Ausstellungsbesprechungen

Le grand Geste! – Informel and Abstract Expressionism, 1946-1964

Noch bis zum 1.8.2010 ist die rund 150 Werke umfassende Schau abstrakter gestischer Kunst der ersten 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Düsseldorf zu sehen. Günter Baumann hat sich die Ausstellung angesehen.

Man weiß nicht recht, woher die abstrakte gestische Kunst kommt – man mag sie entdecken in Arbeiten aus der Steinzeit über Frans Hals und Turner bis hin zu Van Gogh – , aber einen ihrer größten Triumphe feierte sie in der Zusammenkunft mehrerer paralleler nichtfigurativer Strömungen bei der zweiten Documenta 1959: dem Tachismus, dem Abstrakten Expressionismus, dem Informel und vergleichbarer Strömungen aus den USA, wo bereits in den 1920er Jahren der gegenstandslose Rumor sich geregt hatte, aus Frankreich, wo man mit der Befreiung von der Fremdherrschaft 1944 aus sich herausgegangen war, und schließlich aus Deutschland, das um 1947 künstlerisch überhaupt erst wieder zu sich gefunden hatte. Wo sie sich auch im Gestus und in der Leugnung des Sujets einig waren, so hatten sie allesamt eine eigene Handschrift, die eine umfassende Retrospektive wie die in Düsseldorf zur erfrischenden (Wieder-)Entdeckungsreise und erkenntnisreichen Bestimmungsübung werden lässt. Es wird gekratzt, gepinselt, gespachtelt, getropft und gewischt, gestrichelt, gemischt, was das Zeug hält. Grandios, so scheint es, ist der Triumph wie das Scheitern vor den Zeitläuften, die im Weltkrieg aus den Fugen gesprungen waren: Wie konnte man dem Massenmord und der beispiellosen Zerstörung begegnen, wenn nicht gegenstands-, d.h. gewissermaßen sprachlos, heftig oder gar aufbegehrend, wenn nicht innovativ anders?

»Bestimmte Menschen reden immer wieder vom Zurück zur Natur. Es fällt mir auf, dass diese Leute nie davon sprechen, dass wir vorwärts zur Natur gehen sollten« – so schrieb Adolph Gottlieb, der zu den weniger bekannten Malern des abstrakten Expressionismus gehörte, wohl weil er weniger die radikale Abkehr suchte als noch die Reste humaner und natürlicher Koordinaten, sozusagen Himmel und Erde beisammen hielt. Er gehört zu den Entdeckungen in der Düsseldorfer Schau, von ihm stammt auch die Erkenntnis, die die Fans der gestisch-gegenstandslosen Malerei schon immer ahnten: »Meiner Meinung nach ist eine bestimmte Art der Abstraktion gar keine Abstraktion. Sie ist im Gegenteil der Realismus unserer Zeit.« Das war allerdings lange bevor sich die (wirklichen?) Realismen breit machten.

Freilich kann eine solche Schau nicht allem gerecht werden: Während Pollock oder Rothko gesetzte Stars sind und bleiben, sind die Europäer höchst unterschiedlich präsent – hier der immer noch auch leibhaftig noch ganz gegenwärtige Karl Otto Götz, dort der erst in den vergangenen Jahren angemessen gewürdigte Albert Fürst, hier die immer wieder gezeigten Meister der »Quadriga« oder der »Gruppe 53«, darunter Schultze und Schumacher, dort der renommierte, aber im Rheinischen sträflich klein gehaltene Maler K.R.H. Sonderborg. Spannend zu beobachten und zugleich kaum systematisch greifbar sind die Herkunftslinien einer Kunst, die auf die Stunde Null setzte, welche es bekanntlich nicht gab. Rothko ist so sehr Romantiker, wie Pollock Surrealist oder Twombly ein Symbolist – oder man tauscht diese Zuordnungen gegeneinander aus, was genauso stimmig sein kann: Die Kunst ist allemal ein Abenteuer, je freier, desto weniger thematisch gebunden. Das gilt heute genauso wie früher, weshalb die Arbeiten noch immer wirken, als seien sie in der Gegenwart entstanden. Da sei es verzeihlich, dass es vorwiegend die klassisch gewordenen Werke sind und nicht so sehr die späten Bilder – kein Wunder, dass der frühe und mittlere Götz kräftiger daherkommt als der späte. Dennoch gönnt man ihm eine gewisse Leitfunktion bei der jüngsten Rezeption: Der bald hundertjährige Künstler ist auf erstaunlich vielen Ausstellungen zu sehen.

Die rund 150 Arbeiten umfassende Schau ist ein Genuss und stellt den Betrachter vor ein Rätsel, worin diese Faszination besteht (trotz Popart und Neorealismus). Vielleicht ist es jene divergente Bezüglichkeit, die auf nonfigurativer Ebene genau das wiederspiegelt, was auch eine gegenständliche Kunst nicht besser abbilden könnte: Ein und derselbe Stil spannt sich von der äußersten Extrovertiertheit bis hin zum sich entmaterialisierenden Introvertierten. Es mag dabei eine individuelle Beurteilung sein, ob die europäische oder die US-amerikanische Spielart dem einen oder anderen eher zuneigt. Verblüffend ist auf jeden Fall die ans Enzyklopädische grenzende Fülle der gezeigten Positionen, was vielerorts gepriesen wurde – die Linien führen bis nach Asien. »Le Grand Geste!« bezeichnet den Aktionismus der hier präsentierten, über 50 Künstler, als Urteil mag es auch den großen Atem umschreiben, den die Ausstellungsmacher bei der Entwicklung der Ausstellung haben obwalten lassen.

Weitere Informationen

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, siehe unten "Buchtipp".

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