Buchrezensionen

Stefan Fischer: Hieronymus Bosch. Das vollständige Werk, Taschen Verlag 2013

Es gibt nicht viele Künstler, die noch fünfhundert Jahre nach ihrem Tod eine große Popularität besitzen. Hieronymus Bosch ist einer von ihnen, und es ist wohl seiner erstaunlichen Bekanntheit zu verdanken, dass sich eine derart großzügige Edition wie die des Taschen Verlages rechnet. Stefan Diebitz hat das ebenso schwergewichtige wie aufregend schöne Buch über Hieronymus Bosch gelesen und ist begeistert.

Schon in meiner Jugend kannte ich Hieronymus Bosch – ein schwarzweißer Ausschnitt aus dem rechten Flügel des »Garten der Lüste« genannten großen Triptychons zierte eine Deep Purple-LP, und die wüste Fantastik des Albumcovers sprach mich derart an, dass ich mir ein Poster dieses berühmtesten aller Gemälde des Meisters kaufte, das dann über viele Jahre mein Zimmer schmückte. So kenne ich das Bild fast auswendig, aber wenn ich es nicht ohnehin schon lange gewusst hätte, dann hätte ich nach der Lektüre des Buches von Stefan Fischer realisieren müssen, dass ich von einem wirklichen Verständnis weit, sehr weit entfernt gewesen bin. Im Grunde war meine Leidenschaft ebenso wie die vieler anderer Fans ein einziger drastischer Irrtum.

Zunächst vermutete meine Generation angesichts der bizarren Kreaturen Drogenkonsum des Malers, aber unser Kunstlehrer begab sich in die Bibliothek, studierte die einschlägigen Werke und verneinte diese Möglichkeit mit Strenge. Später lernte ich die Hieronymus Bosch-Theorie des bedeutenden Autors Wilhelm Fraenger kennen, der 1951 die Verbindung von Hieronymus van Aken, so der bürgerliche Name des Künstlers, zu einer unbekannten Sekte wahrscheinlich machte. Fraengers Problem bestand nur darin, dass er diese Sekte nicht aufzufinden wusste, und heute ist sich die Forschung ganz sicher, dass es diese Sekte niemals gab und das sehr einfluss- und erfolgreiche Buch mit dem Untertitel »Das tausendjährige Reich« eine (allerdings grandiose und allemal lesenswerte) Fehldeutung darstellt.

Es gibt viele Werke über Bosch, die sich kritisch mit Fraenger auseinandersetzen, aber Stefan Fischer erwähnt ihn nur am Rand. Der Autor hat bereits eine Reihe von Arbeiten über Bosch und besonders über sein Hauptwerk veröffentlicht, und dieses Buch fasst sein Faktenwissen wie seine Beobachtungen und Überlegungen zusammen, ohne sich mit Polemik gegen andere Interpretationen abzugeben. Zu viel Positives ist über diesen ganz einzigartigen Maler selbst zu sagen, und Fischer schöpft alle Aspekte aus: Er spricht über Boschs handwerkliche Fähigkeiten ebenso wie über die künstlerische Tradition, seine soziale Stellung in seiner Heimatstadt ’s-Hertogenbosch und endlich seine Auftraggeber. Dazu spielt die Aufnahme des Malers in die »Liebfrauenbruderschaft« eine wichtige Rolle in diesem Buch. Diese religiöse Patrizierorganisation sollte für seinen sozialen Aufstieg wie für seine künstlerische Ausrichtung enorm wichtig werden.

Wenn man allein auf die grotesken Momente seines Werkes fokussiert ist und diesen ausschließlich auf einer ästhetischen Ebene begegnet, wird man ein ganz wesentliches Moment der Kunst von Hieronymus Bosch überhaupt nicht bemerken: Dieser Maler war zunächst und vor allem ein tiefreligiöser, in einer strengen Sittlichkeit verankerter Mensch, und viele seiner Bilder sind deshalb zunächst und vor allem drastische Moralpredigten. »Boschs Teufel«, schreibt Fischer, »haben den Charakter von Mischwesen, deren körperliche Bestandteile oder Attribute […] auf bestimmte Laster selbstredend hinweisen. Sie definieren sich nicht nur als höllischer Widerpart der Engel, sondern auch als Gegensatz zu den Tugenden. Die Teufel bestrafen also nicht nur die armen Seelen, sondern repräsentieren auch ihre Sünden und machen sie dem Betrachter sichtbar.« Es ist die fehlende Harmonie des aus disparaten Teilen zusammengesetzten Leibes, die das Böse symbolisiert, das so offen und unverborgen vor aller Augen liegt. Bosch pflegte damit also keinesfalls eine freischwebende Fantastik, sondern seine Dämonen haben einen rationalen Ursprung in den Vorstellungen seiner Heimat wie seiner Epoche.

Der Künstler griff auf Traditionen des Grotesken zurück, die sich weniger in den Werken der hohen Kunst als vielmehr in der Gebrauchskunst (etwa in den Schnitzereien an Kirchenstühlen) oder auch sehr häufig in der Literatur und in Sprichwörtern fanden. Als erster Künstler von Rang überhaupt führte Bosch solche niederen Motive in die hohe Tafelmalerei ein. Es ist eine der Stärken dieses Bandes, dass seine großzügige Bebilderung es erlaubt, diese Teufel, Dämonen oder wild zusammengesetzten Fantasiekreaturen im Detail anzuschauen und so ihre buchstäblich alptraumartige Erscheinung zu würdigen. Viele der Abbildungen sind so nahsichtig, dass der Betrachter sogar die Textur der Gemälde erkennen kann.

An dem ersten der überlieferten Gemälde Boschs, einer trotz der Jugend des Künstlers bereits eigenwilligen und selbstständigen Darstellung des heiligen Hieronymus, demonstriert Stefan Fischer eine wesentliche Methode einer jeden Bosch-Interpretation, eigentlich sogar deren Basis, indem er im Allgemeinen auf die Literatur überhaupt, im Besondern aber auf die »Bestiarien« der Zeit zurückgreift (zum Beispiel auf den »Physiologus«), um die Bedeutung der zahlreichen Tiere herauszuarbeiten. Schon auf diesem frühen Bild findet sich eine Eule, die als Symbol des Bösen eine Art Markenzeichen seiner Kunst werden sollte; neben ihr sitzt eine Kohlmeise als Symbol der Seele und mögliches Opfer des nächtlichen Raubvogels. Man muss diese Bedeutungen kennen, um die Bilder richtig zu verstehen. Das gilt auch für andere Motive, etwa für die Kleidung, verschiedene Früchte, bestimmte bizarre Handlungen oder endlich für Musikinstrumente, deren manche allein dem Leib und damit der Sünde zugeordnet sind.

Aber ebenso wichtig für das Verständnis ist es, für wen und aus welchem Anlass der Künstler gemalt hat. Den »Garten der Lüste« hat wahrscheinlich der niederländische Zweig des Hauses Nassau-Breda anlässlich der Hochzeit Philipps des Schönen in Auftrag gegeben – also anlässlich eines auch politisch hochbedeutenden Ereignisses. Von diesen Kreisen aber war Bosch zu Beginn seiner Karriere noch weit entfernt, stattdessen profitierte er von Aufträgen der Liebfrauenbruderschaft. Diese religiöse Vereinigung bestand gewiss nicht aus Häretikern, sondern war eine Verbindung wohlhabender Bürger, zu der noch zusätzlich wenige Adlige stießen. Also alles staatstragend und rechtgläubig. Fraengers Vermutung, Bosch habe für eine Sekte gemalt, scheitert ja bereits an der Leidenschaft der Könige von Spanien für seine Gemälde. Schließlich war es niemand anderes als Karl V., dem die Spanier den »Heuwagen« im Prado zu verdanken haben. Ein häretisches Werk hätte seine katholische Majestät wohl kaum akzeptiert.

Eine ausführliche Interpretation (und eine höchst großzügige Darstellung ausgewählter Details) ist Boschs erstem großem Erfolg gewidmet, seiner »Anbetung der Könige«, die bereits einige der charakteristischen Momente seiner Kunst zeigt, also einerseits die realistische, aber trotzdem symbolisch aufgeladene Darstellung der Landschaft, andererseits die Vielfigurigkeit, die viele seiner großen Bilder auszeichnet. Dabei sind die Physiognomien zwar sprechend, aber, wie Fischer betont, noch nicht so grob überzeichnet, wie es sich später bei anderen Künstlern durchsetzen sollte. In ähnlich großzügiger Weise wie die »Anbetung der Könige« werden auch andere Werke Boschs vorgestellt, so dass der Leser tatsächlich einen Überblick über sein gesamtes Schaffen bekommt. Das Buch ist nicht nur riesig, sondern auch inhaltlich eine echte Gesamtdarstellung, die keinen Aspekt der Kunst Boschs auslässt.

Ein großes Kapitel ist dem Autor natürlich die »Versuchung des heiligen Antonius« wert, das wegen des Übermaßes an Drolerien, in dem die Haupthandlung fast verschwindet, typisch für Bosch ist und eine besonders detaillierte Interpretation erfordert. Gelesen werden möchte ein solches Triptychon wie ein Schriftstück von links nach rechts. In der fantastischen Landschaft des linken Flügels finden sich unzählige Hinweise auf das Reisen, denn hier sieht sich ein Antonius zu Beginn seines Weges dargestellt, der noch nicht den rechten Weg gefunden hat. Die Mitteltafel dann zeigt den Heiligen im Kampf mit den ihn bedrängenden Dämonen – da präsentiert sich natürlich der Bosch, der über Jahrhunderte populär geblieben ist. Auf dem rechten Flügel, auf dem Antonius in großer Seelenruhe sein Brevier studiert, erscheint er als Sieger über alle Anfechtungen.

Trotz dieses großen Triptychons und anderer ausführlich behandelter Werke steht – wie könnte es auch anders sein? – Boschs Hauptwerk im Mittelpunkt, das Triptychon, das alles andere buchstäblich in den Schatten stellt: der »Garten der Lüste«, der Anfang des 16. Jahrhunderts entstanden sein muss – um 1503 und damit vor mehr als fünfhundert Jahren. Und trotzdem populär wie nur ganz wenige andere Werke der Kunstgeschichte! Fischer behandelt es unter der Überschrift »Hochzeitskunst«. In seiner Deutung sollte dieses Werk »als eine Art Hochzeits- oder Ehespiegel« fungieren, also »als Anleitung für das Gelingen dieses Liebesbündnisses und als Übersicht über seine Vorteile und Gefahren«. Es ist eine biblisch inspirierte Darstellung von aufeinander folgenden Szenen der Welterschaffung auf dem linken bis hin zur Hölle auf dem rechten Flügel. Fischer schließt sich vorhergehenden Interpretationen an, betont aber zusätzlich – das ist etwas, das kaum ein naiv hinschauender Zeitgenosse sehen wird – den belehrenden, den didaktischen Charakter dieses Werkes.

Wie auch die anderen Triptychen Boschs will der »Garten der Lüste« von links nach rechts gelesen sein, und Fischer interpretiert das Bild in allen seinen Aspekten eben in dieser Richtung; er dekliniert es geradezu Schritt für Schritt durch. Er kann dafür die rezeptionsgeschichtlich besonders interessanten ersten schriftlichen Hinweise heranziehen, die noch aus dem 16. Jahrhundert stammen, und ebenso werfen die Parallelen zu anderen Kunstwerken, zum Beispiel von Jan Gossaert, ein Licht auf die moralischen Aspekte des Triptychons. Besonders hier ist der Leser dankbar für die zum Teil erheblichen Vergrößerungen – Details wie der Paradiesbrunnen oder die in schlanken Formen emporstrebenden, teils von Blumen, teils vielleicht von spätgotischer Architektur inspirierten rosaroten Riesenorganismen kann man erst in diesem Format ihrer Bedeutung entsprechend würdigen.

»So lässt sich der Bosch’sche Erfindungsgeist, der die Bildfläche bis ins Mikroskopische füllt«, resümiert Fischer seine Überlegungen, »im konkreten Werkprozess des Malers und seiner Werkstatt bei der Ausgestaltung von Bilddetails konkret nachvollziehen. Während die Hauptmotive und die Grundstruktur der einzelnen Tafel im Werkprozess bereits früh festgelegt sind, wurden viele Detailmotive erst nach Festlegung der Paradiestafel kontradiktorisch, invertierend oder parodistisch aus einem ihrer Bildmotive entwickelt.«

Der »Garten der Lüste« ist als ein durch und durch christliches Bild Ausdruck einer überstrengen Moral, die uns Heutigen unendlich fern ist. Ein naives Verständnis kann diesem Werk unmöglich gerecht werden, und nach der Lektüre dieses Folianten werden viele Leser sich selbst eingestehen müssen, dass sie ein Bild geliebt haben, das allen ihren Überzeugungen widerspricht. Denn selbst wenn man ein braver und gottesfürchtiger Mensch ist: In den Augen eines Hieronymus Bosch sind wir doch allzumal Sünder. Schon ein von Fischer zitierter Spanier des 16. Jahrhunderts nannte die Bilder des Meisters »moralidades«. Wird man also den Künstler und sein Werk nach der Lektüre einer so überzeugenden Interpretation wie der Stefan Fischers immer noch lieben können? Wird man seinem Werk gerecht, wenn man es – nun im Wissen um seine fremdartige Moral – auf Ästhetik und Fantastik reduziert? Bei Caspar David Friedrich erging es mir so, dass ich seine Werke, nachdem ich ihren dogmatisch-christlichen Charakter erkannt hatte, einige Jahre lang nicht mehr anschauen mochte.

Schon bald nach dem »Garten der Lüste« erhielt Bosch einen weiteren Auftrag aus den höchsten Kreisen des Adels, jetzt sogar von Philipp dem Schönen selbst. Selbstverständlich ist »Das Jüngste Gericht«, das nur ein Jahr später entstand, ebenso christlich wie das Vorgängerwerk, aber hier fehlen die freundlichen Aspekte, denn es herrscht bereits in der Paradiesdarstellung auf dem linken Flügel der Schrecken, wie ein zweiter Blick zeigt – oben ist nämlich der Sturz der Engel zu sehen. Mittel- und rechte Seitentafel aber zeigen den reinen Terror, teils in blutroten Farben (links dominiert noch ein sattes freundliches Grün), und der Blick auf die Details offenbart die fürchterlichsten Dinge, die nach den Vorstellungen eines Hiernoymus Bosch jedem Sünder drohten und an die man gar nicht unbedingt erinnert werden will.

Aus dem Spätwerk sollte noch ein Bild hervorgehoben werden, ein Gemälde, das lange als Darstellung der Heimkehr des Verlorenen Sohnes missverstanden wurde, aber unter dieser Voraussetzung den Interpreten vor größte Probleme stellt. Heute wird es »Der Hausierer« genannt und zeigt einen gebeugten und müden Mann am Ende seines Lebensweges. Dämonen fehlen hier, sondern mit ganz einfachen Mitteln wird die einfache und sehr dringliche Frage nach dem rechten Leben gestellt. Man braucht kein Christ zu sein oder gar Mitglied einer Bruderschaft, um von dem Bild eines müden Menschen berührt zu werden.

In einer Besprechung können nicht alle Werke Boschs berücksichtigt werden. Das Buch enthält nicht allein den bemerkenswerten, sehr sachlichen und den letzten Stand der Forschung repräsentierenden Text, sondern auch eine unglaubliche Fülle von hochwertigen Abbildungen; sehr viele sind ganzseitig, und »Der Garten der Lüste« ist sogar ausklappbar. Die ersten 239 Seiten sind auf Hochglanz gedruckt, der Druck des sich anschließenden Werkkataloges ist weniger aufwendig. Register, Literaturverzeichnis und Quellen aus dem 16. Jahrhundert vervollständigen das Angebot. Ein ganz wunderbares Buch, das einem sehr, sehr großen Künstler gewidmet ist.

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