und „S“ werde der Psychologin noch etwas einfallen.

Dann hielt die Frau Doktor noch einen kurzen Vortrag: Was man für die einzelnen Buchstaben konkret verwenden könne. Und sie schlug einige bewährte Dinge vor. Also die junge Dame mit großer Oberweite als Punkt A. Große Busen erweckten immer Aufmerksamkeit. Für das „I“ wäre eine ansprechende Gebirgslandschaft empfehlenswert, möglichst mit der Abbildung eines Zuges der Zahnradbahn.
Alte Bahnen stießen seltsamerweise auf Interesse. Das wüsste man spätestens seit dem Erfolg der Fernsehsendung „Eisenbahnromantik“. Also sollte man zugreifen!

Das „D“, also der Wunsch, das „desire“ könne auf mehrere Arten angesprochen werden. Es käme auf die Zielgruppe an. Je nachdem, ob man sportlich–aktive Leute ansprechen wolle, oder Faulpelze. Bei einer Werbung für ein Wandergebiet wäre die sportliche Variante die logischere.

„Action“, also die Tätigkeit, umschreibe in diesem Fall die Tatsache, dass der Umworbene tatsächlich die angepriesene Ware (in diesem Fall die Fahrt ins Schneeberggebiet) in Anspruch nehme. Und für das „S“, die „satisfaction“, werde Fr. Dr. Ziegler mit einem einfachen Aufkleber für Wanderstock oder Autofenster, erhältlich im Restaurant Schneeberghaus sorgen. Und zum Schluss kündigte die Frau Doktor an, man werde sich in einer Woche weiter drüber unterhalten.

Etwas verwirrt verließ Werner die Werbeagentur. Was ihn am meisten wunderte war die Tatsache, dass man aus dem Problem, den Leuten etwas einzureden, doch tatsächlich so etwas wie eine Wissenschaft gemacht hatte.

Der Abend mit Johanna brachte die Entscheidung, am Wochenende etwas zu investieren und einen Ausflug auf den Schneeberg zu unternehmen. Werner hatte die Absicht, dort das Plakat für die Frau Doktor Ziegler zu malen.

Am Sonntag machten sich Johanna und Werner bereits um halb sieben auf den Weg nach Puchberg. In Werners altem, klapprigem Kleinwagen fuhren sie über die Südautobahn die vierzig Kilometer bis fast nach Wiener Neustadt und von Wiener Neustadt-Nord über Grünau nach Puchberg. Das Wetter war sehr „durchwachsen“, die Sicht eher diesig und die meisten Bäume hatten bereits ihre Blätter verloren.

Die „Salamanderzüge“ fuhren noch, die Winterpause hatte noch nicht begonnen. Aber die Zahl der Fahrgäste hielt sich in Grenzen. Schon für den nächsten Zug konnte Werner Karten besorgen.

Der Schneeberg ist der letzte Zweitausender der Alpen in Richtung Osten, bevor sich die Bergkette ins Wiener Becken hinabsenkt. Und wegen der Nähe zur Hauptstadt wird er auch als Hausberg der Wiener bezeichnet. Jährlich bricht sich dort eine ganz beachtliche Zahl von Halbschuhkletterern das Genick, weil sie ihre Fähigkeiten überschätzen. Dabei wäre es so einfach, mit der Zahnradbahn beinahe den Gipfel zu erreichen und das letzte Stück des Weges ist eigentlich nur ein Spaziergang. Auf einer Länge von knapp zehn Kilometern bringt einen der Zug bis auf 1.796 Meter Seehöhe. Die beiden Gipfel des Plateauberges, das Klosterwappen und der Kaiserstein sind nur 2.076 und 2.061 Meter hoch. Also besteht gar kein Grund, sich bei einer Wanderung in Gefahr zu bringen. Allerdings muss man für das Hochgebirge gerüstet sein!

Werner und Johanna waren nicht gerüstet. Außerdem hatten sie keinerlei Ambitionen auf einen Gipfelsieg. Werner genügte die Fahrt zum höchsten Bahnhof Österreichs und die Möglichkeit, ein Gemälde davon mitzubringen.

Mit fünfzehn Kilometern pro Stunde fuhr der gelb–schwarze im Muster eines Feuersalamanders bemalte Dieseltriebwagen die Strecke hoch. Beim „Baumgartner“ gab es einen kurzen Aufenthalt, mehr aus Tradition denn aus Notwendigkeit. Denn zurzeit, als sämtliche Züge mit Dampfkraft unterwegs waren, musste man hier Wasser fassen. Und der „Baumgartner“ bietet Buchteln an, eine sehr beliebte Süßspeise, auf die die Fahrgäste nicht verzichten wollen.
Werner und Johanna nahmen je eine Powidlbuchtel in den Triebwagen mit und der Powidl, also die Pflaumenmarmelade war ganz köstlich.

Nach insgesamt etwa einer knappen Stunde waren sie an der Bergstation angelangt. Werner genoss den Ausblick nach Osten, ins Wiener Becken und über die ungarische Tiefebene, soweit man heute eben blicken konnte. An klaren Tagen sollte ja hier ein Blick bis nach Wien möglich sein. Aber ein Motiv für das Malen eins Plakates fand Werner hier nicht.

Also tranken sie eine Limonade im Haus Hochschneeberg, das direkt neben der neu gebauten Bergstation der Zahnradbahn liegt und dann nahmen sie den nächsten Zug zurück. Beim Halt vor dem „Baumgartner“ stiegen sie aus. Werner hatte sich für den Blick auf das steilste Streckenstück mit dem Schneeberg im Hintergrund entschieden.
Hinter der Holzhütte des „Baumgartner“ setzte sich Werner ins Gras, das schon reichlich schütter war. Von da hatte er die Kante der Hütte und die steile, ein Meter breite Spur der Zahnradbahn im Blickfeld. Und links musste sich Johanna hinsetzen.
Dann begann Werner zu malen.

Er verfremdete Johanna etwas, aber sie war noch sehr gut zu erkennen. Er vergrößerte ein bisschen ihre Oberweite und anstelle ihrer Jeans verpasste er ihr einen kurzen, knappen Rock – eingedenk der Worte seiner „Chefin“, Frau Dr. Ziegler: „Sex sells.“
Johanna war gar nicht einverstanden, dass sie Werner in einer so sexy Aufmachung dargestellt hatte. „Hab ich einen zu kleinen Busen?“, fragte sie vorwurfsvoll. „Soll ich mir den vergrößern lassen?“
„Aber nein! Das ist nur wegen des Punktes 'attention' in der Werbestrategie“, erklärte Werner. „Sex sells.“
Das führte zu einer eingehenden Unterhaltung zwischen den beiden. Werner erklärte die Grundzüge der Werbestrategie, wie er es von Dr. Ziegler gehört hatte.

Johanna war skeptisch.
„Wissenschaft nennt das deine Chefin? Eine schöne Wissenschaft, die drauf aus ist, die Leute herein zu legen!“
„Ist aber trotzdem Wissenschaft! Werbepsychologie!“
„Aber was die Wirtschaft draus macht!“
„Du kannst mit jeder Wissenschaft was Böses anrichten. Mit Kernphysik kann man Atombomben bauen und Kernkraftwerke, die irgendwann einmal uns alle verseuchen!“
„Aber da machst du nicht mit! Bei der Werbung schon!“
„Na ja, wenn da mehr Leute mit der Zahnradbahn fahren, ist das doch nicht schädlich! Und die Betreiber freut's!“ Einige Sekunden schwieg Johanna.
Dann sagte sie: „Versprich mir, dass du nicht bei solchen Blödheiten mitmachst, die der Allgemeinheit schaden könnten!“
Werner lachte. „Versprech ich dir! Aber den größeren Busen kann ich lassen? Deiner ist ja eh viel schöner, nur da auf dem Bild soll's ein Blickfang sein.“
„Von mir aus“, sagte Johanna und ging in die Hütte, um sich noch eine Buchtel mit Powidl zu holen.

Dann kam der Salamandertriebwagen aus dem Tal, hielt fünf Minuten vor dem Schutzhaus und fuhr daraufhin über das Steilstück in Werners Blickfeld. In wenigen Sekunden hatte Werner ihn skizziert. Und dann arbeitete er sein Gemälde noch aus und legte großen Wert auf die Bäume und das Gebüsch um die Hütte. Nur wenige Meter höher begann das Gebiet ohne Bäume. Man war hier beinahe an der Baumgrenze.

Das Gemälde wurde sehr ansprechend. Lediglich Johanna mit ihrer vergrößerten Oberweite und dem kurzen Rock wirkte ein wenig deplatziert. Aber es war nun einmal eine Ansicht für ein Werbeplakat und da muss man Konzessionen machen.
Mit dem nächsten talwärts fahrenden Triebwagen ging es zurück nach Puchberg und zum nächsten Treffen mit Frau Dr. Ziegler brachte Werner sein Gemälde mit.

„Sehr schön“, sagte die Psychologin. „Erfüllt A und I und D. Das haben Sie gut gemacht. Das lassen wir auf alle Fälle drucken. Den Rest mit den Aufklebern mach ich alleine. Sie können sich jetzt um ein neues Projekt kümmern. Wir haben da einen Auftrag für 'functional food'“.
„Und was ist das?“
„In unserem Fall Milch“, sagte Dr. Ziegler. „Die Molkerei will sie wesentlich teurer verkaufen und wirbt mit der Gesundheit, die von dem Zeug ausgeht. Functional food-Werbung soll ja in der EU verboten werden, da machen wir das natürlich, so lang es noch geht.“

Werner hatte keine große Freude damit. Da mischte eine Molkerei ein paar Milligramm Vitamine in die Milch, verlangte für die Ascorbinsäure einen Preis von etwa 1.000 Euro pro Kilogramm und er, Werner sollte den Kunden klar machen, sie würden damit ihrer Gesundheit den größten Dienst erweisen.
Der Dr. Ziegler sagte Werner, er werde sich etwas dafür überlegen – und dann ging er nach Hause.

Am Abend hatte er eine längere Diskussion mit Johanna. Die Problematik war, ob er bei einem offenbaren Betrug, den ein Kunde der Werbeagentur plante, mitmachen sollte.
„Wieso Betrug?“, wollte Johanna wissen.
„Eine Molkerei, die ein paar Milligramm Vitamin C in die Milch mischt und das als Wundermittel teuer verklopft! Da soll ich ein Plakat dafür machen? Kommt doch nicht in Frage!“
„Und warum nicht?“
„Weil's net fair is!“ Werner rief es fast.
„Aber die Leut' kaufen so was!“
„Sind selber schuld dran! Wenn die Werbung net so aggressiv wär', tät' niemand das Zeug wollen!“
„Ja, wieso denn?“
„Kennst ja die Fernsehwerbung für das Joghurt, das den Darm in Ordnung bringt. Seit ich das g'sehn hab, kommt's mir vor, als ob alle Frauen Blähungen haben. Bin nur froh, dass du das Zeug nicht frisst!“
„Aber deine Milch hat Vitamine! Das is doch nix Böses!“
„I hab ja net g'sagt, dass es Gift is“, meinte Werner. „Also, wenn'st willst, mach i so a Plakat. Aber Freud hab i keine damit.“

Und Werner malte ein Plakat: Ein Teich im Winter, zugefroren. Nur am Ufer gibt es offenes Wasser und ein paar Eisschollen, dort wurde die Eisdecke aufgehackt. Und dort sieht man aus dem Wasser zwischen den Eisschollen den Kopf einer jungen Frau herausragen, die eine Packung der Vitaminmilch an ihre Lippen hält. Der Text dazu: „Vitamilch verhindert Erkältungen!“

Herrn Braun gefiel das Plakat zwar nicht, aber Frau Doktor Ziegler fand es „originell“, also übernahm man dieses Motiv für die Werbekampagne. Probleme gab es allerdings, als sich die Molkerei noch zu einem Fernsehspot entschloss. Das Plakat sollte plötzlich „lebendig“ werden und die junge Frau im kalten Wasser einen Text über „Abwehrkräfte“ der Vitamine hersagen. Aber ins eiskalte Wasser ging kein Model und außerdem wollte die Molkerei eine Prominente verwenden, der man solche Temperaturen ohnehin nicht zumuten konnte.
Werner schlug dann Filmaufnahmen in einem Hallenbad vor und die Eisschollen wurden aus Styropor gefertigt. Der Rest war eine Angelegenheit der Computertechnik und der Spot wurde recht eindrucksvoll.

Werner war jetzt immer öfter in der Werbeagentur. Er hoffte, doch noch fest angestellt zu werden, wenn er sich bemühte und gute Einfälle hatte. Und außerdem übernahm er freiwillig und unbezahlt diverse Arbeiten in der Verwaltung, was von Herrn Braun wohlgefällig zur Kenntnis genommen wurde. Frau Doktor Ziegler wurde auch immer zutraulicher. Die Ideen des Werner gefielen ihr offenbar — und der unvorteilhafte junge Mann wurde für sie immer attraktiver.

Einen massiven „Angriff“ auf Werner startete sie, als die Agentur Braun und Melzer drauf und dran war, eine große Supermarktkette als Kunden zu gewinnen.
Frau Doktor Ziegler wollte die Supermärkte dieser Firma „emotional aufladen“. Also so etwas wie ein Kennzeichen für die einzelnen Filialen kreieren, das die Kunden gefühlsmäßig ansprach. In Frage kam ein Tier, etwa ein Schweinchen, ein Hamster oder sonst irgendetwas Kleines, das Emotionen auslösen konnte.

Gegen das Schwein sprach, dass Moslems wahrscheinlich nichts damit anfangen konnten. Werner plädierte für ein Kamel, der Moslems wegen. Frau Dr. Ziegler bevorzugte ein Eichhörnchen.
Also malte Werner Eichhörnchen. Diesmal keine Plakate, sondern nur die Tiere selbst, in diversen Varianten, die ansprechend und heiter aussahen und außerdem beim Betrachter irgendwie ein Schutzbedürfnis auslösten.

Die Frau Doktor lud den Werner ein, sie zu Hause zu besuchen und die einzelnen Entwürfe im Detail durchzugehen.
Werner stimmte zu. In seiner Naivität war ihm gar nicht aufgefallen, dass die Frau Doktor ihn immer begehrlicher angesehen hatte. Außerdem war er sich seiner körperlichen Unzulänglichkeit bewusst und es wäre ihm gar nicht eingefallen, dass irgendeine Frau an ihm Gefallen gefunden haben könnte.

Allerdings war sich auch die Ziegler ihres wenig attraktiven Aussehens bewusst und ihr war klar, dass sie nicht jene Männer haben konnte, nach denen ihr der Sinn stand. Nun ja, dieser Werner Pollak war zwar nicht einer der Schönsten, aber immerhin traute sie ihm zu, eine zufrieden stellende Aktion bewerkstelligen zu können.

Noch dazu brachte Werner zu seiner Verabredung Blumen mit. Er hatte es natürlich seiner Johanna gesagt, dass er mit seiner „Chefin“ in deren Wohnung eine Besprechung über die Gestaltung des Tieres für die Supermarktkette haben würde und Johanna hatte drauf bestanden, dass Werner für seinen Besuch Schnittblumen besorgte. Johanna hoffte ebenfalls, dass der Werner in der Agentur doch noch fix angestellt werden könnte.
Werner tauchte also mit seinen Blumen auf. Frau Doktor Ziegler war entzückt! Nein, die schönen Blumen! Dabei wäre ja nur eine Arbeitsbesprechung geplant! Ob denn sie selber, die Psychologin, den Werner so beeindruckt hätte, dass er an Blumen gedacht habe?

Werner log und sagte ja. Und in der Hoffnung, sein Verhältnis zur „Chefin“ noch weiter verbessern zu können, machte er der Frau Doktor ein paar unbeholfene Komplimente.
Das veranlasste die Frau Doktor, ihren (ohnehin schon projektierten) Versuch tatsächlich zu starten. Ebenso unbeholfen, wie Werners Komplimente waren, machte sie sich an ihn heran. Dicht nebeneinander saßen sie auf der Couch, als sie Werners Entwürfe betrachteten. Und am Ende saß Romana Ziegler auf Werners Schoß, legte die Brille ab und zog sich die Bluse aus. Dann folgte der BH und Werner sah, dass die Frau Doktor zwar kleine, aber feste und wohlgeformte Brüste hatte.
So unattraktiv war die Frau Doktor also gar nicht! Und mit der einer Frau angeborenen Raffinesse begann sie nun, den Werner zu bearbeiten.

Der, welcher bisher nur mit seiner Johanna Erfahrungen hatte, war völlig überrascht von Romanas Aktivitäten. Und er ließ auch anstandslos zu, was da mit ihm passierte. Er fühlte instinktiv, dass diese Frau da in seinen Armen im Grunde zutiefst unglücklich war. Also konzentrierte sich Werner darauf, die Frau Doktor wenigstens dieses eine Mal glücklich zu machen. Und das gelang ihm so gut, dass ihr Höhepunkt genau gleichzeitig erfolgte.
Romana war selig.

Als sie dann nebeneinander auf dem Rücken lagen, fragte Werner geradeheraus: „So ein Erlebnis hast du wohl nicht oft.“ Romana sah ihn von der Seite her an und meinte traurig: „Eigentlich nie. So wie ich aussehe?“
Daraufhin entspann sich eine Diskussion über Romanas Selbsteinschätzung. Werner versicherte, dass die Psychologin gar nicht unattraktiv wäre und sich einfach mehr trauen sollte. Innerhalb kürzester Zeit war Werner beinahe in der Situation eines Therapeuten. Und Romana hörte konzentriert zu.

Jetzt zeigte sich, dass Werner doch schon einige Grundsätze der Psychologie aufgeschnappt hatte. Er machte doch tatsächlich so etwas wie eine Therapie aus seinem Vortrag. Und dazwischen flocht er ein, dass er mit seiner Johanna so gut wie verlobt wäre und dass er deshalb Bedenken gehabt hätte, was die heutige Vereinigung mit Romana betraf. Aber dass er es keinesfalls bereue!

Lange sprach er auf die Psychologin ein. Und Romana fühlte sich dabei immer besser.
Schließlich unterbrach sie Werner. Sie werde sich neue Kleidung besorgen und in der Öffentlichkeit in Zukunft selbstbewusster auftreten. Die Beziehung zu Werner sollte ihr kleines Geheimnis bleiben und Werner sollte sich nicht darum sorgen, dass seine Verlobte davon Wind bekam.

Und zum Schluss fragte sie noch: „Kann ich was für dich tun, Werner?“
„Du kannst schauen, ob ich in der Agentur einen festen Job kriegen kann, dann kann ich endlich die Johanna heiraten“, sagte Werner.
„OK, mach ich“, meinte Romana. Und dann verabschiedete sich Werner. Über das Tier für den Supermarkt wurde überhaupt nicht gesprochen. Aber es wurde wie selbstverständlich jener Entwurf, der das Eichhörnchen auf den Hinterbeinen stehend und eine Haselnuss fressend zeigte.

Nach Hause zurückgekehrt rief Werner die Johanna an und berichtete ihr, dass er wieder vorangekommen wäre. Aber was sich tatsächlich ereignet hatte, darüber schwieg er.
Werner kam dann erst wieder nach etwa einer Woche in die Werbeagentur. Da hatte sich Frau Dr. Ziegler bereits sehr zu ihrem Vorteil verändert. Sie trug jetzt auf Taille geschnittene Kostüme, höhere Absätze und die Brille hatte eine modische Fassung erhalten. Die Psychologin hatte sich innerhalb kürzester Zeit zu einer durchaus attraktiven Dame gewandelt.

Am Ende der Woche erhielt Werner überraschend das Angebot des Herrn Braun zu einer Dauerstellung als Assistent der Frau Doktor Ziegler. Sie hatte seine Fähigkeiten erkannt und den Chef eigens um seine Anstellung gebeten.
Das Gehalt war zwar etwas mager, aber gerade noch ausreichend und Werner sagte natürlich dankbar zu.

Am ersten Dezember begann Werner seinen neuen Job. Frau Dr. Ziegler stellte ihm ausreichend Literatur über Werbepsychologie zur Verfügung und Werner begann, sich für die Materie zu interessieren. Und Johanna sah sich um eine Wohnung für das künftige Ehepaar Pollak um.

Für Werner wurde das nächste Vierteljahr sehr anstrengend. Er hatte sich da mit seiner Chefin auf etwas eingelassen, das ihn beinahe überforderte.
Etwa einmal im Monat lud ihn Romana abends ein. Sozusagen Überstunden. Allerdings der besonderen Art.
Werner folgte diesen Einladungen mit sehr gemischten Gefühlen. Einerseits mochte er seine Chefin, die ja jetzt tatsächlich seine Vorgesetzte war, andererseits fühlte er sich dabei als Betrüger seiner Johanna gegenüber. Mehrmals bereits hatte er Romana angekündigt, dass es wohl das letzte Mal wäre, sie solle sich endlich einen festen Freund suchen. Zumal er abends meistens mit Johanna eine Verabredung zu einer Wohnungsbesichtigung hatte und diese enttäuschen musste.

Aber es wurde schließlich März, bis Romana eines Morgens wie verwandelt in der Agentur erschien. Ihrem Intimus Werner teilte sie sofort die Neuigkeit mit: Sie hatte am Vorabend eine ernst zu nehmende Bekanntschaft gemacht. Und diese Bekanntschaft hatte sofort zu einem zärtlichen Abend geführt.
„Den Burschen muss ich mir aber anschauen“, kündigte Werner an. „Ob der auch was is' für dich!“
„Klar“, sagte Romana. „Nächste Woche mach ich ein Abendessen für meinen neuen Freund und dich. Und du kommst mit deiner Johanna! Lern' ich sie endlich auch einmal kennen!“

Ab diesem Tag normalisierte sich endlich die Situation. Romana war tagsüber zwar kaum ansprechbar, zu sehr beschäftigte sie sich mit ihrer neuen Situation und Werner machte im Büro die Hauptarbeit, aber er lernte viel dazu.
Dazu arbeitete er auch ständig an neuen Bildern mit dem Eichhörnchen, die auf die Flyer kommen sollten, die die Post „An einen Haushalt“ verteilte. Der Supermarkt machte sehr oft solche Aktionen und das Eichhörnchen, das mit dem Sonderangebot abgebildet war, wurde von den Kunden offenbar voll akzeptiert.

Johanna war von der Einladung bei Werners Chefin nicht sehr angetan, akzeptierte deren Annahme aber als Notwendigkeit. Und dann wurde es ein recht interessanter Abend.
Albert Dorner, der neue Freund von Romana war ein etwa fünfzigjähriger Autohändler, der von seiner Frau verlassen worden war und ein gut gehendes Unternehmen führte. Seine Frau hatte im Betrieb mitgearbeitet und fehlte jetzt. Albert lag also daran, seine Romana in die Firma einzuführen und ihr unter Anderem die Werbung dafür zu übertragen.
Romana überlegte die Sache noch. Die Werbeagentur zu verlassen, fiel ihr schwer, zumal sie sich für den Werner verantwortlich fühlte.

Während des Essens wurde also ausführlich über die Pläne der Frau Doktor Ziegler diskutiert und Werner redete ihr zu, die neue Chance doch wahrzunehmen. Johanna wunderte sich darüber, wie offen und ungezwungen die beiden Arbeitskollegen miteinander umgingen. (Und vielleicht keimte sogar ein gewisser Verdacht in ihr auf). Aber man schied im besten Einvernehmen voneinander und dann geschahen die nächsten Ereignisse ganz folgerichtig:
Frau Doktor Ziegler kündigte.
Werner Pollak wurde zu ihrem Nachfolger.
Dann heirateten erst Werner und Johanna und danach Romana und Albert.

Jetzt ist Ruhe eingekehrt in der Werbeagentur Braun und Melzer. Werner hat viel zu tun, die Arbeit macht ihm aber Spaß.
Dem Autohaus Dorner geht es gut und Romana ist glücklich.
Und Johanna Pollak ist es auch. Dass ihr Mann mit seiner Chefin ein Verhältnis gehabt hatte, darüber wurde nie gesprochen.
Jetzt allerdings ist Werner seiner Johanna treu. Und das ist immerhin die Hauptsache!

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