Ausstellungsbesprechungen

Peter Sehringer – color tracks, Galerie Schlichtenmaier / Schloss Dätzingen Grafenau, bis 3. September 2015

Die Galerie Schlichtenmaier stellt einen der wegweisenden Künstler aus ihrem Programm erneut vor: Peter Sehringer. Mit seinen raffinierten Techniken und kühnen Farbmischungen, die das Genre der Pinselmalerei sprengen, begeht Sehringer neue Wege, die ihn gerade dadurch zu einem zeitlos wirkenden Künstler machen: Sein souveräner Wechsel zwischen abstrakten und figurativen Elementen zeigt ihn als Meister der Postmoderne. Günter Baumann hat sich die Ausstellung näher angeschaut.

Die Zeiten, als man noch in Weltbildern dachte, sind dahin, was die Künstler der Moderne schon 1918 und wieder 1945 veranlasste zu glauben, es hinge nichts mehr miteinander zusammen in einer politisch, gesellschaftlich wie physisch zertrümmerten Welt. Heute weiß man, dass dies so uneingeschränkt kaum gültig ist, mehr noch: dass vielmehr alles miteinander zusammenhängt Die Quantenphysik machte es vor, doch längst haben sich auch Psychologen, Genetiker, Neurowissenschaftler und Soziologen diese Erkenntnisse zu eigen gemacht – viele zeitgenössische Künstler nehmen daran bewusst oder unbewusst Anteil, manche entwickeln daraus ein System divergierender Gleichzeitigkeit. Dazu zählt Peter Sehringer, der souverän die Grenzen der figurativen wie der abstrakten, der sinnlich-expressiven wie der mathematisch-konkreten Malerei überschreitet. Den Zusammenhalt findet er in der Magie der Farbe – die euphemistische Betonung scheint gerechtfertigt, mischt er doch nicht nur die Pigmente nach eigens hergestellten Rezepten, sondern erzeugt auch aus der Farbe heraus bestechend glaubwürdige Fiktionen. Zudem mag der Künstler als Person unscheinbar wirken, in seinem Werk ist er ein vielfach inspirierter Proteus der Malerei – die Bezeichnung ist angelehnt an die übliche Titulierung des Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling als Proteus der Philosophie bezüglich seiner ständigen Neukonzeptionen der Naturphilosophie. Der Vergleich ist schon deshalb nicht abwegig, weil Peter Sehringer in der Natur im weitesten Sinne ein zentrales Thema findet. Ihr nähert er sich sowohl makroskopisch als auch mikroskopisch an, was nur die Bandbreite veranschaulicht, die mit unzähligen, auch dissonanten Zwischentönen gefüllt ist. Genau betrachtet, vereint Sehringer Widersprüche, ist schon in einer anderen, völlig unerwarteten Motivgruppe unterwegs, wenn wir ihn noch in einer alten vermuten, doch zugleich fügt sich das bisherige Werk auch wieder in einer erstaunlichen Konsequenz und Stimmigkeit zu einem Bild von der Welt zusammen. Eine derartig eigensinnige Charakterisierung trifft sonst nur auf Gerhard Richter zu, den man als Chamäleon der Kunst bezeichnet hat – man denke nur an die sprunghaften Wechsel innerhalb der Figuration und Abstraktion: Wie Sehringer entzieht auch er sich einer Zuordnung. Doch lassen sich deren Arbeiten nicht so einfach vergleichen. Da, wo Richter aus seinem persönlichen Erfahrungs- und Erinnerungspool schöpft, verortet Sehringer seine Sujets im Bereich des privaten Mythos. Da, wo Richter die Banalität des Numinosen (etwa in der Darstellung einer Kerze) propagiert, sucht Sehringer die Numinosität des Banalen (etwa beim Malen von Seetang). Bei aller Verwandtschaft im freien Umgang mit den malerischen Modi sind die Techniken, die Arbeitsprozesse wie die künstlerischen Auffassungen so grundverschieden, dass man für Sehringers Werk eine absolute Singularität konstatieren kann.

Der Blick auf die pure Fülle im Schaffen von Peter Sehringer lässt den Betrachter zunächst ratlos verharren: Zwar fallen die stets wiederkehrenden Motive auf, beispielsweise die weibliche Figur, der Wolf, Rehe, Karten- und Blumensujets, militärische oder Wildwest-Szenen, freie Musikthemen, reine Farbabstraktionen. Vergebens wird man die Themenbereiche in eine Ordnung bringen wollen: der Wolf und das Reh lassen sich im Genre, aber keineswegs auf einer stilistischen Ebene adäquat behandeln. Genauso wenig wie die Tiergattung kann man die Landschaft als einheitliches Genre in Sehringers Œuvre festmachen – zu wenig haben die kartografischen Motive mit den Blumenstillleben zu tun. Und die eruptiven Farbkaskaden sind geradezu diametral unterschiedlich zu den abstrakten Rasterbildern. »Das Was bedenke«, schrieb Johann Wolfgang Goethe, »mehr bedenke das Wie«: Es hieße den Künstler gründlich missverstehen, wenn man unterstellte, er würde sich nicht um Inhalte kümmern, doch macht die Machart den größeren Zauber aus. Erst wenn wir die Gegenstände als gemachte – und nur bedingt auch gemalte – Trugbilder annehmen, sind wir in der Lage, uns so frei davon zu machen, dass wir sie letzten Endes wieder als das genießen können, was sie darstellen. Dann wird es auch möglich sein, den einheitlichen Geist zu erkennen, der das Werk umgibt.

Nähern wir uns ihm von der realistischsten Seite her: der Darstellung des Wolfs. Peter Sehringer hat eine ganze Serie von Wolfsbildern geschaffen, schräg von vorne oder schräg von hinten gesehen – immer von größter Authentizität und stets vor einem unbestimmten, oftmals gänzlich neutralen Hintergrund gesehen, assoziativ in einer Schneelandschaft. Die Tatsache, dass man hier in der Regel auf sekundäres Wissen angewiesen ist, da wir kaum je einem Wolf gegenüber gestanden haben wie auf diesen Arbeiten, macht ihn zu einem idealen ›Gegenstand‹ für Sehringer, der uns – ohne dass wir es merken – in eine Schule des Sehens schickt. Denn was wir sehen, ist nicht ein Wolf, sondern unsere Vorstellung von einem Wolf, die sich speist aus eindrücklichen, aber fragwürdigen Quellen und tiefenpsychologischen Ahnungen, welche zumindest auch unsere Wahrnehmungsfähigkeit in Frage stellen. Ausgerechnet das Rudeltier, durch das sich der Wolf auszeichnet, hat das Image des (bemitleidenswerten) Einzelgängers verpasst bekommen, während kaum ein Tier reflexhaft mit so viel Aggression und Gefährlichkeit konnotiert wird wie der ungezähmte, vermeintlich reißwütige und unberechenbare Verwandte des Hundes, jenes treuesten Gefährten des Menschen. Die Kunst und Dichtung hat dazu ihren Teil beigetragen – hier darf man gleich unterstellen, dass Sehringer aktiv, meist über die Titel, literarische, kunsthistorische und musikalische Bezüge verarbeitet. Der Wolf spricht allerdings schon für sich. Sieht man vom Gründungstier der Stadt Rom ab – im Schöpfungsmythos kommt die Wölfin noch gut weg –, hat sich der Wolf früh als allzu hungriges Raubtier in die Fabel eingeschlichen, und auch das Märchen kennt das gefräßige Untier, ganz zu schweigen von den Legenden um den meuchlerischen Werwolf. Vor allem aber haben das Kultbuch von Hermann Hesse, »Der Steppenwolf«, und die Aktion »I like America and America likes Me« von Joseph Beuys, der sich 1974 mit einem Kojoten (d. i. einem kleineren Artgenossen des Wolfs) eingeschlossen hatte, das Bild des sozial eher isolierten, getriebenen Wesens geprägt. Eingebunden in mythische, psychoanalytische und schamanische Kontexte, ist es kaum möglich, das unvoreingenommene Bild eines Wolfes zu zeigen. So müssen wir uns fragen, was wir sehen, wenn wir der vielfach wiederkehrenden Darstellung des Tiers bei Sehringer begegnen, die betont auf alle subjektiven Anspielungen verzichtet (Schneewolf), aber dennoch einen anthropomorphen Kern zu haben scheint (ganz im Sinne von Hesses »Steppenwolf«). Geht es letztlich um eine Phantasmagorie seelischer Befindlichkeit oder um die Faszination der Farbgestaltung? Um den Reiz der Grau- bzw. Brauntöne, die sich bis ins Weiß hinein durchdifferenzieren, welche uns im Gesamtbild nur vorgaukeln, einen Wolf zu sehen? Bei genauer Betrachtung ist die Wirkung weniger detailgetreu als man meint: Die Wirkung ähnelt mehr der eines raffiniert inkrustierten Steinbildes.

Die genialische Kraft, die Peter Sehringer einsetzt, überwältigt die sinnliche Wahrnehmung, indem sie hier mit ihren Reizen kokettiert, dort sich zurücknimmt. Der Maler scheut sich nicht, die Schönheit der Natur – der menschlichen, insbesondere weiblichen, der kreatürlichen, etwa die des Wolfs, oder der schlicht botanischen – auf den Bildträger zu bannen, bevorzugt Holz und zuweilen Acrylglas. Schon die Malgründe sind jedoch nicht die gängigen, vielmehr verweisen sie traditionell auf die Zeit vor der Blütezeit der Leinwandmalerei (was selbst gewissermaßen auf die Hinter-Acrylglas-Malerei zutrifft), und die Techniken rekurrieren auf die Zeit vor der Pinselmalerei – strenggenommen handelt es sich aber nicht einmal um Malerei, denn Sehringer malt seine Bilder nicht im klassischen Sinn. Er gestaltet seine Bilder in langwierigen Prozessen. Das muss man wissen, wenn man sich den reproduktionsartigen Stil vor Augen führt. Es wäre völlig abwegig, von einer altmeisterlichen Technik zu reden, wie man vermuten könnte – zu sehr liebäugelt Sehringer mit der Pop Art, auch mit Pop-Ikonen (so manche Referenz an Warhol will man gelegentlich ausmachen) sowie der Wildwestromantik. Doch auch da schafft er Irritationen. Dass er motivgleiche Kompositionen schafft, liegt an seiner speziell entwickelten Schablonentechnik, die formale Gleichheiten und scharfe Kanten zulässt, während alle Arbeiten Unikate bleiben.

Weniger realistisch als das Wolfmotiv sind die Bildserien der Frauenfiguren und der männlichen Figurengruppen sowie der Jagd- und Blumenstillleben – und doch bannt uns auch deren fiktiver Wirklichkeitsgehalt, obwohl deren Abstraktionsstufe bis hin zur Gegenstandslosigkeit reicht. Die weiblichen Modelle treten mal lasziv verführerisch, mal routiniert-elegant auf, neigen aber zu einer ephemeren Erscheinung. »Blue touch« heißt eines der Frauenporträts, das sich ausgerechnet ihrer individuellen Bestimmbarkeit dadurch entzieht, dass ihr Antlitz außerhalb des Rahmens gedacht werden muss. Der Rest – so unverfroren darf man formulieren – ist ein Spiel der monochromen Farben und geometrischen Formen. Blau in all seinen Schattierungen und helle Beigetöne machen die Komposition zu einem feinnuancierten Capriccio. Demgegenüber sind die männlichen Pendants fast plakative Schemenfiguren zwischen Abenteurerschar und Soldateska. Sie sind nur über die Silhouetten definiert, machen aber umso deutlicher, was die Motive – egal, welche – so ungemein attraktiv macht. Mit seinen Schablonen schafft er Umrisse und legt so die Themen fest. In einem weiteren Schritt legt er ornamentale Bildräume an, fügt Farben hinzu, vermischt mit Marmormehl, schleift sie stellenweise wieder ab, kratzt lineare Strukturen in die Oberfläche. Dadurch verschleiert er jegliche Handschrift, erzeugt eine künstliche Scheinwelt und vor allem: er schildert nichts. Das heißt, alle narrativen Elemente sind eliminiert, aber auch die gemalten – betrachten wir die Werke aus der Nähe, fällt nicht nur die mit Füllstoffen versetzte Farbmasse auf, sondern auch die reliefierte Oberfläche. Das Schicht um Schicht entstehende Bild erweist sich als Geben und Nehmen von Farben, ein Prozess, an dessen Ende das Motiv sich selbst offenbart – oder auch nicht. In Reihen wie Allerleirauh, Rehe oder Rotwild geht es Sehringer um die formale Verknüpfung von Schrecken und Schönheit. Grausamkeiten aus dem Märchen oder die rituelle Gewalt bei der Jagd sind hochgradig stilisiert, dass man ihre Darstellungen als atemberaubende, in Rot und Ocker sich ergehende Abstraktionen ansehen kann. Aber sind die Blumenmotive in ihrer frühlingshaften Anmutung wirklich realistischer? Denn auch sie lösen sich in der Nahsicht auf in Intarsien aus gestischen Farbdraperien und poetischen Schwelgereien, die in ihrer floralen Schönheit schon die Gewissheit ihrer Vergänglichkeit enthalten. Und auch die monumental hochvergrößerten Auszüge aus Landkarten, die gewissermaßen maßstabsgetreue Übertragungen realer Bildverhältnisse sind, geraten demgegenüber in ihrer Verweigerung allzu großer Buntheit zu melancholischen Suchbildern einer aus den Fugen geratenen Welt.

Dieses exorbitante Gespür für Farben bricht sich endlich Bahn in den gegenstandsfreien Serien wie »blue spray«, welche die Schemenfiguren in gestischer Abstraktion weiterdenken, den »big step tracks«, die konkrete Raumsituationen als Hommage an die abstrakten Avantgardisten des De Stijl bzw. des Konstruktivismus erschaffen, oder nicht zuletzt den Rasterbildern, die möglicherweise nur die ins Unendliche hochgepixelte Detaildarstellung realer Welten sind. Peter Sehringer sucht sie nicht, er findet sie.

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