Buchrezensionen

Matthias Puhle (Hg.). Aufbruch in die Gotik. Der Magdeburger Dom und die späte Stauferzeit (Essayband und Katalog). Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2009

Am Karfreitag des Jahres 1207, nur fünf Tage nach seinem glanzvollen Einzug in Magdeburg, musste der neue Bischof Albrecht II. von Käfernburg mit ansehen, wie der alte ottonische Dom in Flammen aufging. Zwei Jahre später legte er selbst den Grundstein für den größten noch im Mittelalter (um 1520) abgeschlossenen Kirchenbau in Deutschland. An die Grundsteinlegung der gewaltigen Kirche erinnert jetzt eine große Landesausstellung, die in zwei schwergewichtigen, reich bebilderten Bänden dokumentiert wird. Unser Rezensent Stefan Diebitz ist beeindruckt.

Aufbruch in die Gotik © Zabern
Aufbruch in die Gotik © Zabern

Wäre der Brand nicht in der ihn umgebenden Stadt ausgebrochen, sondern am oder im alten Dom, so wäre wohl über die Möglichkeit einer Brandstiftung durch Albrecht selbst oder auch seine Gegner diskutiert worden. Denn die Zeiten waren unruhig, und der neue Bischof war nicht allein in die politischen Auseinandersetzungen zwischen den Staufern um Otto IV. und der Welfenpartei verwickelt, sondern ergriff selbst aktiv Partei und wechselte wohl auch gelegentlich die Seiten. Dazu kam, dass sich das Domkapitel zunächst nicht mit seiner Berufung einverstanden zeigte.
Immerhin scheint es so gewesen zu sein, dass die Ruine des alten Doms keineswegs wirklich abbruchreif war – besonders gilt das für die Außenmauern. Dieser Umstand deutet daraufhin, dass der Neubau ganz gezielt einen Neuanfang demonstrieren sollte, zum Beispiel mit der Abweichung von 7 Grad bei der West-Ost-Ausrichtung des neuen Doms. Albrecht II. jedenfalls ist zusammen mit seinem Halbbruder und Nachfolger Wilbrand als den Bau energisch vorantreibender Bischof in die Geschichte eingegangen.
Die Selbstständigkeit und Eigenwilligkeit des Magdeburger Doms zeigt sich besonders am Grundriss des Chors, für den es in der französischen Gotik kein Vorbild gibt. Diesem Chor, seinem Umgang und seiner zu seiner Zeit ungewöhnlichen Wölbung sind zwei der gehaltvollsten Aufsätze des Essaybandes gewidmet (von Wolfgang Schenkluhn und Bernd Nicolai). Bei dieser Gelegenheit seien auch die Fotos aus dem Dominneren angesprochen, welche die außerordentliche Schönheit besonders des Innenraumes in klaren Strukturen zum Ausdruck bringen und die in ihrer sehr zurückhaltenden Farbigkeit manchmal fast wie Schwarzweißfotos wirken. Den größten überhaupt nur denkbaren Kontrast zu diesen Bildern stellen die glühenden Farben alter Kalligraphien, Miniaturen und Kirchenfenster dar, von denen sich ungezählte, oft ganzseitige Abbildungen in den beiden Bänden finden und die für manchen Liebhaber schon allein einen guten Grund für den Erwerb der mächtigen Bücher bilden sollten. Die Blätter, die auf den Seiten 172 – 208 des Kataloges gezeigt werden, sind von einer manchmal fast unwirklichen Schönheit, und die Qualität des Druckes entspricht ihrem ästhetischen Wert.

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Der Magdeburger Dom ist Mauritius geweiht, an dessen römischem Altar bereits Otto I. 962 zum Kaiser gekrönt wurde. Von Albrecht II. sind Besuche nicht allein in Rom, sondern auch in Saint-Maurice überliefert, wo er Reliquien erwarb, zunächst 1209 Eingeweide, und als Glanzstück folgte 1220 ein Stück von der Schädeldecke des Heiligen, zweifellos eine höchst wertvolles Stück.
Die Statue des Mauritius gehört zum Ungewöhnlichsten, was die Kirche zu bieten hat, denn sie zeigt einen Afrikaner. Und nicht etwa nur deshalb, weil die Gesichtszüge dunkel sind, sondern weil es sich um eine realistisch dargestellte afrikanische Physiognomie handelt – die erste ihrer Art in Deutschland. Der von seinen großen Augen bestimmte Gesichtsausdruck des Mauritius – er scheint nachdenklich-geistesabwesend vor sich hin zu schauen – ist durch eine geschickte Fotografie höchst eindrucksvoll ins Bild gesetzt worden. Diese Statue gilt als ebenso bedeutend wie der Magdeburger Reiter, der den Umschlag der beiden Bände schmückt, aber im Gegensatz zum Mauritius gar nicht besprochen wird. Im Katalogband findet sich zu ihm eine Erläuterung, nicht mehr. Weil diese Figur ursprünglich nicht zum Dom gehörte, sondern auf dem Markt aufgestellt war, lässt sich das auch leicht rechtfertigen; fragwürdig ist allein sein prominenter Platz auf dem Umschlag.
Angesichts der in den beiden Bänden immer wieder angesprochenen europäischen Verflechtungen muss ein Vorgang ansprochen werden, für den es in unserer Sprache kein entsprechendes Adjektiv zu geben scheint, denn „international“ kann etwas nur sein, wenn es auch Nationen gibt; aber von diesen in der Zeit der Gotik zu sprechen verbietet sich von selbst. So wird in der Literatur gern von Netzwerken gesprochen – auch das ein moderner Ausdruck, der seiner Neutralität wegen der Sache aber wohl eher gerecht wird. Immer wieder wird in dem Essayband die Eingebundenheit sämtlicher Vorgänge in die überregionalen Strukturen des westlichen Europa ausführlich dargestellt; sei es die politische oder die Kirchengeschichte, sei es der Bau selbst, der von  Trupps aus der Lombardei in den Bauhütten hochgezogen wurde, seien es die Scholaren, deren Wanderschaft durch die europäischen Universitäten seit 1158 von einem Schutzbrief Kaiser Friedrichs I. ermöglicht wurde und deren Verhalten sich eigentlich in dem der Handwerkergesellen auf der Walz fortsetzte. Man lernte, indem man fortging, und man konnte überall auf Unterstützung rechnen.
In einem instruktiven Beitrag beschreibt Martin Kintzinger die Rolle Bolognas und die beträchtlichen (Niveau-) Unterschiede zwischen den verschiedenen Institutionen, aus denen die Universitäten erwuchsen. Und er versucht, dem Geist jener Jahre auf die Spur zu kommen, der Liebe zur Wissenschaft, der Wanderlust der Scholaren und dem Erwachen der wissenschaftlichen Methode. Aber den wohl nicht ganz fernliegenden Wortwitz vom „Bologna-Prozess“ hat er dann doch Bernd Schneidmüller überlassen, der sich noch eines anderen modischen und in diesem Fall fragwürdigen Ausdrucks bedient, wenn er, um die Qualität der Institutionen zu beschreiben, eine „wissenschaftliche Exzellenz“ kennt, diesen Begriff aber nicht ironisch gebraucht.
Schneidmüller legt in seinem Beitrag Wert darauf, dass die Scholastik eine „Kultur des Zweifels“ hervorbrachte, aber er selbst ist es, der an zwei Beispielen, an Bartholomaeus Angelicus und Vincenz von Beauvais, die Organisation des Wissens in gewaltigen Werken darstellt und zeigt, dass es eigentlich bei dem bloßen Zusammentragen, in Schneidmüllers Worten bei einer „parataktischen Sammlung“, blieb. Den Beginn seines Aufsatzes mit seiner Betonung des Zweifels relativiert er also selbst. – Im Grunde stellen die beiden Bände selbst eine solche parataktische Sammlung dar, eine überaus perspektivenreiche Übersicht über den Stand der Forschung.

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Nicht allein die Wissenschaft oder der Glauben, auch die Architektur war ein europäisches Phänomen. In den ersten drei, insgesamt acht Beiträge versammelnden Kapiteln beider Bände (I.: Der Kaiserdom Ottos des Großen; II.: Neuerung und Erinnerung: Der gotische Dom; III.: Die neue Architektur) werden wohl wirklich sämtliche Aspekte angesprochen, welche den Neubau einer gotischen Kirche betreffen. Dazu zählen natürlich nicht allein ästhetische, sondern auch organisatorische und technische Aspekte, und diese machen oft den interessantesten Teil aus.
Manche Beiträge (und das gilt auch für andere Teile des Essaybandes) können dank ihres systematischen Aufbaus als Einführungen in das Themengebiet oder als Zusammenfassungen des Forschungsstandes angesehen werden. Das lässt sich zum Beispiel für die Aufsätze „Zur Organisation von Bauhütten im Mittelalter und zum technischen Wandel im Baubetrieb“ von Barbara Schock-Werner und „Zu den Bauphasen und der Bautechnik des Magdeburger Domes“ von Michael Süßmann behaupten, in denen diese Themengebiete ganz systematisch dargestellt werden.

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Die nächsten beiden Kapitel sind religiösen Aspekten und der Wissenschaft gewidmet (IV.: Gottesdienst und Gegenwart des Heiligen; V.: Entfaltung von Kunst, Wissen und Recht), und abschließend geht es um soziale und politische Aspekte (VI.: Herrschaft und Gesellschaft; VII.: Das Bild von der Welt; VIII.: Städtisches Leben im Aufschwung). Die Gliederung des Katalogbandes ist entsprechend.
Selbstverständlich kommen immer wieder lokalgeschichtliche Aspekte zur Sprache, aber im Allgemeinen behandeln die einzelnen Aufsätze den Bereich des gotischen Europas insgesamt, keineswegs bloß jenen an der Elbe. So werden im VII. Kapitel drei Reisen an den mongolischen Hof auf einer zweiseitigen Karte Eurasiens dargestellt, werden im V. Kapitel die Italienreisen dreier Bischöfe als Bildungserlebnis geschildert (in diesem Zusammenhang eine etwas fragwürdige, weil nicht unbedingt zeitgemäße Vokabel) oder wird unter dem Stichwort „Netzwerk“ die Mobilität der Bettelorden vorgestellt. Von Mobilität als einem europäischen Phänomen muss ja immer wieder gesprochen werden, nicht zuletzt auch bei den Studenten und bei den Bauhütten, die besonders in der Frühzeit der Gotik von Baustelle zu Baustelle reisten bzw. im Winter die Arbeit einstellten und an ihren Ausgangsort zurückkehrten.

Der Vergleich der großen „Summen“ (der zusammenfassenden Werke der Theologie) mit den Kathedralen ist oft gezogen worden und zielt zunächst auf die Hierarchisierung des Wissens einerseits, auf die durchgeplante Zusammenarbeit der Zuträger mit dem Haupt der Schule andererseits ab. Ironischerweise ließe sich Ähnliches auch für diese beiden Bücher sagen. Wenn sie auch nicht durch Kalligraphie und Initialen zu überzeugen versuchen, so nehmen sie uns doch durch die Schönheit ihrer Abbildungen und die Qualität ihrer Beiträge gefangen. Es sind zwei sehr schöne und wichtige Bücher.

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