Ausstellungsbesprechungen

Von Farbe und Bewegung. Arbeiten von Ruth Engelmann-Nünninghoff und Annelie Scherschel-Freudenberger. Martin-Niemöller-Haus, Frankenholz. Bis 31. Dezember 2009

Der Besucher trifft in dieser Ausstellung auf die farbdurchglühte und farbreduzierte, von ausbalancierten Strukturen und kraftvollen Formwirbeln geprägte Malerei von Ruth Engelmann-Nünninghoff und Annelie Scherschel-Freudenberger, die in knapp 30 Arbeiten die Wirklichkeit auf subjektive Weise durchleuchten. Eine Empfehlung von Verena Paul.

Scherschel-Freudenberger ließ sich von der imposanten Kraft der Natur auf Isle of Wight, einer Insel im Ärmelkanal, inspirieren. Sie nahm die Formensprache der Natur in Fotos, Skizzen und Zeichnungen auf, um schließlich in Ölgemälden und Werken in Mischtechnik den Weg in die Abstraktion einzuschlagen. Engelmann-Nünninghoff dagegen ist von den sie umgebenden Dingen des Alltags angezogen, die sie sich in gegenstandsloser, emotional aufgeladener Formensprache aneignet. Die Realität wächst ihr zu, so dass ein Strich viel schelmischer, verspielter und hintergründiger erscheinen kann als das reale Objekt selbst. In diesem Sinne trifft Pablo Picasso den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt: „Die Kunst ist eine Lüge, die uns erlaubt, uns der Wahrheit zu nähern, zumindest der Wahrheit, die uns verständlich ist.“ Bei Kunstbetrachtung geht es um Annäherung, um Einfühlung in die Materie, um Ideen und eben dem Betrachter verständliche Wahrheiten.

Bei den Gemälden von Annelie Scherschel-Freudenberger lockt uns zunächst der Auftrag der Farben an, die die Zweidimensionalität der Leinwand sprengen. Und so wölbt und räkelt sich bei den acht kleinformatigen Arbeiten die pralle, leuchtend rote Masse geschmeidig auf der Leinwand oder das aus dem Bildgrund heraus gezupfte, glänzende Dunkelblau stößt scharfkantig in den Raum. Nichts ist „ausgemalt“ oder „angemalt“, vielmehr entstehen die Formen aus den Farben heraus, die als ein Wirklichkeit erzeugendes Material für den Betrachter erfahrbar werden. Der Klang der Couleur ist rein, ohne dabei der Monotonie anheim zu fallen. Blau, Rot und Grün sind die Protagonisten, die als Gegenspieler im Bild Spannung erzeugen. Doch auch die Zwischentöne verschaffen sich Gehör und komplettieren den Bildorganismus zu einer dynamischen Einheit. Dergestalt geben die Licht reflektierenden Gebilde aus Ölfarbe peu à peu eine Landschaft frei, die sich aus dem Korsett ihrer natürlichen Formen befreit hat. Alles verschwimmt, geht neue Verbindungen ein und doch pulsiert die Gewalt des peitschenden Meeres, die Erhabenheit der Steilklippen unter oder inmitten der zahlreichen Farbschichten.

Virginia Woolf beschreibt in ihrem Buch „Zum Leuchtturm“ dieses Herantasten einer Künstlerin an das Unbekannte, im Grunde Unbenennbare, in metaphernreicher, aber klarer Sprache: „Schön und leuchtend sollte es an der Oberfläche sein, federleicht und flüchtig, eine Farbe mit der anderen verschmelzen wie die Farben auf einem Schmetterlingsflügel; doch darunter mußte das Gespinst mit eisernen Bolzen zusammengehalten werden. Es mußte ein Etwas sein, das sich auch mit einem Pferdegespann nicht vom Fleck bewegen ließe. Sie fing an, ein Rot, ein Grau aufzulegen, und sie begann, sich ihren Weg in den Hohlraum dort zu modellieren. […] Und wie sie in die blaue Farbe tauchte, so tauchte sie auch in die Vergangenheit ein.“

Während sich in den Zeichnungen von Scherschel-Freudenberger die breiten, kraftvollen Linien bündeln und lösen, Farbe eingeschlossen, zum Bildrand hin wieder frei gegeben wird und dabei die Küste der englischen Insel vertraute Konturen erhält, lösen sich diese Realitätspartikel in den Ölgemälden also auf. Allerdings ist dieser Verlust der Gegenständlichkeit keineswegs an einen Verlust von Aussagekraft gekoppelt. Ganz im Gegenteil. Das geheimnisvolle Flüstern, Zischeln und Gurgeln der Wellen, das Klatschen des Wassers an Felsen und Klippen und das wilde Getose des Meeres kann jetzt noch intensiver von uns wahrgenommen werden. Denn die expressive Farbgestaltung und die lebhafte Formdynamik rufen beim Betrachter unmittelbar Gefühle hervor: Wir sind aus der Reserve gelockt, neugierig, würden am liebsten mit den Fingern die Schatten produzierende Oberfläche ertasten und ergründen.

So auch bei den beiden großformatigen Ölgemälden im Zentrum des Ausstellungsraumes, die den Blick auf steil ins Meer abfallende, weiße Klippen frei geben. Ungestüm und schroff begehren die tiefblauen Wellen gegen die Felsen auf und der von Rot gebrochene, mit breiten Pinselzügen aufgewirbelte Horizont erhebt sich bedrohlich über dem Naturspektakel. Die Linie, die Scherschel-Freudenberger zwischen Meer und Horizont gezogen hat, lässt an das Ende von Virginia Woolfs Roman denken, wo uns die Autorin das fertige Bild der Künstlerin vor Augen führt: „Da war es – ihr Bild. Ja, mit all seinem Grün und den Blaus, den aufwärts und quer verlaufenden Linien, seinem Versuch, etwas zu werden. […] sie blickte auf ihre Leinwand; sie war verschwommen. Mit plötzlicher Zielstrebigkeit, als sehe sie sie einen Augenblick deutlich vor sich, zog sie dort eine Linie, in der Mitte. Es war vollbracht; es war vollendet. Ja, dachte sie, als sie in äußerster Erschöpfung den Pinsel niederlegte, ich habe sie gehabt, meine Vision.“

Bei den vier Arbeiten in schwarzen Schattenfugenrahmen versiegelt Scherschel-Freudenberger die Leinwand nicht zur Gänze mit Ölfarben, sondern erprobt die materielle Beschaffenheit, indem sie die Farben wegwischt, Leinwand freilegt und mit Pastellkreide, Filz-, Blei- und Kohlestift neue Farbschichten darüber legt. Dabei erhalten diese Werke mit ihrer stimmungsvollen Landschaft einen archaischen Zug.

Und daran knüpft auch Ruth Engelmann-Nünninghoff mit ihren Hartfaserplatten an, die eine materielle Eigenwertigkeit erlangen. Die aufgeraute, poröse Oberflächenstruktur bleibt in ihrer braun-matten Farbigkeit partiell erhalten und verleiht dem Ganzen einen vergangenheitsschwangeren Duktus. Auf diese Weise erinnert der schwarze, von Weiß gebrochene Farbblock und das dynamische, leuchtend rote Lineament an die ausgeprägte Zeichensprache von Höhlenmalerei. Auch das sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindende bizarre, rosenwangige Gesicht, das aus zarten Farben aufgebaut ist, lässt an längst vergangene Zeiten denken. Ein Stück entrückt und aus der Zeit gefallen, wohnt dieser Arbeit eine aufrüttelnde Subtilität inne, die aus dem Ineinander von unspektakulären Beobachtungen und poetischen Miniaturen resultiert.

Bei den Arbeiten auf Papier zielt die Künstlerin in gewohnter und dennoch gewandelter Weise auf Spannungen und Widersprüche im Bild, die unsere Sehnerven reizen und zum genauen Hinsehen auffordern. Die leuchtenden Farbfelder der vergangenen Jahre wurden in ihrer Intensität zurückgenommen, so dass die Bewegung und Manövrierfähigkeit des Spachtels in den hier gezeigten Blättern eine noch größere Bedeutung erfährt.

Paradigmatisch ist diese farbliche Rücknahme in der markanten, schwarz-weißen Arbeit. Der weiße Grund saugt das gesättigte Schwarz auf, unterstreicht jede Ausstülpung, jede Kurvatur, die mit dem Spachtel vollzogen wird. Wie die Künstlerin zu dieser Farbreduktion gelangt ist? Eine gute Frage! Möglicherweise ertappte sich Engelmann-Nünninghoff, und noch einmal sei Virginia Woolf zitiert, „wie sie jenes Bild malte, den Blick darüber hinweggleiten ließ und so in der Phantasie den Knoten entwirrte. Doch zwischen diesem luftigen Entwerfen fern der Leinwand und dem Schritt, nun wirklich den Pinsel [bzw. Spachtel] zu nehmen und den ersten Strich zu machen, lagen Welten.“ Doch wenn die Künstlerin dann den Spachtel in Händen hält, geht alles unkontrollierbar schnell und mit schlafwandlerischer Stilsicherheit.

Aussparung zeugt von Intuition, kostet Überwindung und will gedanklich ausgereift sein. Aufgefächert oder dicht gedrängt, leicht oder kraftvoll aufgetragen, schwungvolle Rundungen oder kantig-geometrische Formen produzierend: Die Arbeiten Engelmann-Nünninghoffs zielen auf eine Ökonomie von Linie und Fläche. Beispielsweise bei jenem gelbgrünen Werk, dessen Farben wie Flammen emporzüngeln. Dabei stören keine Ausläufer, keine Farbinterventionen die Bewegung oder das entschiedene Erklimmen des oberen Bildrandes.

Christoph Heinrich, Kurator am Denver Art Museum, hat die Freiheit und Offenheit, aber auch die Verpflichtung von moderner Kunst pointiert formuliert; er sagt: „Wenn wir als Kinder der Nachmoderne eines gelernt haben, dann doch, dass in der Kunst alles möglich ist – wenn es nur mit Entschiedenheit und Wahrhaftigkeit vertreten wird!“ Und in der Tat vertreten Ruth Engelmann-Nünninghoff und Annelie Scherschel-Freudenberger mit entschiedener, zielsicherer Form- und Farbsprache sowie inhaltlich authentischer Bildaussage die Freiheit und Offenheit von Kunst, die zum perspektivschärfenden Streitgespräch einlädt.

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