Das Thema Aktfigur erlangte mit dem Besuch des iranischen Präsidenten Hassan Rouhani in Rom am 26. Januar eine ungeahnte Aktualität – als berühmte Antiken extra für seinen Besuch in Holzkisten verbannt wurden. Dieser Akt wirft Fragen auf: Wie verläuft in der westlichen Kultur, die stark von der christlichen Tabuisierung von Erotik geprägt ist, jener transformierende Prozeß der Wiederkehr der antiken Aktstatue? Die Tagung widmet sich diesem Thema.
Die von Prof. Dr. Luca Giuliani und Dr. Nicole Hegener (beide Teilprojekt B10 des SFB 644 „Transformationen der Antike“) an der Humboldt-Universität zu Berlin organisierte internationale Tagung „Nackte Gestalten: Die Wiederkehr des antiken Akts in der Renaissanceplastik / Naked Revival: The Return of the Ancient Nude in Renaissance Sculpture“ (7.-9. April 2016) richtet sich an Archäologen und Kunsthistoriker, Kultur- und Literaturwissenschaftler, Theologen und Medienwissenschaftler sowie die interessierte Öffentlichkeit. Es sprechen 24 namhafte Fachvertreter aus ganz Europa. Das Thema „Aktfigur“ erlangte mit dem Besuch des iranischen Präsidenten Hassan Rouhani in Rom am 26. Januar d.J. eine ungeahnte Aktualität: Aus Rücksicht auf den islamischen Gast hauste man einige der berühmtesten antiken Aktstatuen der Kapitolinischen Museen in Holzkisten ein.
Wie nahm man in der Renaissance antike Aktfiguren wahr? Wie kam es dazu, daß die Piazza della Signoria in Florenz im 16. Jahrhundert ein Freilichtmuseum nackter Riesen wurde? Spätestens seit der Aufstellung von Michelangelos David (1504), der kolossalen Aktstatue seit der Antike, nahm man keinen Anstoß mehr an nackten Statuen selbst riesenhaften Formats. Überwiegen im Mittelalter christliche Aktdarstellungen (Märtyrer, Verdammte in der Hölle, Adam und Eva, Gekreuzigter Christus), also in der Regel leidende, sich genierende Nackte, so feiern die Bildhauer der Renaissance die Schönheit des menschlichen Körpers wie in der Antike als Ideal und geradezu Göttliches. Zwar finden sich unter den mittelalterlichen Aktfiguren zahlreiche mit explizitem Antikenbezug (Motivzitate von Sarkophagreliefs, Dornauszieherdarstellungen), doch erst in der Renaissance gewinnt die Aktfigur in allen Kunstgattungen, vor allem aber in der Plastik, eine dominierende Rolle; in keiner anderen Epoche seit der Antike finden sich vergleichbar zahlreich und vielfältig Nackte antiker Ikonographie: Apoll und David, Herkules und Merkur, Faune und Wettkämpfer, Venus und Diana, Badende und Nymphen.
Die Darstellung völliger Nacktheit an sich ist in der Neuzeit schon ein Antikenzitat. Zugespitzt ließe sich sagen, daß die Renaissance mit der Wiederkehr der antiken Aktfigur beginnt oder sich wesentlich durch die Gestaltung des nackten Leibes konstituiert. Am Höhepunkt dieser Entwicklung markiert das Konzil von Trient (1545–1563) eine Zäsur. Denn dann beginnt eine Zensur der Nacktheit, man sich in einer neuen Prüderie der vielen Nackten in Malerei und Plastik zu schämen und das Konzept „sakraler Nacktheit“ zu verachten: Daniele da Volterra ließ man den Nackten von Michelangelos Jüngsten Gericht jene Höschen aufsetzen (1565), die ihm den Beinamen „Braghettone“ einbrachten, und nicht nur Michelangelos Auferstandenen Christus in S. Maria sopra Minerva in Rom und Baccio Bandinellis Figurenpaar Adam und Eva im Chor des Florentiner Doms verhüllte man über der Scham.
Im Mittelpunkt der Tagung stehen Aktfiguren aller plastischen Gattungen von Donatello und Verrocchio, Michelangelo und Cellini bis hin zu Giambologna. Aufgrund ihrer Antikennähe werden Renaissanceakte allgemein häufig mit dem Einheitsetikett „antikisierend“ abgestempelt ohne Vorbilder zu benennen oder die Merkmale der Aktdarstellung näher zu charakterisieren. Unvoreingenommen soll hinterfragt werden, was es ausmacht, daß aus dem „Akt eine Form der Bekleidung“ (John Berger, 1972) wird. Wie gestaltet sich der Wandel vom göttlichen, heroischen oder idealen Akt der griechischen und römischen Antike (Bernard Andreae, Nikolaus Himmelmann) zur „antikisierenden“ Aktfigur der Renaissance? Wie verläuft in der westlichen Kultur, die stark von der christlichen Tabuisierung von Erotik geprägt ist, jener transformierende Prozeß der Wiederkehr der antiken Aktstatue?
Donnerstag, 7. April 2016
09.00 Uhr
Johannes Helmrath (Humboldt-Universität zu Berlin): Grußwort
Luca Giuliani (Wissenschaftskolleg Berlin/Humboldt-Universität zu Berlin), Nicole Hegener (Humboldt-Universität zu Berlin): Begrüßung
09.15 Uhr
Nicole Hegener (Humboldt-Universität zu Berlin): Nackte Gestalten: An Introduction to allʼantica Nude Sculpture in the Renaissance
1. Antike und christliche Antikentransformation – Antiquity and Christian Transformation of Antiquity
Moderation: Sascha Kansteiner
10.00 Uhr
Nikolaus Dietrich (Universität Heidelberg)
Die Aphrodite von Knidos und das Problem der Nacktheit in der griechischen Kunst
11.10 Uhr
Harald Schulze (Archäologische Staatssammlung, München)
Die Nacktheit des Fauns. Der Barberinische Faun und seine Rezeption
12.00 Uhr
Jörg Jochen Berns (Universität Marburg)
Die Nacktheit der Heiligen, der Wilden und der Götter
2. Mittelalter und theologische Aspekte – The Middle Ages and Theological Aspects
Moderation: Johannes Helmrath
14.30 Uhr
Stefan Trinks (Humboldt-Universität zu Berlin)
Akte X – Gliedscheidung statt Händescheidung am Jakobsweg im 11. Jahrhundert
15.20 Uhr
Philine Helas (Bibliotheca Hertziana, Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom)
Nackte Armut. Zur Adaption antiker Modelle für Bettlerfiguren in der italienischen Kunst im 15. und frühen 16. Jahrhundert
3. Der Renaissanceakt in Italien I – The Renaissance Nude in Italy I
Moderation: Grégoire Extermann
16.30 Uhr
Simone Westermann (Bibliotheca Hertziana, Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom/Universität Zürich)
Nude or Naked? Bathing Bodies around 1400
17.20 Uhr
Jan-David Mentzel (Technische Universität Dresden)
Die imaginierte Antike. Der ideale weibliche Körper in der Kunst des 15. Jahrhunderts
18.10 Uhr
Cristina Acidini (Florenz)
Il canone fiorentino della bellezza maschile, da Donatello a Michelangelo
Freitag, 8. April 2016
4. Der Renaissanceakt in Italien II – The Renaissance Nude in Italy II
Moderation: Luca Giuliani
9.00 Uhr
Claudia Kryza-Gersch (Wien)
Der weibliche Akt in der italienischen Kleinbronze der Renaissance
9.50 Uhr
Mandy Richter (Kunsthistorisches Institut in Florenz, Max-Planck-Institut)
Freizügige Vorbilder – raffinierte Abbilder? Anticos Kleinbronzen im Vergleich mit der Antike
11.00 Uhr
Susanne Müller-Bechtel (Bonn/Dresden)
Andrea del Verrocchios Schlafender Jüngling (Berlin) im Spiegel der Antikenrezeption im vormodernen akademischen Aktstudium
11.50 Uhr
Giuseppe CapriottiI (Universität Macerata)
Antiques and “libri”. Ephebic Male Nudes in Benvenuto Cellini’s Mythological Sculpture
5. Michelangelo und der Renaissanceakt in Rom – Michelangelo and the Renaissance Nude in Rome
Moderation: Nicole Hegener
14.00 Uhr
Luca Giuliani (Wissenschaftskolleg Berlin/Humboldt-Universität zu Berlin)
Michelangelos David: Was tut er?
14.50 Uhr
Alexander Perrig (Frankfurt a. M.)
Bemerkungen zu Zeuxis’ Helene und den Nacktfiguren Clovios
15.40
Grégoire Extermann (Universität Genf)
Guglielmo Della Porta’s Justice for the Tomb of Paul III
6. Apoll und Venus – Apollo and Venus
Moderation: Bettina Uppenkamp
16.50 Uhr
Matthias Winner (Berlin)
Der Maler Rubens im künstlerischen Wettstreit mit der Statue des Apoll vom Belvedere
17.40 Uhr
Anne Bloemacher (Universität Münster)
Der ambige Apoll: Umdeutungsstrategien antiker Aktfiguren bei Raffael und Raimondi
Öffentlicher Abendvortrag – Public Evening Lecture
18.45 Uhr
Winfried Wehle (Universität Eichstätt/Universität Bonn)
Arkadien oder die Kunst, glücklich zu sein. Venus-Renaissance bei Sannazaro und Giorgione/Tizian
Samstag, 9. April 2016
7. Renaissanceakt nördlich der Alpen – The Renaissance Nude North of the Alps
Moderation: Claudia Kryza-Gersch
9.00 Uhr
Jens Burk (Bayerisches Nationalmuseum, München)
Die Antikenrezeption in der Kleinplastik der nordeuropäischen Renaissance am Beispiel Conrad Meits
9.50 Uhr
Bettina Uppenkamp (Hochschule für Bildende Künste, Dresden)
Conrad Meits Kleinplastiken für Margarete von Österreich
11.00 Uhr
Franciszek Skibinski (Universität Toruń)
Corporality Unveiled. On the Various Modes of Nudity in Sixteenth Century Netherlandish all’antica Sculpture
11.50 Uhr
Elisabeth Weymann (Universität Frankfurt a.M.)
Von Menschen und Maßen: Die Schönheit von Meister IPs kleinplastischen Akten
12.40 Uhr Abschlussdiskussion – Final Discussion
Kontakt und Anmeldung (bis zum 1. April):
Dr. Nicole Hegener, Humboldt-Universität zu Berlin, SFB 644, Teilprojekt B 10,
E-mail: nicole.hegener@culture.hu-berlin.de
Weitere Informationen: www.sfb-antike.de