Buchrezensionen

Éléa Baucheron/Diane Routex: Skandalkunst. Zensiert. Verboten. Geächtet, Prestel 2013

Was haben Diego Velázquez’ Papstdarstellung, Otto Dix’ Kriegstriptychon, Tamara de Lempickas Frauenbildnis und Damien Hirsts mit Diamanten besetzter Totenschädel gemeinsam? Richtig: den Skandal! Éléa Baucheron und Diane Routex stellen im vorliegenden Band die skandalösesten, unerhörtesten Werke der Kunstgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart vor. Verena Paul hat die Publikation für Sie unter die Lupe genommen.

In dem hochwertigen Band »Skandalkunst« betrachten Éléa Baucheron und Diane Routex in vier großen Themenblöcken – »Sakrileg«, »Politisch inkorrekt«, »Sexuelle Skandale« sowie »Künstlerische Grenzüberschreitung« – 70 Kunstwerke aus dem Blickwinkel der Kontroverse. Blasphemie, politische Revolution, Sex und künstlerische Rebellion sind die Schlüsselworte, die den Lesern die Pforte zu polarisierenden Kunstwerken öffnen. Indem die Autorinnen die ausgewählten Arbeiten hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen, politischen, moralischen oder künstlerischen Sprengsätzigkeit befragen und deren vielfältige Ursachen und Folgen eruieren, demonstrieren sie: Der Skandal »fordert zum Nachdenken und manchmal auch zum Handeln auf. Er verwirft vorgefasste Ideen und überholte Vorschriften.« Insofern dürfen wir uns in den nachfolgenden Kapiteln auf alles gefasst machen – außer Langeweile!

In der Bibel heißt es bei Matthäus: »Weh dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt!« Dieser dem ersten Kapitel vorangestellte Leitsatz lässt erahnen, dass die hier betrachteten Werke mit der Institution Kirche in Konflikt geraten sind. So setzte zum Beispiel Diego Velázquez mit seinem Porträt »Papst Innozenz X.« (1650) den Pontifex maximus als keineswegs unschuldigen Menschen in Szene. Mehr als drei Jahrhunderte später schuf Andres Serranos die Fotografie »Immersion (Piss Christ)« (1987), die seither für Entrüstung sorgt, schließlich tauchte der Künstler für seine Aufnahme das Kruzifix in den eigenen Urin. Und wie steht es mit dem hyperrealistischen Werk »La nona ora« (1999) von Maurizio Cattelan, das nicht nur provozierte, sondern zudem auf dem Kunstmarkt seinen Wert erheblich zu steigern vermochte? Zu sehen ist der bereits von Krankheit schwer gezeichnete Papst Johannes Paul II., der – von einem Meteoriten getroffen – am Boden liegt. Die Reaktionen gingen in diesem wie auch in vielen anderen Fällen über Unmutsbekundungen hinaus und es erfolgten mehrere Anschläge auf das Werk.

Dass Politik und Kunst nicht immer auf einer Linie sind und häufig ein »durch Verachtung geprägtes Misstrauen« ihre Beziehung »vergiftet«, wie die Autorinnen diagnostizieren, offenbart sich den Lesern im dritten Themenkomplex. Obwohl die Kunst über viele Jahrhunderte von der Gunst der Obrigkeit abhängig war, begehren die Künstler sukzessive mit ihren Werken gegen bestehende Verhältnisse auf. Insofern ist Pablo Picassos Ausspruch diesem Kapitel völlig zu Recht vorangestellt: »Nein, die Malerei ist nicht dazu da, Wohnungen zu schmücken. Sie ist eine Waffe des Angriffs und der Verteidigung gegen den Feind.« Was aber, so die Frage Éléa Baucherons und Diane Routex’, wenn der Staat den Kunstschaffenden Entgegenkommen signalisiert? Birgt dies nicht auch eine Gefahr? Die Gefahr nämlich, dass sich die Künstler »in einem reibungslosen, gefahrlosen Alltag« festfahren und jene Reibungslosigkeit sich schließlich als kontraproduktiv für Kreativität erweist.

Paradigma eines aufbegehrenden Künstlers ist Otto Dix, der den Schleier von der schrecklichen Fratze des Krieges sowie der »Nachkriegszeit und ihrer harten Wirklichkeit« lüftete. Und mit Blick auf die Kunst unserer Tage sei das Werk »How to Blow Up Two Heads at Once (Ladies)« (2006) von Yinka Shonibare MBE genannt, das »auf den ersten Blick amüsant erschein[t]«. Allerdings bleibt ein unangenehmer Beigeschmack auf unserer Zunge haften, da die »kopflosen Figuren […], nachdem sie uns zunächst nur unterhalten haben, die Frage nach der kulturellen, ethnischen und nationalen Identität« stellen. Es ist eine Metapher für die Europäer, deren Wohlstand auf dem Elend von Menschen anderer Nationalität basiert. Und insofern stellt diese Arbeit eine Warnung dar, wie sie eindringlicher nicht sein könnte. Denn wenn es nicht bald eine Lösung für das Problem einer gerechten Verteilung von Reichtümern gibt, werden womöglich Köpfe rollen.

»Alle Kunst ist erotisch.« Zu wem könnte dieser Ausspruch wohl besser passen als zu dem österreichischen Maler Gustav Klimt, in dessen Frauenporträts es vor Erotik nur so knistert. Und die in diesem Teil herangezogenen Werke erweisen sich in der Tat als ein zu allen Zeiten probates Mittel der Grenzüberschreitung, ja sogar der gnadenlosen Provokation. Angefangen bei »Judith und Holofernes« (um 1620) von Artemisia Gentileschi, die in dem Gemälde ihr eigenes Schicksal einer Vergewaltigung einbindet, über den erotischen Holzschnitt »Der Traum der Fischersfrau« (1814) von Katsushika Hokusai bis hin zu den radikalen und deshalb von den Behörden streng überwachten Aktionen Otto Muehls oder der Fotografie »Kissing Policemen« (2005-09) des russischen Künstlerkollektivs Blue Noses. Gerade die zuletzt genannte Arbeit, die zwei sich zärtlich küssende Männer in russischer Militäruniform zeigt, ist hochaktuell, stimmte die Duma doch noch im Januar 2013 für ein Gesetz, das öffentliche positive Äußerungen über Homosexualität unter Strafe stellt.

»Die Schönheit ist so gut wie tot. Die Neuheit, die Intensität, die Fremdartigkeit – in einem Wort: der Schock in all seinen Spielarten – hat sie verdrängt.« Paul Valéry erfasst mit diesem Satz die Grenzüberschreitungen, die Künstler durch Erweiterung ihres Darstellungsfeldes gerade im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert wagten. Und heute? Ja, heute ist die Provokation nicht mehr Begleiterscheinung des künstlerischen Ausdrucks, sondern Ziel. Schließlich ist es lohnenswert zu randalieren. »Mehr noch – um den eigenen Erfolg sicherzustellen und der Nachwelt im Gedächtnis zu bleiben, ist die Provokation vielleicht sogar unabdingbar«, wie die Autorinnen schreiben. Das Bedenken und Unbehagen, das Éléa Baucheron und Diane Routex bezüglich jener Entwicklung äußern – und mit ihren Werkbetrachtungen untermauern – ist sehr treffend. So könne man »[a]ngesichts dieser neuen Dimension von Kunst […] das Überangebot schockierender Werke und die unaufhörlichen, zuweilen sinnentleerten Grenzüberschreitungen eigentlich nur noch zur Kenntnis nehmen.«

Waren Kunstschaffende in der Vergangenheit einer rigiden Kontrolle unterworfen und ihre Kunst nur sehr begrenzt frei, scheint heute das Skandalon seinen Triumphzug zu feiern. »Ist die Provokation«, wie die Autorinnen pointiert fragen, »zu einer neuen Norm geworden, der jedes Kunstwerk sich beugen muss?« Ein wunderbares Beispiel für das Zelebrieren der Provokation ist der Totenschädel »For the Love of God« (2007) des Enfant terrible der zeitgenössischen Kunst: Damien Hirst. Dieser mit 8601 Diamanten besetzte Schädel ist das teuerste je produzierte Kunstwerk. Da Hirst die gesamte Arbeit seinen Assistenten und einem berühmten Goldschmied übertrug, wurde der Vorwurf laut, es handele sich um ein von Marketingstrategien geleitetes Werk ohne jeden künstlerischen Inhalt. Andere Beispiele: Jeff Koons magentafarbener »Balloon Dog« (1994-2000), der im Herkulessaal des Schloss Versailles ausgestellt wurde oder die plastinierten Körper Gunther von Hagens, der seit den späten Siebzigerjahren nicht nur Leichname präpariert, sondern sie zudem in Szene setzt.

Fazit: Ein unerhört spannendes, wunderbar kurzweiliges, um nicht zusagen, ein verboten gutes Buch, das den Leser respektive Betrachter von der ersten bis zur letzten Seite in Beschlag nimmt. Daher empfehle ich es all jenen, die von den kleinen und großen Skandalen der Kunstgeschichte mehr erfahren möchten, denn die Vielfalt der darin gebotenen Perspektiven macht es in der Tat wertvoll!

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