Buchrezensionen

Manfred Clemenz: Der Mythos Paul Klee. Eine biographische und kulturgeschichtliche Untersuchung, Böhlau 2016

Das Leben eines der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts aus den Quellen erzählt der Soziologe Manfred Clemenz als »dichte Beschreibung«. Stefan Diebitz hat die ambitionierte Untersuchung gelesen.

Der Untertitel des Buches ist sehr präzise, denn es handelt sich nicht um eine Biografie, sondern um eine Untersuchung des Gesamtwerkes von Paul Klee, die sich an der Biografie des Künstlers orientiert. Dabei hat der Autor aus den Quellen geschöpft, also besonders die Tagebücher Klees, aber auch seinen Briefwechsel herangezogen. So wird tatsächlich das Leben Klees erzählt, aber doch nur in seinen groben Linien und immer mit Blick auf die künstlerische Entwicklung des Meisters. Und natürlich kulminiert die Untersuchung in der Darstellung der schweren Erkrankung Klees am Ende seines Lebens.

Der Autor, ein emeritierter Soziologe mit Publikationen auch zur Psychoanalyse, verfügt über eine sehr weit gespannte Bildung, die sich nicht allein auf politische oder gesellschaftliche Zusammenhänge bezieht, sondern zusätzlich die Geistes- und Philosophiegeschichte umfasst. Und als Klee-Kenner ist er dank einiger früherer Veröffentlichungen schon länger ausgewiesen, so dass seine Vorbildung für dieses Buch kaum geeigneter hätte sein können.

Die einzelnen Kapitel gelten dem Weg des Künstlers vom bloßen Zeichner zum Maler, der auch mit der Farbe umzugehen weiß (eben darum musste Klee lange und hartnäckig kämpfen), dem Künstler, der sich in seinen zur Veröffentlichung bestimmten Tagebüchern das Image eines Selbstlehrlings aufzudrücken wusste, eines Menschen also, der vor allem aus Eigenem schöpfte, auch des Lehrers und Kunsttheoretikers am Weimarer bzw. Dessauer Bauhaus, und endlich des spektakulär und vor allem symbolträchtig erkrankten Mannes.

Schon der Titel des Buches deutet auf eine gewisse Unzufriedenheit des Autors mit bisherigen Darstellungen des Lebens des Meisters hin, denn natürlich geht es ihm nicht um die Darstellung, sondern vielmehr um die kritische Hinterfragung des »Mythos Klee«. Dieses Hinterfragen bezieht sich einerseits auf die Selbstdarstellung des Künstlers und Menschen Paul Klee, der seine Tagebücher für die Nachwelt stark bearbeitet hat und insofern selbst der erste und wichtigste Autor dieses Mythos ist, andererseits auf die Aufnahme und Weitergabe gewisser Vorurteile, die den Menschen Klee selbst betreffen und zumindest einen Teil der Literatur bestimmen.

Biografisch wichtige Aspekte betreffen Klees merkwürdiges Verhältnis zu Frauen und die Darstellung seiner selbst als »Selbstlehrling«, der die Einflüsse anderer zeitgenössischer Künstler auf seine Entwicklung kleinzureden oder auch ganz zu verschweigen versuchte. Immer wieder kann Clemenz zeigen, in welcher Weise Klee von seinen Kontakten zu anderen Künstlern profitierte, wie er von ihnen lernte und in welcher Weise er später diese Einflüsse leugnete. Das gilt bereits für sein Verhältnis zu Franz Marc, mit dem er eng befreundet war und der, ganz anders als der zeichnerisch hochbegabte Klee, schon früh mit Farbe umzugehen (oder sogar zu zaubern) verstand.

Durch das gesamte Buch zieht sich die Diskussion der ausgeprägten Misogynie Klees, die sich auch in seinen Frauenporträts niederschlug, denn es gibt wohl nicht ein einziges Bild von seiner Hand, das eine weibliche Schönheit zeigt oder überhaupt nur eine liebenswerte Frau. Vielmehr sind eigentlich alle seine Frauen hässlich, gelegentlich auch gehässig dargestellt oder wirken gefährlich. Derartige Bildnisse sind bereits von dem Kind Klee überliefert, aber besonders auffällig ist das Porträt seiner schwangeren Ehefrau Lily, in dem man manches entdecken mag, aber ganz gewiss keinen liebevollen Blick auf die Lebensgefährtin, die den einzigen Sohn erwartet.

Im Schlussabschnitt fasst Clemenz zusammen: »Was das autobiographische Material […] deutlich zeigt, ist Klees Askese, sein Zurückweichen vor der Sexualität, seine Ängste, als Künstler von dieser verschlungen zu werden.« Geheiratet hat er demnach eigentlich nur, um besser arbeiten zu können! Und er war auch noch feinfühlig genug, dieses sein Hauptmotiv der Auserwählten in aller Deutlichkeit mitzuteilen: die Ehe, schrieb er ihr, sollte ihm helfen, richtig zu arbeiten, sich also »ganz konzentrieren zu können«. Wie man sieht, widmete er sein Leben mit einer Energie ohnegleichen der Kunst.

»Dieseitig«, schrieb Klee deshalb schon früh über sich selbst, sei er »gar nicht zu fassen«: dieses Zitat, um dessen Aufklärung und Deutung Clemenz das ganze Buch hindurch kämpft, deutet an, wie asketisch Klee lebte. Damit eng im Zusammenhang steht seine Selbstbeschreibung als »kristalliner Typ«. Was immer man unter »kristallin« verstehen mag, es ist Clemenz zuzustimmen, wenn er schreibt, dass Klee sein Leben und Arbeiten »nicht als freudig, sondern […] als leidvoll« charakterisiert. Es scheint, dass das Kristallartige mit dem Überwinden des Schreckens zu tun hat, indem man sich in das Leblose hinüberrettet.

Besonders die symbolträchtige Erkrankung Klees – Sklerodermie (Steinhaut) – scheint nach einer psychoanalytischen Deutung zu schreien, und es ist sehr erfreulich, dass der Autor sich hier trotz der eindeutig scheinenden Beweislage eher vorsichtig und abwägend verhält. Denn die Verhärtung der Haut, die Klee in dieser Autoimmunerkrankung leidvoll erfuhr und die zu seinem sehr frühen Tod führte, scheint sein Verhalten gegenüber seiner Umwelt zu symbolisieren, insbesondere seine jahrzehntelange Verschlossenheit. Deshalb kann es eigentlich keine Überinterpretation sein, wenn Clemenz die Versteinerung der Haut als »somatoforme Metaphorik« bezeichnet und darauf hinweist, dass »es eine auffallende Parallelität zwischen Klees Vorstellung einer seelischen Überkrustung und seiner späteren körperlichen Überkrustung gibt.« Und er setzt kursiv hinzu: »Dem körperlichen Panzer (als solcher wird Sklerodermie häufig bezeichnet) korrespondiert ein seelischer Panzer.« Allerdings, es dürfte kaum möglich sein, bei einer solchen Krankheit und einer solchen Vorgeschichte psychische Faktoren auszuschließen.

Ein eigenes Kapitel ist der Rezeption Klees nach dem Krieg und der Deutung seines Werks durch Adorno, Heidegger und anderen Autoren gewidmet. Dabei ist es mehr als auffällig, dass Arnold Gehlen, der auch sonst im ganzen Buch an keiner Stelle genannt wird, fehlt – und dabei wusste Gehlen über Klee wesentlich mehr zu sagen als die genannten Autoren. Klee war für ihn einer der bedeutendsten Künstler der Moderne, und so ist er in seinen »Zeit-Bildern« an unzähligen Stellen auf Klee eingegangen. Warum wird Gehlens Name hier verschwiegen? Das ist auch deshalb unverständlich, weil Gehlen die Intellektualität Klees zwar vielleicht über Gebühr betont, aber es auch für Clemenz wichtig ist, dass Klee »wie wenig andere moderne Künstler seine künstlerische Tätigkeit und Entwicklung reflektiert« hat. Es gibt also – bei allen Unterschieden im Detail – eine Menge Gemeinsamkeiten.

Dieser Einwand kann aber nichts daran ändern, dass Manfred Clemenz ein durch und durch überzeugendes Buch vorgelegt hat, an dem niemand vorbeigehen kann, der in den nächsten Jahren über den Menschen wie den Künstler Paul Klee arbeiten und publizieren möchte.

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