Buchrezensionen

Paolo Baldacci, Christiane Lange, Gerd Roos (Hrsg.): Giorgio de Chirico. Magie der Moderne, Sandstein Verlag 2016

Vor zwei Jahren präsentierte die Staatsgalerie Stuttgart eine großartige de Chirico-Ausstellung, die eindrucksvoll seine Bedeutung für die Moderne dokumentierte. Für das Portal las Stefan Diebitz den hochwertigen Katalog.

Ist Giorgio de Chirico (1888–1978) vergessen? Werden in Deutschland seine Werke und wird sein Einfluss auf die Kunst der Moderne so gewürdigt, wie sie es verdienen? Denn de Chiricos Bedeutung kann gar nicht überschätzt werden, und besonders wichtig ist seine seine Zeit in der italienischen Provinzstadt Ferrara, in welcher der Künstler, untauglich für den Fronteinsatz, seine Kriegsjahre gut beschützt in der Schreibstube verbrachte. Eben diese Jahre stehen im Mittelpunkt des Kataloges. Anders als von ihm erhofft, gelang de Chirico nach diesen drei Jahren zwar noch nicht der Durchbruch beim Publikum, aber in Ferrara schuf er das, was bis heute den Grund seines Ruhms ausmacht, das Konzept der metaphysischen Malerei, das von allergrößtem Einfluss auf die Kunst der folgenden Jahrzehnte sein sollte.

Der Katalog wird eröffnet von einem biografischen Essay des italienischen Kunsthistorikers Paolo Baldacci – sehr dicht argumentierend und auch sprachlich überzeugend. Zunächst allerdings scheint sein Gebrauch des Begriffes »metaphysisch«
etwas fragwürdig, wenn er die Aufenthalte des Künstlers als die »drei Metaphysiken von Giorgio de Chirico« bezeichnet. Zuerst also München (bis 1909), sodann Mailand und Florenz (bis 1911), schließlich Paris (bis 1915), von wo aus de Chirico, der zuvor in den Friedensjahren vor dem Militärdienst desertierte, das Angebot einer Amnestie nutzte und zurück nach Italien ging, um die Kriegsjahre in dem sicheren Ferrara zu verbringen.

Tatsächlich schließt sich Baldacci dem Sprachgebrauch des Künstlers an, der offenbar unter »metaphysisch« die Stimmung eines Ortes verstand, »die geisterhafte Evokation der Gegenstände«, wie er es selbst in seinen Aufzeichnungen (»Das Geheimnis der Arkade«) nannte. Besonders zogen ihn schon früh die von Arkaden gesäumten italienischen Plätze an, ihre »schreckliche Leere« oder »der Schatten eines in der Sonne gehenden Menschen«: also eben das, was auch sein Hauptwerk und damit seinen Ruhm ausmacht, den »Großen Metaphysiker«.

In den drei Jahren seines Aufenthaltes in der Po-Ebene fand er endgültig zu seiner also nur uneigentlich metaphysisch zu nennenden Malerei, deren Bestandteile sich schon zuvor in seinen Bildern angedeutet hatten: etwa die für ihn so typische menschenleere Piazza mit den scharfen Schlagschatten, für die er von der Piazza Vittorio in Turin inspiriert worden zu sein scheint, dazu ein Personal, das der griechischen Antike entsprungen ist; auch die Nietzsche-Lektüre – de Chirico hat Nietzsche verehrt – hinterließ ihre Spuren in diesen Bildern, die Baldacci beschreibt: »In dem dunklen Dickicht der Gebäude geht bisweilen ein Phantasma um, den Kopf gesenkt, eine Schulter stark hängend, die klinische Charakteristik Nietzsches, de Chirico wohlbekannt.«

Auffallend und für das gesamte Werk des in Griechenland geborenen de Chirico ist die Bedeutung der Antike. »Pictor classicus sum.« merkte er selbst lakonisch an. In seinen Aufzeichnungen finden sich lateinische Gedichte, und immer wieder tauchen in seinen Bildern Gips- oder Marmorköpfe und -statuen und Anspielungen auf antike Mythen auf.

Den Titel des Bildes »Der große Metaphysiker«, das in Ferrara entstehen sollte, kann man sehr leicht ironisch verstehen: Eine große, grob zusammengezimmerte Puppe mit einem gesichtslosen, eiförmigen Schädel schaut über eine menschenleere Piazza hinweg in eine allein ihr zugängliche Ferne. Wir wissen nicht, ob sie überhaupt etwas sieht und falls, was es ist; wir wissen auch nicht, ob sie wirklich denkt und ob das irgendeinen Sinn ergibt. Vielmehr ist zunächst der Eindruck der verlassenen Piazza mit ihren scharfen Schatten und den trotz der gleißenden Sonne dunklen, etwas giftigen Farben wichtig, der die hoffnungslose Einsamkeit der Figur und die lastende, fast unheimliche Atmosphäre betont. »Der große Metaphysiker« scheint eher die Angst als die Metaphysik zu symbolisieren, und ich möchte mich Arnold Gehlen anschließen, der hellsichtig die Bilder de Chiricos »Angstvisionen« nannte. In einem seiner Gedichte heißt es schlicht »man hat Angst«.

Baldacci schreibt, dass das »metaphysische Bild […] die innere Architektur des Gegenstands [darstellt], sein Skelett oder seinen Geist oder den psychischen Gehalt des Zeichens, das sein beschwörendes Potenzial im Kontakt mit anderen Zeichen freisetzt.« Und wenn er dann fortsetzt: »Die Zertrümmerung jedes rationalen Schemas, das Zerbrechen aller bürgerlichen Gewissheiten und die Zerstörung der vermeintlich gesicherten Werte sind Teil der in Ferrara entwickelten metaphysischen Kunst«, dann hat das eigentlich nicht sehr viel mit dem zu tun, was man gemeinhin unter Metaphysik versteht – genausogut ließe sich das doch von DADA in Zürich schreiben, zum Beispiel. Und wer spricht da von Metaphysik?

Vielleicht kann man de Chiricos Werke kafkaesk nennen? Denn sie stellen in einer ganz ähnlichen Weise wie die gleichzeitig entstandenen Romane Franz Kafkas einen Kult der Rätselhaftigkeit dar. Auf keine Frage darf man eine Antwort erwarten. Alle Deutungen versagen, welche auch immer man versucht. So kann es eigentlich kein Zufall sein, dass in vielen Bildtiteln und auch in seinen Essays und Aufzeichnungen immer wieder das Wort »Rätsel« auftaucht.

Der Katalog zeigt nicht allein die Bilder de Chiricos, sondern zusätzlich eine Reihe von Werken derjenigen Künstler, die von seiner metaphysischen Periode entscheidend beeinflusst wurden. Und da finden sich wirklich illustre Namen. Als ersten muss man Carlo Carrà nennen, der zusammen mit de Chirico in Ferrara lebte und sich in dieser Zeit vom Futurismus ab- und der »Pittura Metafisica« zuwandte. Wie de Chirico malte er »Manichini«, Puppen aus Holz und ohne Gesicht. Andere große Namen sind Salvador Dalí, Max Ernst und Kurt Schwitters, der von de Chirico zu seinem MERZbau angeregt worden zu sein scheint.

Überraschend für viele wird es zunächst sein, dass auch George Grosz genannt wird, aber wenn man sein Aquarell »Der Diabolospieler« von 1920 – eine gesichtslose Puppe – sieht, dann glaubt man gern an diesen Einfluss. Nicht allein, dass die Figur an die Puppen de Chiricos erinnert, also ein »Manichino« ist, sondern auch die Darstellung des Raumes schließt an de Chirico an. Denn die Gliederpuppe befindet sich in einem Zimmer, dessen Linien zwar mit dem Lineal gezeichnet scheinen, aber eben nicht in der korrekten, auf einen einzigen Brennpunkt zuführenden Art, sondern in einer falschen, im Grunde unlogischen und auf jeden Fall verwirrenden Perspektive, wie sie für viele der Bilder de Chiricos (und überhaupt dieser Zeit) typisch ist. Selbst der expressionistische Film spielte mit einer verkehrten Perspektive.

Den Katalog beschließen sechs instruktive Essays. Charles Stuckey bespricht die »Monumente der Avantgarden«, behandelt also den Einfluss von de Chiricos Skulpturen auf die Kunstgeschichte – vor allem die gemalten, denn einige wenige selbst geschaffen hat er erst nach 1940. De Chirico selbst wurde einerseits vom Altertum angeregt – Stuckey erwähnt sein »obsessives Interesse an antiken Bildwerken« – und empfing zusätzlich in Paris wertvolle Anregungen von Umberto Boccioni und Pablo Picasso; er selbst wurde mit seinen gemalten Gliederpuppen wichtig für Max Ernst, Kurt Schwitters und anderen.

Ina Conzen behandelt in »Wahrheit und Schein« das gemalte Atelier des Künstlers. In seinen Atelierbildern behandelt de Chirico immer wieder die Bild-im-Bild-Thematik und fügt auch noch einen bildinternen Betrachter ein: »So folgen drei Ebenen der Fiktionalisierung aufeinander.« Auch dieser Beitrag kann die Bedeutung de Chiricos für andere Künstler plausibel machen, zeigt aber umgekehrt, wie bedeutend alte und älteste Kunst – etwa ein Bild Raffaels – für de Chirico war.

Maria Grazia Messina behandelt mit »Paris und Zürich 1915 – 1918« de Chiricos Kampf um Anerkennung. Wichtig für ihn wurden seine in Paris geknüpften Kontakte zu Apollinaire und vor allem zu dem Kunsthändler Paul Guillaume. In »Rezensionen und Reaktionen« hat Gerd Roos dasselbe Thema dargestellt, nun aber in Bezug auf Rom, wohin de Chirico nach seiner Zeit in Ferrara voller Optimismus zog, um dort heftige Ablehnung zu erfahren. Viele der Rezensionen scheinen wüste und dazu sprachverliebte Polemiken gewesen zu sein, gegen die sich de Chirico nur wehren konnte, indem er selbst zu schreiben anfing und seine Arbeiten selbst auslegte.

»Unter dem Einfluss von Chirico« – so der Titel des Aufsatzes von Jürgen Pech – sah sich auch Max Ernst als der vielleicht bedeutendste unter jenen, für die de Chirico wichtig war. Von den Chiricos Bildern beeindruckt, wandte sich Ernst von seinem expressionistischen Frühwerk ab, denn die Gemälde des Italieners »waren für ihn eine Offenbarung«. Natürlich, auch für ihn stand »Der große Metaphysiker« über allem. Schließlich verfolgt Ulrich Gerster, wie die Bilder de Chiricos wichtig wurden für die Neue Sachlichkeit, für Künstler wie Heinrich Maria Davringhausen, Georg Schrimpf oder George Grosz.

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