Ausstellungsbesprechungen

Thomas Gainsborough. Die moderne Landschaft, Hamburger Kunsthalle, bis 27. Mai 2018

Nicht als den berühmtesten englischen Porträtisten seiner Zeit, sondern als großen Landschafter stellt die Hamburger Kunsthalle Thomas Gainsborough in der ersten Einzelaustellung seines Werkes in Deutschland überhaupt vor. Stefan Diebitz ist nach Hamburg gereist.

Schon seit langem fühlt sich die Hamburger Kunsthalle für die große Umbruchszeit um 1800 zuständig und zählt ja selbst auch bedeutende Werke aus dieser Zeit zu ihrem Bestand. Insofern passt der 1727 geborene Thomas Gainsborough hervorragend zu dem Profil des Hauses. Denn ein flüchtiger Blick sieht in ihm zwar nichts anderes als einen Maler des 18. Jahrhunderts, aber schaut man genauer hin, dann findet man viele Momente, die auf die Moderne vorausdeuten.

Die jetzige Ausstellung kann zwar auf zahlreiche Werke aus anderen deutschen Museen zurückgreifen – der englische Meister ist hierzulande in vielen Sammlungen vertreten –, aber sie ist tatsächlich die erste Präsentation, die ausschließlich Gainsborough selbst gewidmet ist. Sie gilt allerdings nicht dem Porträtisten, der zu seiner Zeit Erfolge feierte und mit dieser Kunst sein Brot verdiente, sondern seinen Landschaften, denen sein Herzblut galt. Für ihn war eine Landschaft ein emotionales Erlebnis und wurde auch entsprechend dargestellt, was ihn nicht davon abhalten konnte, auch ökonomische oder soziale Aspekte zu berücksichtigen. Als den »Generalbass« seiner Kunst bezeichnet Bettina Gockel deshalb eine Landschaft mit Figuren. Eben solche kann man jetzt in Hamburg bewundern.

Die Ausstellung gliedert sich in drei Teile. Zunächst wird in »Der Zugriff auf die Realität« gezeigt, wie sehr Gainsborough von den niederländischen Landschaftern profitierte, deren Kunst er anfangs einfach übernahm, dann aber zunehmend veränderte und bereicherte. Mark Bills schildert im Katalog unter dem Untertitel »Gainsborough wird Landschaftsmaler« die ersten Jahre des Malers, die zu einem gewissen Teil autodidaktisch waren – und zwar insofern, als er in Eigeninitiative niederländische Bilder kopierte. Nebeneinander gehängt, kann man an den Gemälden sehr leicht sehen, was alles Gainsborough übernahm – und was nicht, beziehungsweise was er hinzufügte. Ihm ging es wie den Niederländern weniger um spektakuläre Ansichten als vielmehr um Landschaft als Ausdruck einer Stimmung. Der tiefe Horizont, vor dem sich die filigranen Silhouetten einzelner Bäume abheben, subtile Beleuchtungseffekte, das Spiel der Wolken, warmes Abendlicht: das alles griff Gainsborough auf, um es weiterzuentwickeln und verändert in seine eigene Bildsprache aufzunehmen.

Wie eigenständig er dachte und malte, zeigt dann der zweite Teil der Ausstellung. In der »sozialen Landschaft« sieht sich der gesellschaftliche Wandel in den Bildern Gainsboroughs gespiegelt. Jene Jahrzehnte waren in England von einer Landflucht geprägt, die unter anderem von der Aufhebung der Allmende verursacht wurde. Das Land, das ursprünglich und dann für sehr, sehr lange Zeit der ganzen Gemeinde und damit allen gehörte, wurde mehr und mehr einzelnen, meist wohlhabenden Landbesitzern zugeschlagen, und die Kleinbauern wussten fortan nicht mehr, wo sie ihr Vieh weiden sollten.

Dieser Prozess, der sich auch in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts niederschlug – unter anderem in Oliver Goldsmiths großem Poem »Deserted Village« (1770) –, lässt sich auch in Gainsboroughs Bildern auffinden. In ihnen sieht man keine Dörfer, denn diese waren verlassen oder verwahrlost, aber dafür sind Zäune im offenen Land zu sehen – »enclosures«, die es offenbar zuvor nicht gab –, und immer wieder werden Bauern mit Sack und Pack dargestellt, die ihr Land verlassen und in die Stadt ziehen. Oder im Halbdunkel sammelt ein armer Bauer verbotenerweise Feuerholz unter den Bäumen. So sind diese Gemälde meist gar nicht die Darstellung einer idyllischen Welt, die sie im ersten Augenblick zu sein scheinen, sondern realistisch und durchaus nüchtern, ohne allerdings in irgendeiner Weise Stellung zu beziehen. Im Katalog hat sich ein instruktiver Aufsatz von Josephine Karg diesen Fragen gewidmet.

Selbst an dem vielleicht berühmtesten Bild Thomas Gainsboroughs lässt sich die sozialgeschichtliche Situation leicht aufzeigen. »Mr. und Mrs. Andrews«, das Porträt eines noch jungen Ehepaares, spiegelt ja schon in seinem Format die beiden Seiten seines malerischen Werkes, denn die linke Seite gehört der betont lässigen Präsentation der beiden jungen Leute – steif und formell ist hier gar nichts, er trägt nach der Jagd eine Flinte im Arm, sie sitzt im Reifrock –, die rechte zeigt ihr Land, das von Zäunen durchzogen ist und offenbar reichlich Früchte trägt, wie die sich aneinander lehnenden Garben in der rechten Bildecke andeuten. Die Andrews‘, so schreibt Karg in ihrem Beitrag, werden »beispielhaft als Protagonisten einer profitablen Landwirtschaft« vorgestellt. Aber das, was auf üblichen Porträts den Hintergrund dominierte und vor dem man sich stolz präsentierte, findet sich überhaupt nicht dargestellt: das Herrenhaus der Familie. Es stand im Rücken des Malers, dem das bestellte Ackerland wichtiger zu sein scheint.

Auch die betont entspannte Präsentation des Ehepaares sollte man würdigen. Christoph Martin Vogtherr stellt in seinem einleitenden Beitrag einen zunächst paradoxen, vielleicht auch zynischen Zusammenhang her zwischen der Verelendung breiter Bevölkerungsschichten und der Natürlichkeit, in der sich das Ehepaar präsentiert: »Eine neue Welle des Natürlichen kam in der Kunst also genau in dem Moment auf, als sich die ökonomische Verwertung der Natur dramatisch steigerte.«

Fast unmöglich ist es, hier nicht an eine kleine Schrift Georg Christoph Lichtenbergs zu denken, an »Der Fortgang der Tugend und des Lasters« von 1778, in der er Kupferstiche Daniel Chodowieckis erläuterte. Chodowiecki stellte wahre und unwahre, affektierte und natürliche Empfindungen nebeneinander, zum Beispiel das Anhimmeln des Mondes und das stille Betrachten der Gestirne oder Heiratsanträge verschiedener Figuren, die sich durch ihre Haltung selbst charakterisieren oder auch demaskieren. Das Ehepaar Andrews und seine Darstellung durch Gainsborough 28 Jahre zuvor hätten Lichtenberg und der Meister des Kupferstichs dank der Natürlichkeit seiner Haltung gelobt, da darf man sich sicher sein, und vielleicht war Lichtenberg ja auf seiner Englandreise auch wirklich Gainsboroughs Werken begegnet.

Der dritte Teil von Ausstellung und Katalog – »Der kreative Prozess« – gilt dem fantasievollen Experimentator Gainsborough, der während seines gesamten Schaffens immer wieder Neues versuchte; nicht allein, dass er auf dem Gebiet der Ästhetik neue und eigene Wege ging, sondern er überlegte sich auch zahlreiche technische Neuerungen, die im Katalog von Rica Jones detailliert beschrieben und in starken Vergrößerungen illustriert werden, angefangen mit zerstoßenem Glas in der Farbe schon seiner frühen Bilder. Nach der Lektüre des Aufsatzes schaut man ganz anders nicht allein auf die Ölgemälde, sondern besonders auch auf die Zeichnungen und Grafiken, für die sich Gainsborough allerhand einfallen ließ, um sie seinen Gemälden ähnlicher zu machen. Ich habe selten so schöne, ja prachtvolle und opulente Zeichnungen gesehen.

»Experiment und Variation« heißt der einführende Beitrag von Katharina Hoins in das entsprechende Kapitel des Kataloges, in dem eine ganze Reihe von teils allein ihm eigenen Techniken Gainsboroughs erläutert werden; hier wird dieselbe Thematik wie in dem Aufsatz von Jones vorgestellt, allerdings eher summarisch. Besonders die Grafik Gainsboroughs ist gelegentlich atemberaubend, und zwar eben durch seine handwerkliche Meisterschaft. In dem Zusammenhang soll auch noch auf die ihm selbst offenbar sehr wichtige Bifokalität der Bilder Gainsboroughs hingewiesen werden, darauf, dass sie aus der Entfernung einen ganz anderen Eindruck hinterlassen als aus der unmittelbaren Nähe. Tritt man näher heran, steht man vor Flecken und Strichen, sieht aber (noch) keine Gegenstände oder Figuren. Gainsborough kam es ja auch zunächst und vor allem auf die Farbe an, und so wird auf den Einfluss Tizians hingewiesen; aber auch das 19. Jahrhundert kannte diese zwei Blicke auf ein Bild, eines aus der Entfernung, eines aus der Nähe. Besonders bei Gemälden des großen Schweden Anders Zorn ist das sehr auffällig.

Gainsboroughs mit Ölfarbe auf Glasplatten gemalte Bilder, in denen Gockel ein neues Konzept der Landschaftsmalerei entdeckt, gehören ebenfalls zu den Innovationen: sie wurden von hinten beleuchtet, und jeder kann sich selbst überlegen, dass der Farbauftrag umgekehrt erfolgen musste. Zuerst wurden also die Lichter aufgesetzt, dann wurde die Pflanzen und Figuren aufgetragen, schließlich – als letztes! – die Grundierung. Diese verschiedenen, zum Teil recht ausgefallenen Techniken werden, angefangen bei der Grundierung auch der ganz normalen Bilder, von Jones sorgfältig beschrieben. Der erfindungsreiche Gainsborough erweist sich damit als Kind seiner Zeit und seines Landes, nämlich als ein allen möglichen Erfahrungen offenstehender, innovationsfreudiger Mensch. So sind es merkwürdig altmodische Bilder mit modernen Elementen oder doch wenigstens weiten Ausblicken in die Zukunft der Malerei.

Man besucht also eine sehr komplette Ausstellung, insofern sie sämtliche Aspekte des künstlerischen Schaffens des Landschaftsmalers Thomas Gainsborough behandelt, angefangen mit sozial- und kulturgeschichtlichen Fragen über ästhetische Probleme bis hin zu der handwerklichen Seite seiner Malerei und seines Zeichnens. Der Porträtist Gainsborough kommt in der Ausstellung, wenn man von »Mr. und Mrs. Andrews« absieht, kaum vor, aber dafür in dem ebenfalls sehr empfehlenswerten Katalog, denn Mark Hallett, der über »Gainsborough in der Sommerausstellung« schreibt, behandelt ausführlich einige dieser Porträts.

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