Buchrezensionen, Rezensionen

Mari Laanemets: Zwischen westlicher Moderne und sowjetischer Avantgarde. Inoffizielle Kunst in Estland 1969-1978, Gebr. Mann 2012

Mit dem Aufgreifen westlicher Kunstströmungen entwickelten sich in der sogenannten inoffiziellen, vom Staat nicht geförderten Kunst Estlands seit den späten 1960er Jahren neue künstlerische Praktiken. Anhand zahlreicher Beispiele gewährt dieses Buch einen interessanten Einblick in die osteuropäische Kunstproduktion. Elena Korowin hat sich den gelungenen Band angesehen.

Zwanzig Jahre sind seit dem Verschwinden des Gespenstes vergangen, das in Europa sein Unwesen getrieben hat. Vieles hat sich seitdem verändert und jedes der Länder, die ehemals der Sowjetunion angehörten, ist seinen eigenen Weg Richtung Zukunft gegangen. Schaut man sich dagegen die kulturelle Vergangenheit an, so entdeckt man heute immer noch große Lücken in der historischen Aufarbeitung. Mari Laanemets hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte der inoffiziellen estnischen Kunst nachzuzeichnen.

Ein schwieriges Unternehmen, denn wie die Kunsthistorikerin selbst feststellt, ist viel Material im Laufe der Jahre zerstört worden oder verloren gegangen. Viele Künstler der unabhängigen Bewegung in Tallinn und Umgebung kümmerten sich wenig um Dokumentation und viele Performances oder Kurzprojekte der 1970er Jahre waren spontane Aktionen. Der estnischen Autorin gelang es jedoch, einige Künstler, die in dieser Zeit aktiv waren, zu ihrer Arbeit der 1960er bis 1980er Jahre zu befragen und ihre privaten Archive einzusehen. In dieser Untersuchung wird die typisch estnische Situation deutlich: Die Länder des Baltikums wurden schon immer stark vom Westen beeinflusst und auch in den strengen Zeiten der UdSSR hatten sie eine Ausnahmeposition im Verhältnis zu ihren östlichen Nachbarsstaaten inne.

Es war die Tradition aber auch die Evolution der Kunst, die die besprochenen Künstler beständig in einem Schwebenzustand zwischen zwei starken Einflüssen verortete. Ende der sechziger Jahre reagierten Künstler der Gruppe SOUP´69 auf die amerikanische Pop Art, indem sie ihre eigene Sprache in dieser Kunstrichtung entwickelten – den Union-Pop. Sie bedienten sich am Zeichensystem der sowjetischen Massenkultur und verwoben diese mit den konzeptuellen Ansätzen, die der westlichen Tradition angehörten. Ihre Werke unterschieden sich von der Soz-Art in Moskau, die mit ähnlichen Prämissen den sozialistischen Realismus parodierte. Andere experimentelle und progressive Künstler arbeiteten simultan an einer neuen Formensprache: Die Land Art wurde für Künstler wie Juri Okas zur Inspiration. Den größten Einfluss auf estnische nonkonforme Künstler hatte jedoch nach wie vor die Russische Avantgarde – im Design und in der Architektur hatten die Vertreter dieser Bewegung große Errungenschaften gemacht.

Dieses Buch zeigt die unterschiedlichsten künstlerischen Entwicklungen in einer kurzen Zeitspanne. Sie alle sind gezeichnet von konträren Einflüssen, die estnische Künstler für sich fruchtbar machen konnten. Dabei sind sie ganz neue Wege gegangen und haben ihrerseits spannende Verbindungen geschaffen. Ein gelungener Einblick in eine bewegte Zeit für osteuropäische inoffizielle Künstler.

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