Ausstellungsbesprechungen

Michel Majerus, Kunstmuseum Stuttgart, bis 9. April 2012

Wer dieser Tage vor dem Stuttgarter Kunstmuseum steht, reibt sich ersteinmal die Augen. Dort steht eine Halfpipe. Benutzen ausdrücklich erlaubt. Sie ist Teil der raumsprengenden Ausstellung zu Michel Majerus (1967-2002). Günter Baumann hat sich den erfrischenden jugendlichen Blick auf unsere Alltagskultur, Computerspiele, Comics und die Kunstgeschichte angesehen.

Es dürfte ein einmaliges Event sein, dass eine Museumsausstellung in den öffentlichen Raum hinein erweitert wird – wobei nicht dieses Faktum allein besonders ist (immerhin gibt es genügend Ausstellungen, die im Museumsgarten oder auf öffentlichen Plätzen ergänzende Präsentationen erhalten), sondern das vorgestellte Objekt: Im Rahmen der Sonderausstellung zu Michel Majerus (1967–2002) ist am 16. März die Plastik »If You are Dead, so it is« eröffnet worden, die neun Wochen lang (bis 20. Mai 2012) einen Steinwurf entfernt vom Kunstmuseum präsentiert wird. Der Clou dabei ist, dass es sich um eine Skaterbahn handelt. So traten unter den Festrednern zur Eröffnung auch Skater aus der Region auf, naturgemäß eine Klientel, die nicht gerade als museums- und kunstaffin gilt.

Wenn sich das Begleitprogramm u. a. an Kinder und Jugendliche richtet, so darf man hoffen, dass neue Zielgruppen den Weg auch ins Museum finden. Zugegeben, man darf sich nichts vormachen, die Skaterbahn als Kunstwerk würde neue Dix- oder Hölzel-Verehrer generieren, aber im Fall von Majerus dürfte sogar die Vokabelfolge von »cool« bis »krass« passen (Majerus war nicht verlegen, Jugend- und sogar Fäkalsprache in seine Titel einzubinden – so nannte er eine Installation auch mal »Scheiss-Arsch«). Der leidenschaftliche Computer-Spieler (der sich noch mit den Anfängen des PC-Spiele-Zeitalters abmühen musste) und »crash colour«-Enthusiast bediente sich der Street Art und der Graffitikultur genauso wie der zeitgenössischen Kunst oder des (u. a. japanischen) Comic, um seine hintergründige, malerische Konfrontationsbotschaft auf die Leinwand, wenn nicht gar direkt auf die Wand zu knallen. Der Malerrebell teilte sogar das Schicksal großer Vorfahren von Mozart bis Fassbinder – er starb mit Mitte 30, was dem frühvollendeten Werk eine jugendliche Frische sichert, die nicht nur über lange Zeit weiterwirken wird, sondern unter den Jugendlichen neues Interesse für die Kunst wecken könnte.

Das ist schon mal, was die 42 Meter lange Skaterrampe angeht, gelungen. Wo gibt es sonst ein hip-hop-tauglich befahrbares Kunstwerk? Es ist das erste Mal, dass die Halfpipe-Bahn im öffentlichen Raum präsentiert wird – bislang war sie nur im Kölner Kunstverein (2000) und auf der Biennale von Sevilla (2004) zu sehen gewesen. Der letzte Wille des Künstlers wollte es so, dass die Rampe abgerissen werden soll, sobald ein anderer Interessent sie irgendwo auf der Welt neu errichten möchte (ab Ende Mai muss man dann nach Bordeaux reisen). Es wird also auf jeden Fall ein temporäres Objekt sein, wenn auch mit Signalwirkung. Die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg signalisieren mit ihrer Zustimmung zu der Event-Installation auch ihr Interesse daran, den Stuttgarter Schlossplatz stärker als bisher kulturell zu nutzen. Umso besser, wenn sich dabei auch die High und Low Culture symbiotisch begegnen: Anfängerkurse (24., 31.3., 7.4.) und Fortgeschrittenenkurse (21.4., 12.5.) laden zu »Kunst & Skaten« ein, unter professioneller Unterweisung durch Skateboardlehrer.

Wer angesichts der installativen Majerus-Show im öffentlichen Raum noch nicht den Weg ins Kunstmuseum gefunden hat, sollte dies schleunigst nachholen: Dem Maler und Raumkünstler waren zwar nur rund zehn Jahre beschieden, in denen er jedoch ein fulminantes Werk geschaffen hat. Mit einer wohl unbeschreiblichen Gier muss er sich die optischen Eindrücke einverleibt haben: Wie gesagt faszinierte ihn die PC-Welt, Comic und Werbung, er sog die Arbeiten von Basquiat, de Kooning, Stella, Warhol, allgemein von Pop und Minimal Art in sich auf, um alles in rasantem Tempo und in ureigenen Kompositionen und inhaltlichen Gefügen – bildlich gesprochen – in die Welt hinauszuschleudern. »Sein Gehirn fungierte als eine Art Auffangbecken für alle Reize und Eindrücke von außen«, so Ulrike Groos, die Chefin des Kunstmuseums. Die Kunstwelt hatte das Nachsehen, denn bei aller Begeisterung konnten die riesigen Formate und raumbezogenen Grenzüberschreitungen kaum irgendwo gezeigt werden.

Diesen Kraftakt hat das Stuttgarter Kunstmuseum vollbracht und über hundert Arbeiten ausgestellt. Um das zu erreichen, haben die Ausstellungsmacher das Haus von unten nach oben umgekrempelt: Die ständige Sammlung wurde in die oberen Etagen des Museumswürfels verlegt, um die grandiosen Raumsituationen des Tiefgeschosses und der ebenerdigen Ausstellungsetage für die ausladende Kunst von Michel Majerus zeigen zu können. Stuttgart holte sich damit nicht nur einen der anregendsten Künstler der jüngeren Gegenwartskunst ins Museum, sondern zeigte sich auch als Hort der regionalen Kunst. Es gerät leicht in Vergessenheit, dass der international gefragte, in Luxemburg geborene Maler, der zwischen Berlin und Los Angeles agierte, von 1986 bis 1992 an der Stuttgarter Kunstakademie bei K. R. H. Sonderborg und Joseph Kosuth studiert hatte. Bei ihnen fügten sich in dem jungen Malergenie anarchische Energie und konzeptionelles Denken zusammen.

Neben gattungsüberschreitenden Gemälden präsentiert das Kunstmuseum auf 2500 Quadratmetern Fläche auch das grandiose Siebdruckwerk sowie Videoarbeiten. Um sich ein Bild von den Dimensionen zu machen, reicht ein Hinweis auf die Schrift-Bild-Arbeit »One by which you go in one by which you go out«, die auf einer Wandstrecke von rund hundert Metern abzuschreiten ist. Bei anderen Arbeiten muss man physisch eine Schwelle überschreiten, um Räume zu betreten – durch diesen Akt wird der Besucher automatisch Teil der Arbeit, die sich kaum auf die Wand allein beschränkt. Frühe Arbeiten wie die gewitzten Hundemasken, die 1992 auf der Kasseler Documenta zu sehen waren, demonstrieren die Reife des 2002 bei einem Flugzeugabsturz verunglückten Künstlers – in Kassel überragte er in den Augen der Kritiker seinen Lehrer Kosuth!

Der frühe Tod hat zumindest den Ruhm des Künstlers nicht geschmälert. Nicht zuletzt seine konkreten Angaben zur Einrichtung seiner riesigen Arbeiten machen es möglich, sein Erbe für die Zukunft zu sichern. Und wenn das Kunstmuseum sich selbst wieder auf die Beine stellt, sprich: die Sammlung wieder aus dem Kubus in die unteren Etagen wandert, wird man sich unter Garantie an die spektakuläre Schau erinnern, denn die Direktorin hat bereits versprochen, dass mit dem Umzug auch ein neues Konzept bei der Präsentation der Besitzstände greift. Leider müssen dann die Skater ihr Plätzchen wahrscheinlich wieder in den Randzonen der Stadt suchen müssen. Der kunstsinnige Bürger wird statt dessen vielleicht auf den wundervollen Katalog zurückgreifen, um den Shooting Star der 1980/90er Jahre nacherleben zu können.

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