Ausstellungsbesprechungen

Lyonel Feininger - Ein Sinnbild höherer Wirklichkeit, Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen, bis 15. April 2012

Quedlinburg hat viel zu bieten: Eine romanische Stiftskirche. Fachwerkbauten aus sieben Jahrhunderten. Und seit 1986 eine Galerie, die sich dem Werk Lyonel Feiningers verschrieben hat. Eine Auswahl ihres umfangreichen Grafikbestandes gastiert zurzeit im Reutlinger Kunstmuseum. Eine gute Gelegenheit, den für seine Malerei berühmten Bauhaus-Lehrer als einen Meister des Holzschnitts zu erleben. Sebastian Borkhardt war vor Ort.

»Alles was ist, alles was nicht ist, alles was wird, alles was werden muß, alles was werden soll, alles was werden kann und alles was nicht werden kann [...] ist das All.« Es sind Überlegungen kosmischen Ausmaßes, mit denen Hermann Klumpp (1902-1987) seine Abhandlung über »Abstraktion in der Malerei« (1932) beginnt. Sie unterstreichen den universellen Anspruch einer neuen Bildsprache, die für die meisten von Klumpps Zeitgenossen nicht mehr war als ein unverständliches Stammeln. Dasselbe gilt für den Holzschnitt, den Klumpp seinen Lesern auf der gegenüberliegenden Buchseite präsentiert. Lyonel Feininger (1871-1956) schuf ihn 1920. In stark abstrahierten Formen zeigt das »Gelmeroda« betitelte Blatt eine jener Dorfkirchen, die den deutsch-amerikanischen Künstler bei seinen Streifzügen durch die Weimarer Umgebung so nachhaltig beeindruckten.

Klumpp hatte Feininger während seines Studiums am Dessauer Bauhaus kennen gelernt. Beide verband eine innige Freundschaft, die den Nationalsozialismus überdauerte. Als Feininger 1937 emigrierte, vertraute er einen Großteil seiner Werke Klumpp an, der sie in seiner Heimatstadt Quedlinburg verwahrte. Viele der so geretteten Arbeiten – insbesondere diejenigen auf Papier – gingen nach dem Krieg in Klumpps dauerhaften Besitz über. Doch erst 1986 gelang es ihm, in Quedlinburg ein Museum zum Andenken an seinen väterlichen Freund zu gründen, den die Kunstpolitik der DDR als »dekadent« einstufte.

Anlässlich des 25. Todestags von Hermann Klumpp zeigt das Kunstmuseum Reutlingen in Kooperation mit der Lyonel-Feininger-Galerie Quedlinburg einen Querschnitt durch das Œuvre Feiningers, darunter Radierungen, Aquarelle und Fotografien. Der Schwerpunkt liegt aber auf den Holzschnitten, die mehrheitlich zwischen 1918 und 1920 entstanden. Björn Egging, der die Ausstellung konzipierte, deutet Feiningers intensive Beschäftigung mit dem Holzschnitt als einen »formanalytischen Klärungsprozess«. Demnach suchte Feininger um 1918 nach einem Weg, die Kunst von ihrer abbildenden Funktion zu befreien, ohne dabei den Gegenstand aufzugeben. Der Hochdruck bot sich hierfür an, erfordern seine begrenzten Möglichkeiten doch eine formale Reduktion, das heißt abstrahierendes Gestalten. Damit nimmt der Holzschnitt eine Schlüsselstellung in Feiningers Schaffen ein, der man im Spendhaus auf drei Ebenen nachspüren kann.

Im Erdgeschoss erinnern Titelseiten der »Lustigen Blätter« und anderer satirischer Zeitschriften aus der Jahrhundertwende an Feiningers erfolgreiche Laufbahn als Karikaturist und Comic-Zeichner. Dass er seinen Humor keineswegs verlor, als er sich 1907 ganz der freien Kunst zuwandte, veranschaulicht der Holzschnitt »Männer, Häuser, Laterne und Schiebkarren« (1918), dessen Entwurf aus Kinderhand stammen könnte. Ein grotesk-linkisches Element prägt auch solche Arbeiten, in denen Feininger weniger offensichtlich an seine beruflichen Anfänge anknüpft. Dies gilt etwa für die Staffagefiguren in seinen Küstenbildern, deren Gestalt sich manchmal kaum von den Masten eines Segelschiffes unterscheiden lässt.

Zwei weitere Stockwerke sind den beiden Motivbereichen gewidmet, die Feininger in immer neuen Varianten bearbeitete: die Architektur und das Meer. Zur ersten Gruppe gehört die »Straße in Paris« (1918), ein fulminantes Blatt, in dem Feininger die komplexen Gestaltungsmöglichkeiten des Raums im Wechselspiel von Linie und Fläche auslotet. Der Holzschnitt ist eine Hommage an die Stadt, in der Feininger um 1911 mit dem Kubismus in Berührung gekommen war. Aus ihm hatte er seinen unverkennbaren kristallinen Stil entwickelt, den er selbst »Prismaismus« nannte.

Mehr als die Großstadt interessierte den gebürtigen New Yorker aber das ländliche Thüringen. Hier entdeckte er die Kirchen, denen er in zahlreichen Arbeiten eine monumentale Präsenz verlieh. Neben der sogenannten »Kathedrale des Sozialismus« (1919), die das erste »Bauhaus-Manifest« ziert, gehören verschiedene Versionen der Kirche von Gelmeroda dazu. So auch das Blatt von 1920, das Hermann Klumpp in seinem Buch über die Abstraktion reproduzierte. Vergleicht man es mit dem früheren »Gelmeroda VII« (1918), lässt sich eine signifikante Veränderung feststellen: Während »Gelmeroda VII« mit seinen effektvollen Hell-Dunkel-Kontrasten auf den expressionistischen Holzschnitt rekurriert, sind die Stege in der späteren Darstellung ausgedünnt und licht, als würde sich die Materie des Gotteshauses darin auflösen. Im Gegenzug erscheint der Himmel ›verfestigt‹, insofern er in die rhythmisch-konstruktive Gesamtstruktur des Blattes eingebettet ist.

Ein von Feininger gebautes Modellsegelboot verweist im 2. Obergeschoss auf eine Lieblingsbeschäftigung des Künstlers – und auf das zweite große Thema seiner Malerei und Grafik. Offenbar brauchte Feininger den vertrauten Gegenstand, um sich von einer abbildhaften Wiedergabe zu lösen. In »Barke und Brigg auf See« (1918) geht er sogar bis an die Grenze zur Ungegenständlichkeit. Doch dann pendelt er wieder zurück, sucht Halt in den fest umrissenen Formen der »Kriegsflotte 1« (1919). Die pointierte Gegenüberstellung dieser beiden Drucke verwehrt die Annahme einer linearen Stilentwicklung Feiningers. Seine formalen Experimente verlaufen oftmals sprunghaft, auch zwischen den Gattungen. Letzteres macht das einzige in der Ausstellung gezeigte Ölbild »Ohne Titel (Segelschiff mit blauem Angler)« (1933) augenfällig: Feininger überträgt hier den 14 Jahre zuvor entstandenen Holzschnitt »Ohne Titel (Dreimaster vor Anker)« (1919) ganz unmittelbar in das Medium der Malerei.

Dass Feininger bevorzugt Kirchen und Schiffe darstellte, ist zweifellos auch ihrer transzendenten Bedeutung geschuldet. Es geht um Aufbruch, um die Sehnsucht nach einer Vereinigung des Disparaten. Diese Metaphorik entspricht Feiningers Anliegen, durch die Wahl seiner Mittel eine durchgeistigte Kunst zu schaffen, oder wie Klumpp es einmal formulierte: »ein Sinnbild höherer Wirklichkeit«. Wenn sich Erde und Wasser, Luft und Stein in Feiningers Holzschnitten zu einem kristallinen Amalgam verbinden, dann macht es tatsächlich den Anschein, als habe der Kosmos seine Hände zum Gebet gefaltet.

Dem Reutlinger Spendhaus ist eine didaktisch klug durchdachte und ansprechend gestaltete Schau gelungen. Wer sie mit Muße betritt, wird um einige Erkenntnisse reicher aus ihr herausgehen können. Prädikat: Besonders wertvoll.

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