KunstGeschichten

KunstGeschichte: Unbekannte Gemälde

Als der Kunsthistoriker Nikolaus Konrad Walpurga kennenlernt, traut er seinen Ohren nicht. Denn die junge Frau behauptet, von den Toten auferstanden zu sein, um die Gemälde ihres Geliebten zu retten. Ob Walpurga die Wahrheit erzählt, erfahren Sie in der neuen KunstGeschichte von Erich Wurth.

1683 ist eine Jahreszahl, die jeder Wiener kennt. Vielleicht ist die unterschwellige Aversion der Wiener gegen die Türken auf diese Jahreszahl zurückzuführen. Dabei hatte es schon über hundertfünfzig früher einen ähnlichen Auslöser gegeben. Denn 1529 marschierte ebenfalls eine starke Streitmacht der Osmanen vor Wien auf und versuchte angestrengt die Stadt unter ihre Herrschaft zu bringen. Nur ist die Erinnerung daran bereits etwas verblasst. Die erste Belagerung war Folge der Geschichte: Nachdem die Osmanen mit der Eroberung Konstantinopels 1453 das Oströmische Reich vernichtet hatten, zogen sie weiter nach Westen. Besonders ins Auge fiel ihnen Ungarn, das weite flache Land mit seinen fruchtbaren Böden. Deswegen bewegte sich das türkische Herr 1526 dorthin, schlug den ungarischen König und brannte die Hauptstadt Buda nieder.

Nun war die Bahn frei für die nächste Etappe! Im Westen lockte der „Goldne Apfel“, wie Wien von den Türken genannt wurde. Fruchtbare Felder in Ungarn sind zwar schön, aber Wien hatte noch mehr zu bieten! Also wurde beschlossen, den Österreichern eine auf die Birne zu hauen!
Der Aufmarsch nach Wien gestaltete sich schwierig. Insbesondere gab es noch keine Autobahn zwischen Budapest und Wien, die Straßen waren unter aller Kritik. Besonders das schwere Geschütz kam kaum voran und Sultan Süleyman war gezwungen, seine schweren Belagerungskanonen zurückzulassen.

In Wien wurde man nun ziemlich nervös. Die Befestigungen von Wien stammten aus dem 13. Jahrhundert und da man in Wien schon damals recht schlampig war, waren die Mauern in miserablem Zustand. Der Erzherzog (der spätere Kaiser Ferdinand I.) floh mitsamt seiner persönlichen Streitmacht nach Innsbruck. Wenn die bösen Türken kommen, geht man besser ein bisschen Ski fahren. Wien wurde unter Graf Niklas Salm und dem Bürgermeister Treu allein gelassen.
Salm verstärkte die Mauern. Eine hölzerne Palisade mit 3 Metern Höhe wurde aufgesetzt, wobei die Wand leicht nach außen geneigt war, um die Basis der Mauer beschießen zu können.
Die 11.100 Mann der Garnison Wien warteten also auf die 150.000 Türken, davon über 80.000 Mann aktive, trainierte Truppen. Zunächst trafen die türkischen Reiter ein und vernichteten alles in den Vorstädten, was noch übrig war, denn Graf Salm hatte die Vorstädte bereits niederbrennen lassen. Man hätte sie keinesfalls halten können uns so hatte man freieres Schussfeld.
Schließlich, am 27. September 1529, hatte die türkische Hauptstreitmacht ihre Stellungen bezogen. Die hölzerne Brücke über die Donau wurde zerstört und 600 Schiffe hatten die Donau völlig unter ihrer Kontrolle. Aus Wien kam keine Maus mehr heraus.

'Und auch keine mehr rein', dachte Walpurga bedrückt und kuschelte sich wieder in ihr Lager aus alten Kleidern, das sie sich im Keller des ausgebrannten Hauses zurecht gemacht hatte, in dem sie Zuflucht fand. Das Haus war zwar nur mehr eine Brandruine, aber der Keller war weitgehend unzerstört. Das Gebäude befand sich in der Vorstadt Laimgrube in der Kothgasse, also einem Viertel, das im näheren Umkreis keinen guten Ruf genossen hatte, befanden sich hier doch einige Frauenhäuser, wie man die Bordelle zur damaligen Zeit nannte.
Walpurga hoffte, sobald sich der Trubel um die Ausgestaltung des türkischen Zeltlagers etwas gelegt hätte, nachts an das Kärntnertor schleichen zu können und zu versuchen, in die Stadt zu kommen. Das Tor war ja sicher auch während der Nacht bewacht!

Konrad war ja noch glücklich weg gekommen. Gerade noch im letzten Moment! Allerdings waren seine Bilder da geblieben. Auch das der heiligen Muttergottes mit dem toten Christus, das ihr immer so sehr gefallen hatte. Konrad Gaishut war schon ein verteufelt guter Maler! Wenn nicht die Türken im Land gewesen wären, hätte der Konrad bestimmt seinen Weg als Künstler gemacht!
Gegen Mitternacht rappelte sich Walpurga nochmals auf und stieg mit einer Fackel ins zweite Kellergeschoß hinunter. Dort lagerten die Gemälde des Konrad, verpackt in Tücher und an die Wand gelehnt. In diese Tiefen würden sich die Türken wohl kaum begeben und damit wären die Gemälde bis auf Weiteres gerettet. Walpurga sprach ein innbrünstiges Gebet zugunsten ihres Geliebten Konrad im Angesicht der Gottesmutter.

Zwei Tage später schlug ein Geschoß der Verteidiger im Keller in der Laimgrube ein. Es stammte aus einem der Geschütze am Kärntner Tor, gegen das Sultan Süleiman die Angriffe konzentrierte. Hier schien dem türkischen Sultan die Verteidigung besonders schwach zu sein.
Und es war ein dummer Fehlschuss, der Walpurga das Leben kostete. Der Kanonier hatte auf die Anhöhe hinter der Furt über die Wien gehalten, etwa dorthin, wo später das habsburgische Lustschloss, die „Favorita“, entstehen sollte. Dort war eine Batterie der Türken auszumachen, die gerade eine Gruppe von Arkebusieren von der Stadtmauer gefegt hatte.

Einer der Kanoniere hatte die große, langläufige 24-Pfund Kanone auf das Ziel gerichtet und gerade die Zündschnur angesteckt, als Niklas Graf Salm die Stadtmauer betrat. Die Kanonenmannschaft war bestrebt, den Oberkommandierenden militärisch zu grüßen und die Männer drängelten sich hinter der Kanone. Dabei stieß einer der Männer gegen die Lafette und verschob die Kanone so, dass der Schuss weit nach rechts fehl ging.

Walpurga hörte in ihrem Keller plötzlich einen lauten Krach, die Kellermauer, an der sie in ihren alten Bekleidungsstücken lag, brach über ihr zusammen und mit einem Mal war Walpurga von Trümmern begraben. Sie bekam keine Luft, auf ihrer Brust lastete ein sehr schwerer Holzbalken und langsam wurde ihr klar, dass sie das nicht überleben würde.
Sie dachte noch an die Gemälde hier im Keller und an den Konrad, der inzwischen schon längst über die Stadt Tulln hinaus sein musste und ihre Lunge bemühte sich vergeblich, etwas Atem zu holen.

Dann schwebte sie plötzlich aufwärts, einem Tunnel oder Gang zu, der offenbar in ein sehr helles, aber nicht blendendes Licht führte – und plötzlich stand sie einem älteren, bärtigen Mann gegenüber, der in eine schwarze Mönchskutte gehüllt war.
„Walpurga“, sagte der, „Pech gehabt. Das war ein Fehlschuss, hätte die Batterie jenseits der Wien treffen sollen. Aber so ist es besser, als wenn du den Janitscharen in die Hände gefallen wärst. Die hätten dich ganz schön zugerichtet.“
Walpurga glaubte, in dem älteren Mann den Heiligen Severin zu erkennen, ohne dass sie hätte sagen können, woran sie ihn erkannte. „Was ist mit Konrad, heiliger Severin?“, fragte sie. „Und was wird aus seinen Bildern?“
Der Mann zuckte die Schultern. „Konrad geht’s gut“, sagte er. Und: „Die Bilder wird wohl keiner mehr zu Gesicht kriegen.“
„Das ist ja entsetzlich!“, begehrte Walpurga auf. „Die Bilder sind echte Kunstwerke! Das wäre doch zu schade! Kann ich die irgendwie retten? Der arme Konrad!“
„Du bist tot, Walpurga“, sagte der alte Mann. „Kannst leider nichts mehr tun für die Bilder!“
„Heiliger Severin, ich bitte dich, mir irgendwie zu helfen! Du hast doch so viele Wunder gewirkt! Du kannst doch die Gemälde nicht einfach aufgeben! Über Konrad Gaishut soll man noch reden in der Zukunft!“

Der alte Mann sah sie traurig an und schüttelte den Kopf. Da fiel Walpurga auf die Knie und umfasste den Saum der Mönchskutte.
„Lieber heiliger Severin“, jammerte sie. „Ich tu alles, um die Bilder zu retten! Sag mir doch, was ich noch tun kann für den Konrad und für seinen Ruhm in der Zukunft! Du bist doch wundertätig! Es muss noch eine Möglichkeit geben!“
Der alte Mann strich Walpurga gütig über's Haar. „So lieb hast du den Konrad?“, fragte er.
Walpurga nickte und die Tränen rannen ihr aus den Augen.
„Moment“, sagte der alte Mann. „Ich muss den Chef fragen.“

Plötzlich war Walpurga wieder allein. Und auf einmal war sie wieder in ihrem Keller und schwebte über ihrem Körper, der da unter einem breiten Holzbalken lag. Der Balken hatte sie tatsächlich zerdrückt. Und für einen Moment fühlte sie wieder den Schmerz, den das Holz in ihrer Brust verursachte. Es war überhaupt nicht angenehm!
Und dann war sie wieder vor dem alten Heiligen. „Ich kann dir einen Vertrag anbieten“, sagte der. „In den nächsten fünfhundert Jahren kriegst du in unregelmäßigen Abständen dein Leben wieder zurück, aber immer nur für eine kurze Zeit. Dann stirbst du wieder. Und das Sterben kann sehr unangenehm sein. Aber du hast immerhin jeweils ein paar Tage oder Wochen, in denen du was für die Bilder tun kannst. Aber ich warne dich! Die Zeit ändert sich schnell und du musst jedes Mal neu lernen, dich auf die neue Zeit einzustellen! Das wird nicht einfach! Willst du das?“
„Ja!“, jubelte Walpurga!
„Dann viel Glück, liebe Walpurga“, sagte der Heilige und streichelte noch einmal ihr Haar. „Ich wünsche dir Erfolg bei deinem Vorhaben!“

Beinahe 500 Jahre später fuhr der junge Kunsthistoriker Nikolaus Konrad mit seinem Kleinwagen die Gumpendorferstraße stadtauswärts. Von der Zweierlinie war er hier her eingebogen und wollte zum Café Ritter, in dem er mit seinem Freund Michael Stadtlehner verabredet war.
Nikolaus hatte einige Probleme, bis er in der Amerlingstraße einen Kurzparkplatz gefunden hatte, aber dann betrat er das im klassischen Stil gehaltene Kaffeehaus.

Michael war schon da. Und außerdem saß eine junge Frau an seinem Tisch. Nikolaus trat hinzu.
„Darf ich dir Walpurga vorstellen?“, sagte Michael. „Sie macht mich noch total verrückt mit ihrer Geschichte.“
„Na, schieß los“, sagte Nikolaus und setzte sich. Diese Walpurga war ein äußerst hübscher Käfer! Aber ihr Augenausdruck war etwas seltsam.
„Walpurga behauptet, im Jahr 1506 geboren zu sein“, sagte Nikolaus. „Seither hat sie immer wieder ein paar Wochen gelebt und ist dann wieder gestorben. Und ungefähr achtzig Jahre später dann noch einmal. Immer wieder! Ich werd' nicht schlau draus!“
„Du bist doch der Psychologe“, sagte Nikolaus. „Was soll ich damit?“
„Das hat was mit Kunst zu tun“, meinte Michael. „Fällt mehr in dein Fach. Walpuga soll dir's selber erzählen. Kennst du einen Konrad Gaishut?“
„Nie von dem gehört!“
„Kann sein“, sagte Walpurga. „Dann hat er also keine Karriere gemacht. Aber hier in Wien gibt es ein paar Bilder von ihm. Im Keller in der Kothgasse in der Laimgrube!“
„Kothgasse kenne ich nicht“, sagte Nikolaus.
„Wird umbenannt worden sein“, vermutete Walpurga. Und dann erzählte sie vom September 1529 und wie sie im Keller von einem Kanonenschuss, der vom Kärntner Tor abgefeuert worden war, getroffen wurde. Und außerdem erzählte sie von der Abmachung mit dem Heiligen, der ihr angekündigt hatte, nach jeweils ein paar Wochen am Leben wieder sterben zu müssen.

Das war ja bereits öfter der Fall gewesen.
Im Jahr 1590 zum Beispiel wäre Walpurga im Gasthaus zur güldenen Sonne in der Rotenturmstraße bei dem „Neulengbacher Erdbeben“ verschüttet worden. Am 15. September gegen Mitternacht hätte die Erde gebebt und bis zum 16. September gegen 7 Uhr früh hätte Walpurga noch gelebt. Das Erbeben hätte etwa Stufe 6 auf der Richter-Skala gehabt und der Turm der Michaelerkirche wäre ebenfalls eingestürzt.
Nikolaus Konrad machte sich Notizen. Das wollte er überprüfen!

Walpurga erzählte weiter vom Jahr 1683. Da wären die Türken schon wieder da gewesen! Keine Chance für Walpurga, etwas wegen der Bilder zu unternehmen. Aber am Mittwoch, dem 14. Juli wäre in Wien ein Großbrand ausgebrochen. Schottenstift, Harrachhaus, Traunhaus, Palais Palffy und Auersperg, bis zur Herrengasse war das gesamte Gebiet betroffen und Walpurga kam nicht mehr aus dem Inferno heraus. Das wäre ihr schlimmster Tod gewesen, gestand sie.

Dann wäre sie knapp über hundert Jahre tot gewesen. Erst im Jahr 1784 war sie wieder unter den Lebenden. In diesem Jahr wäre ein bekannter Schriftsteller in Wien gewesen, ein gewisser Cavaliere Giacomo Casanova. An den habe sie sich gewandt und ihm ihre Geschichte erzählt.
Aber dieser Casanova habe das offenbar nicht ernst genommen. Der Mann, etwa 60 Jahre alt, wäre weder attraktiv noch charmant gewesen, habe ihr aber unermüdlich nachgestellt. Dabei habe er unter beinahe ständigem Nasenbluten gelitten. Walpurga habe sich vor ihm geekelt!
Ihr Ende wäre damals recht unspektakulär gewesen. Sie wäre plötzlich krank geworden und wurde ins neue „Allgemeine Krankenhaus“ gebracht. Dort starb sie.

Den nächsten Versuch, etwas für Konrad Gaishuts Bilder zu tun, unternahm sie 1853. Es war das Jahr des Attentats auf Kaiser Franz Josef und der Beginn des Krimkrieges. Künstlerisch war man in Wien dem Historismus verpflichtet und Walpurga erhoffte sich von dieser Stimmung einen Versuch, die Gemälde zu bergen.
Damals wurde sie an einen Kunsthistoriker verwiesen, der im Sommer in Gänserndorf wohnte. Einen gewissen Doktor Kalb. Leider hatte sie offenbar zu viel Zeit dafür gebraucht, den Doktor ausfindig zu machen. Denn als sie mit der Bahn nach Gänserndorf fahren wollte, überquerte sie am Nordbahnhof ein Gleis, ohne auf den Zugverkehr zu achten und landete unter einer Lokomotive.

Das nächste Mal war es 1918. In Wien herrschte Hungersnot und die Spanische Grippe grassierte unter der Bevölkerung. Walpurga lernte das Autofahren und wurde im Rettungsdienst eingesetzt. Aber offenbar hatte sie sich mit der Grippe infiziert und verstarb noch vor dem Kriegsende, im Oktober 1918, ohne etwas für Konrads Bilder tun zu können.
Und nun wären die fünfhundert Jahre, die ihr der Heilige 1529 zugebilligt hatte, beinahe aufgebraucht. Und Konrad Gaishuts Gemälde wären immer noch in dem Keller auf der Laimgrube vergraben. Walpurga bitte daher inständig, sich die Keller in diesem Gebiet anzusehen! Die Gemälde müssten jetzt endlich ans Tageslicht! Sie habe genug durchgemacht im letzten halben Jahrtausend!

Nikolaus Konrad sah seinen Freund Michael prüfend an. „Hast du das alles schon gewusst?“
Michael nickte. „Ich hab's auch überprüft. Alles in Ordnung. Nur den Doktor Kalb konnte ich nicht ausfindig machen. Aber sonst stimmt alles! Jetzt hab ich gehofft, du kennst den Konrad Gaishut.“
„Nie gehört von dem“, sagte Nikolaus. „Was natürlich nichts heißt! Vielleicht liegen da wirklich Bilder im Keller, die ein Vermögen wert sind! Ist ihre Geschichte aus psychologischer Sicht möglich?“
„Aus psychologischer Sicht, ja. Aber nicht aus der Sicht des gesunden Menschenverstandes. Psychologisch hab ich mit der Walpurga schon jede Menge Tests gemacht. Inklusive Hypnose und Lügendetektor. Sie sagt die Wahrheit. Aber glauben kann man das nicht!“

Nikolaus sah der Walpurga in die Augen. „Walpurga, was sind Sie? Ein Gespenst? Ein Zombie?“
Diese zuckte die Schultern. „Ich bin ein armes Weib, das den Konrad so lieb gehabt hat, dass es alles tat, um seine Bilder der Nachwelt zu erhalten“, sagte sie. „Aber bisher bin ich auf die Schnauze gefallen damit.“
„Wir kümmern uns drum“, sagte Nikolaus ganz einfach. Walpurga strahlte plötzlich.
„Wo wohnen Sie denn?“, fragte dann Nikolaus. Sie nannte eine Adresse ganz in der Nähe, im siebenten Bezirk. „Ich bring Sie nach Hause“, bot Nikolaus an. Und dann zahlte er und alle drei brachen auf.

Als Nikolaus die Walpurga heim brachte, war er schon beinahe davon überzeugt, dass alles seine Richtigkeit hatte, obwohl die Sache doch einfach zu phantastisch war. „Wie geht das vor sich, wenn Sie wieder neu zum Leben erwachen?“, fragte er sie.
„Ich werde ganz einfach wach. Und weiß auf einmal, es geht wieder los. Und ich weiß auch, wer ich bisher war, bevor ich als Walpurga aufgewacht bin. Jetzt bin ich im Körper der Svetlana Zeman aus Plenkovice, in der Nähe von Znaim. Aber ich kann nicht Tschechisch, zumindest nicht mehr, seit ich die Walpurga bin.“
„Und diese Frau Zeman ist der Walpurga ähnlich?“
„Wie eine Zwillingsschwester. Genauso hab ich 1529 ausgesehen. Natürlich hab ich damals keinen Minirock getragen.“
„Steht Ihnen aber sehr gut!“
„Danke!“
„Sagen Sie, Walpurga, wie ist das zwischen Ihren lebendigen Phasen? Da sind Sie ja sozusagen im Jenseits, oder?“
„Das weiß ich nicht genau, ist aber anzunehmen. Ich schlafe und hab noch nicht viel davon gesehen. Es dürfte aber ein recht freundlicher Ort sein.“
Nikolaus brummte nur.
„Jetzt werde ich bald endgültig dort sein“, sagte Walpurga schwärmerisch. „Wenn Sie tatsächlich die Gemälde finden, hab ich es geschafft!“
„Sie meinen, dann müssen Sie sterben?“
„Sicher! Ziemlich schnell sogar!“
„Und Sie haben keine Angst davor?“
„Im Gegenteil! Ich freu mich drauf!“
Sie waren in der Siebensterngasse angekommen. Walpurga gab dem Nikolaus noch ihre Telefonnummer und dann verabschiedeten sich die beiden.

Nikolaus ließ die Sache natürlich keine Ruhe. Zu Hause prüfte er alles nach, sofern das Internet Auskunft gab. Casanova war tatsächlich 1784 in Wien gewesen und hatte Graf Joseph Karl Emanuel von Waldstein hier kennen gelernt, der ihm seine letzte Stellung als Bibliothekar im Schloss Dux angeboten hatte. Der Stadtbrand 1683 hatte tatsächlich stattgefunden, es war aber nicht geklärt, ob der Brand von den Türken ausgegangen war oder nicht.
Nikolaus war daher gegen Mitternacht sicher, die Gemälde finden zu können. Beruhigt ging er zu Bett. Jetzt musste er nur aufpassen, dass er sich nicht in die Walpurga verliebte! Viel Zeit hatte die ja sicher nicht mehr!

Am nächsten Tag hatte er herausgefunden, dass die Kothgasse heute Gumpendorfer Straße hieß und dass die von Walpurga bezeichneten Häuser im Jahr 1529 in deren innerstem, der Stadt zugewandtem Teil liegen mussten. Zwei Stunden später hatte er von den Hausverwaltungen die Genehmigung, sich in den Kellern der Häuser umzusehen. Und am Abend vereinbarte er mit Walpurga die Besichtigung am nächsten Tag.
Walpurga kam mit dem Kleinwagen der Frau Zeman angefahren, parkte sich vor dem Haus Nummer 4 in der Gumpendorferstraße ein und stieg aus. „Fürchterlicher Verkehr“, sagte sie. „Mein Führerschein stammt von 1918, damals waren nur ein paar Pferdefuhrwerke auf der Straße!“
„Tempora mutantur, - die Zeiten ändern sich“, pflichtete Nikolaus ihr bei.
„Aber die synchronisierten Getriebe sind ein Hammer“, sagte Walpurga und dann klingelte Nikolaus den Hausmeister heraus.
Die Besichtigung des Kellers ergab überhaupt nichts. Der Boden war mit Natursteinen ausgekleidet und der Raum bestand nur aus dem einen Geschoß. Es gab keine Möglichkeit, noch tiefer in die Erde zu dringen.

Nikolaus und Walpurga zogen weiter zum nächsten Haus, der Nummer 6.
Auch hier Fehlanzeige. Der Kellerboden bestand aus gestampfter Erde, aber es ging nirgends tiefer. Als Walpurga und Nikolaus wieder auf die Straße traten, sagte Walpurga: „Ich habe das Gefühl, die Straße war früher mehr oben auf dem Berghang. Und wir sind schon ganz in der Nähe der Bilder.“
„Möglich“, meinte Nikolaus. „Die Vorstadt war völlig kaputt damals, da wird auch die Straße nicht mehr am Originalplatz liegen. Jedenfalls nicht genau.“
Sie betraten das nächste Haus, das bereit jenseits der Königsklostergasse lag.
Hier wurde Walpurga unruhig. „Hier könnte es sein“, murmelte sie.
Aber anstatt in den Keller zu steigen, ging Walpurga durch das Haus durch und betrat den Innenhof des Gebäudes. „Hier“, sagte sie. „Das spüre ich, dass die Gemälde da unter uns sind!“
Nikolaus begann mit einer genauen Untersuchung des Bodens. Hier war Gras angebaut und die Halme sehr kurz gemäht. An der Ziegelmauer, die das Grundstück zum Nachbargrund im Nordwesten abschloss, befand sich eine Art von Beet. Hier war die Erde lockerer und ein Gebüsch befand sich im Zentrum der lockeren Erdfläche. Nikolaus rief von seinem Handy aus die Hausverwaltung an und bat, hier im Innenhof eine Probegrabung durchführen zu dürfen.

Die Verwaltung, von Nikolaus bereits beim ersten Gespräch von dem Verdacht, hier auf Gemälde zu stoßen, unterrichtet, gab ihre Zustimmung. Und schon wurde der Strauch ausgerissen.
Die Wurzeln der Pflanze waren unter der Erde um einen hölzernen Balken geschlungen, der schräg nach unten in die tieferen Erdschichten zu reichen schien. Und dieser Balken war verwittert und sah sehr alt aus. Nikolaus brauchte Hilfe. Er rief seinen Freund Michael an. Der sagte sofort zu, am nächsten Tag mit noch weiteren Helfern anzurücken.
„Gehen wir was essen“, schlug Nikolaus vor. „Die Gemälde holen wir uns morgen.“
„Sie holen sich die Gemälde“, verbesserte Walpurga. „Sobald die Gemälde gefunden sind, endet mein Vertrag mit dem heiligen Severin.“
„Und das heißt?“, fragte Nikolaus.
„Dass ich zurück muss, natürlich.“
„Doch nicht so schnell! Bleiben Sie doch noch!“
„Das würde ich sogar ganz gern“, sagte Walpurga. „Sie erinnern mich nämlich an den Konrad Gaishut. Außerdem heißen Sie auch Konrad.“
„Dann bleiben Sie! Was hindert Sie daran?“
„Mein Vertrag. Der heilige Severin wird auf dessen Einhaltung bestehen!“
„Und wenn er's nicht tut?“
„Dann bleib' ich noch. Ich werd' mich deshalb nicht umbringen!“ Nikolaus grinste zufrieden.
Sie fuhren in ein sehr elegantes und teures Restaurant. Und während des gesamten Essens fragte Nikolaus die Walpurga aus.

Walpurga gab bereitwillig Auskunft. Am schwierigsten für sie wäre es gewesen, sich immer auf die neue Zeit einzustellen. Bis 1590 und 1683 hatte sich kaum etwas verändert, denn da bestanden noch die alten Strukturen aus dem 16./17. Jahrhundert. Aber schon 1784 wäre alles ganz anders gewesen. In Wien war man seit Maria Theresia äußerst prüde und bei Nacht wurden Damen auf der Straße sehr argwöhnisch beäugt, ja sogar von der Polizei bespitzelt! Und Casanova wäre ein arroganter „Bimpf “ gewesen! (Walpugra sagte tatsächlich „Bimpf“[1] - also musste es das Dialektwort wohl schon 1529 gegeben haben.)
1853 war alles wieder ganz anders. Die städtische Gasbeleuchtung, die Eisenbahn! Ja, es gab auch schon den Telegrafen! Was sich seit 1784 doch alles geändert hatte!
Und erst 1918! Da ließ sich Walpurga sogar zur Kraftfahrerin ausbilden, obwohl sie anfangs große Angst vor den pferdelosen Fuhrwerken gehabt hatte!
Aber jetzt, im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert, wäre es ganz angenehm. Wenn ihr der heilige Severin noch etwas Zeit gab, würde sie diese wohl genießen!
Nach diesem Essen, am Abend musste sich Nikolaus eingestehen, dass er tatsächlich bereits im Begriff war, sich in die Walpurga zu verlieben… Verdammt! Wenn der Heilige jetzt stur war?
Der nächste Tag brachte dann die Gemälde ans Tageslicht.

Michael grub mit seinen Kumpanen den in der Erde steckenden Balken aus. In etwa eineinhalb Metern Tiefe stießen sie dann auf ein Skelett, dessen Brustkorb völlig zerdrückt war. Der Holzbalken hatte dem dort liegenden Menschen sämtliche Rippen gebrochen. Walpurga stand ergriffen vor ihren menschlichen Überresten.
Etwa einen Meter vom Skelett entfernt führten Steinstufen weiter in den Untergrund. Michael und Nikolaus stiegen mit einer Taschenlampe hinunter.
Wenige Minuten später kamen sie mit zwei Ölgemälden wieder zurück, die in verwitterte Leinentücher gehüllt waren.

Voller Spannung packte Nikolaus die beiden Bilder aus. Eines davon war eine Pieta und Nikolaus fiel sofort der eigenartige Stil auf. Es handelte sich um einen Stil der etwa in der Mitte zwischen der Donauschule und der frühen Renaissance lag, - also etwa ganz Besonderes!
Das zweite Gemälde zeigte einen bärtigen Mann in hellbrauner Kutte, mit Bischofsstab und Mitra, der das Modell einer Kirche in der rechten Hand trug. „Der heilige Severin von Köln“, sagte Walpurga. „Deshalb hab ich ihn sofort erkannt, als ich vor ihm gestanden bin.“
Und dann kniete sie vor dem Gemälde nieder und sagte: „Heiliger Severin, ich danke dir! Ich hab's geschafft! Das ist nur dir zu verdanken! Ich war schon tot, aber du hast mir trotzdem die Chance gegeben, die Bilder rauszuholen.“
Nikolaus hob Walpurga auf und küsste sie intensiv.

Aber Walpurga riss sich los und plötzlich bekam Nikolaus eine geknallt.
„Was machen Sie da? Wie komme ich überhaupt da her?“, schrie Walpurga. Aber ihre Stimme klang jetzt anders! Und sie sprach mit slawischem Akzent!
„Walpurga, bist du noch da?“, fragte Nikolaus.
„Ich bin Svetlana Zeman, keine Walpurga!“, sagte die junge Frau. „Wer ist das überhaupt?“
„Ich werd's Ihnen genau erklären“, versprach Nikolaus. Und zu Michael sagte er: „Hol bitte die anderen Bilder raus. Ich werde Frau Zeman alles erzählen.“
Obwohl Frau Zeman recht ungehalten wirkte, weil sie von einem Unbekannten geküsst worden war, gelang es dem Nikolaus, sie zu einem Gespräch in einem nahen Lokal zu überreden. Und dort erzählte er ihr haarklein, was in den letzten Tagen geschehen war. Frau Zeman hatte an die letzte Zeit keine Erinnerung mehr, was sie zutiefst beunruhigte. Aber Nikolaus gab ihr eine plausible Erklärung dafür, sofern man seine Geschichte überhaupt akzeptieren konnte.
Svetlana Zeman tat das offenbar. Nikolaus stellte erfreut fest, dass sie mit der Walpurga einige Charaktereigenschaften gemeinsam hatte, unter Anderem eine große Ehrfurcht vor der Kunst!

Und so ergibt sich zum Schluss folgendes Bild:
Die insgesamt acht Gemälde des Konrad Gaishut befinden sich im Kunsthistorischen Museum und werden von einem Expertenteam untersucht. Es ist ohne weiteres möglich, dass die Kunstgeschichte des 16. Jahrhunderts wird umgeschrieben werden müssen. Noch steht allerdings kein eindeutiges Urteil der Experten fest.
Svetlana Zeman wird momentan von Nikolaus Konrad auf das Heftigste umworben und sie hat an dem jungen Kunsthistoriker tatsächlich viel Gefallen gefunden. Es sieht so aus, als ob Nikolaus in der Svetlana seine Walpurga wiedergefunden hat.
Und Walpurga hat nach beinahe 500 Jahren ihr Ziel erreicht – und ruht nun, nach all den Mühen – endlich sanft und in Frieden.

Anmerkung
[1] Überheblicher Nichtsnutz

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