Ausstellungsbesprechungen

Melancholie und Provokation – Das Egon Schiele-Projekt, Leopold Museum Wien, bis 16. April 2012

Das Ereignis seines 10-jährigen Jubiläums nutzt das Leopold Museum, seine große Sammlung an Schiele-Gemälden neu zu präsentieren. Unter dem Titel »Melancholie und Provokation« werden nicht nur bedeutende Hauptwerke des Expressionisten gezeigt, sondern auch sechs Gegenwartskünstler, die Schiele gegenübergestellt werden. Rowena Fuß hat es sich angesehen.

Der vom Wiener Abendblatt 1911 als »Seelen-Höllen-Breughel mit sterbenskranken todsehnsüchtigen Nerven« betitelte junge Schiele sticht auch heute noch durch seine symbolträchtigen ausdrucksstarken Bilder hervor. Geradezu grotesk wirken die Posen und Bewegungen seiner Aktdarstellungen. So beispielsweise sein ungelenker »Sitzender Männerakt (Selbstdarstellung)« von 1910 oder die rechteckige Figur des Lyrikers im gleichnamigen Bild von 1911. Den Darstellungen seiner engsten Freunde wie den Pantomimen Erwin Dom Osen oder der Tänzerin Moa sind in einem weiteren Raum passenderweise indonesische Schattenspielfiguren zur Seite gestellt.

Die inszenierten Fotografien Rudolf Schwarzkoglers, der als Anfang für den Dialog mit den Gegenwartskünstlern gelten kann oder als Übergang dieser Sektion zu Schieles Räumen, knüpft hier, bei den Posen, an. In Fötalstellung liegt beispielsweise ein bandagierter Körper auf einer Pritsche. Die Aufnahme lässt unwillkürlich Schieles Zeichnung »Liegendes Neugeborenes« (1910) vor dem inneren Auge erscheinen. Genauso verstört wie seinerzeit die Zeitgenossen Schieles vor dessen Bildern standen, betrachtet man drei Aufnahmen an der Wand zum Raum von Elke Krystufek, die wieder auf das weibliche Prinzip und die Geburt anspielen. Im ersten Bild sieht man einen Mann, der sich im Genitalbereich verstümmelt hat. In der zweiten Fotografie sitzt derselbe mit seinem verbundenen Penisstummel breitbeinig auf einem Ei. Aus diesem schlüpft in einer anschließenden Nahaufnahme ein Fisch. Die hagere Gestalt mit dem offenherzig präsentierten Blick in die Unterleibsgegend erinnert an eine ähnliche Pose in Schieles »Selbstakt in Grau mit offenem Mund« (1910).

Dasselbe Thema mit derselben Drastik präsentiert Günter Brus in seinem weiß gestrichenen Raum. Die Fotografien an der rechten Wand zum Raum von Gehmacher zeigen einen nackten weiblichen Unterleib, der bis zum Bauchnabel mit roter Farbe angesprüht wurde. In drei der insgesamt sechs Aufnahmen taucht ein weiß bemalter Mann auf, der seinen Kopf vor das weibliche Genital legt. In einem Fall ist dieser Zugang durch ein Nägelmeer versperrt, im zweiten ist der Kopf durch Schläuche mit dem Unterleib verbunden. Die Geburt ist laut Freud das größte und langanhaltenste Trauma des Menschen. Durch die unbeeinflussbare Trennung von der Mutter herrscht im Geborenen die Sehnsucht, zurück in den Mutterbauch zu gelangen.

Überhaupt scheint der Blick in die menschliche Genitalgegend ein beliebtes Motiv zu sein, er findet sich auch bei der Figur eines langhaarigen Mannes, der die Leinwände von Elke Krystufek bevölkert. Die schrille Farbigkeit seines Oberkörpers führt zu Schieles »Erwin Dominik Osen, als Akt mit überkreuzten Armen« (1910): Die skelettartigen, langgliedrigen Finger des Freundes sind in Rot- und Violetttönen getuscht, während gelbe Wangen, ein grünes Kinn und ein roter Mund das Gesicht mit den hellblauen Augen kennzeichnen.

Blau ist ebenfalls der Raum von Claudia Bosse, der an drei Wänden mit Schaumstoff beklebt ist und das Kriegsgefangenenlager Mühling darstellt. Ein Schreibtisch schlägt die Brücke zu Schiele. Dieser leistete 1916/17 als Schreiber in der Station seinen Militärdienst. Der ganze Raum ist von einer Geräuschkulisse erfüllt, einzelne Worte versteht man allerdings erst, wenn man an einen Lautsprecher tritt.

Kommunikation und Generationenkonflikt sind auch die Themen in den Videoarbeiten, Zeichnungen und Fotografien Philipp Gehmachers. Sein grau gestrichenes Klinikzimmer schlägt den Bogen zur Schiele-Sektion mit den Bildern von Osen. In einer Videoarbeit, deren äußere Form einem aufgeklappten Buch gleicht, gestikulieren abwechselnd zwei Männer. Während Person 1 beispielsweise mit ausgestrecktem Arm verharrt, steht Person 2 still an eine Wand gelehnt. Fortgesetzt wird dieses Theater in zwei Fernsehern am Boden. Darin sitzen zwei Personen Schulter an Schulter auf dem Boden. Der Dunkelhaarige von beiden wendet dem Betrachter immer den Rücken zu. Dem Grauhaarigen hingegen kann man immer ins Gesicht schauen. Eine intime Geste wie Händchenhalten wird dadurch ad absurdum geführt.

Fazit: Schieles wegweisende Körperdarstellungen als verschlüsselter Ausdruck des eigenen seelischen Empfindens haben nichts von ihrer Aktualität verloren, wie die präsentierten Arbeiten beweisen. Es ist eine gelungene, reizvolle Gegenüberstellung, die man sich unbedingt ansehen sollte!

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