Ausstellungsbesprechungen

Not Vital – Werke 1989 bis 2011, Schauwerk Sindelfingen, bis 13. Januar 2013

Der Schweizer Not Vital lebt und arbeitet weltweit. Die Einflüsse der verschiedenen Kulturen und Eindrücke verarbeitet er in seinen Werken, wo der Künstler aus scheinbar einfachen Objekten Tiere und fremde Landstriche auferstehen lässt. Günter Baumann hat sich die Ausstellung in Sindelfingen angesehen.

Not Vital ist ein intellektueller Nomade aus dem Unterengadin, den schon eine legendäre Aura umweht, wenn man seinen Namen liest. Andere Künstler wären bereits glücklich, wenn sie so ein Pseudonym finden würden – das Numinose ist hier schon Wirklichkeit. Darauf angesprochen, erfährt man, dass Not ein üblicher rätoromanischer Vorname ist und dass die Vitals seit 1392 in Sent, dem 900-Seelen-Ort im Unterengadin, nachgewiesen sind. Oft wird man den berühmtesten Sohn des Dorfes dort nicht antreffen, weil er wechselweise auch im nigerianischen Agadez, in Beijing – in der Nachbarschaft von Ai Weiwei (dessen Sonnenblumenkerne in Keramik nicht weit weg sind von Vitals Idee der Lotosblumen) –, Lucca und New York lebt und arbeitet. Und er lebt wirklich da, wo er sich jeweils aufhält, nicht bloß als Tourist und nicht als Kulturzampano, sondern hochgradig sinnlich präsent: Hier baut er eine Schule, da einen Aussichtsturm mit Blick auf den Sonnenuntergang oder dort ein versenkbares Haus. »Mein wahres Atelier«, so meint der Weltbürger Vital, »befindet sich in meinem Kopf, es ist also immer dort, wo ich mich gerade aufhalte«. In Patagonien hat er eine Insel gekauft, die er mit einem Höhlensystem durchziehen lässt. Der 1948 geborene Not Vital ist ein rastloser Junge geblieben, der noch immer an seinen Träumen arbeitet, um seine »eigene kleine Welt« zu bauen. Spätestens seit seiner Teilnahme an der Biennale 2001 ist sie nicht mehr zu übersehen, denn der Brancusi-Verehrer gehört zu den ganz großen Bildhauern und Objektkünstlern der Gegenwart.

Seinem Sent blieb er treu: »Wo man aufwächst, ist wichtig, da entsteht ja praktisch alles.« So hat sich ihm das Weiß des Schnees eingeprägt, das immer wieder chiffrenhaft durchschlägt. Im Sindelfinger Schauwerk steht etwa ein Marmorschlitten, der zu schmelzen scheint, ein flaches »Weißes Pferd« aus Gips und Holz hebt sich nur schemenhaft von der Wand ab, der »Große kleine Brunnen« erinnert an verschneite Wassertränken der Alpenregion. Seinen Frieden hat er mit der Welt gemacht, ohne deren Nöte zu verdrängen. Er habe das Gefühl, dass er glücklich sei, zwei Verse Friedrich Nietzsches im Sinn, die dessen Gedicht »Mein Glück« einleiten: »Seit ich des Suchens müde ward, Erlernte ich das Finden.« (Bei Picasso heißt das: Ich suche nicht, ich finde.) Was er so alles findet, bleibt oft im Verborgenen: Die 13 Silberkugeln mit dem Titel »Camel« weisen in der Legende »getrocknetes Kamel« aus, was man wohl wörtlich nehmen darf – und prompt fühlt man sich in die Wüste Afrikas versetzt –; durchaus geheimnisvoll bleibt die surreale Reminiszenz des »Missing Deer Ear Reeplaced by a Fish Plate Looking at Rain«, bei dem ein auf gipsernen Schneebällen stehendes, ausgestopftes Reh mit einem befremdlichen Porzellantellerohr eine weiß (!) bemalte Holzwand mit eingelassenen Tellern anstarrt, die auch noch als monumentale Regentropfen durchgehen.

Not Vital mag ein Träumer sein, ein Phantast ist er nicht. Sowohl seine Rinderzungenplastiken in verschiedenen Materialien und Größen – in Sindelfingen in der annähernden 8-Meter-Version aus Edelstahl und als 2 Meter große Marmorskulptur vertreten – als auch die bedrohliche 7-auf-8-Meter-Messerwand mit »1111 Knives« (in der Version aus dem Jahr 2008) weisen das Werk als drastischen, wenn auch symbolhaften Beitrag zum Weltgeschehen im globalen Dorf aus. Und das mit ganz sinnlichen Bezügen, hielt Vital die Zunge doch für das (Sinnes-)Organ, »das ich am liebsten für meine Skulptur verwende«. Hierin ist der Künstler ein würdiger, vielleicht der einzig berechtigte Nachfolger von Constantin Brancusi, dessen nahezu bäuerliche Erscheinung in Verbindung mit der totalen Reduktion im künstlerischen Ausdruck weltweit akzeptierte Chiffren geschaffen hat, die zeitlos gültig sind. Empfindsam bis in die Poren seiner Existenz und symbolgetränkt thematisiert auch Vital – nomen est omen – das Leben, wohl wissend, dass der Tod ein Teil – wenn man so will: ein Spiegelbild – davon ist (Spiegelungen tauchen immer wieder auf). Das Werk steckt voller Sehnsucht nach Frieden, die keineswegs platt eingefordert wird: Glücksgefühl und Resignation gehen hier Ton in Ton ineinander über.

Bereits im vergangenen Oktober ging im Erdgeschoss der Sammlung Schaufler im Schauwerk die Nachfolgeausstellung »My Private Universe« an den Start, die das Sammeln zum Prinzip erhebt: Obsessionen für das Schöne, die Mode, den Schein der Dinge. Unter den rund 40 beteiligten Künstlern tauchen Namen auf von Antony Gormley, Anish Kapoor, Marie-Jo Lafontaine, Robert Longo, Nam June Paik, Katharina Sieverding und anderen mehr. Noch bis April sind im gewundenen Aufgang des Museums zeitgenössische Fotografien aus der Sammlung unter dem Titel »lichtempfindlich« zu sehen – etwa von Doug Aitken, Thomas Demand, Andreas Gursky, Candida Höfer, Thomas Struth, Wolfgang Tillmans, kurzum der gegenwärtigen Lichtbildnerelite.

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