Ausstellungsbesprechungen

WIRKLICHKEITEN: Schmalfuss Berlin, Kulturfabrik Apolda, bis 11. Oktober 2015

Was ist wirklich? Was sehen wir? Und was von dem, das unser Auge uns zeigt, ist tatsächlich so wie unsere Wahrnehmung uns vorgaukelt? Diese und andere tiefschürfende Fragen kann man sich in diesen Tagen bei einem Besuch in Apolda stellen, wenn man den Weg in die Kulturfabrik einschlägt. Stefanie Handke hat das getan.

Wieder einmal zieht es uns nach Apolda. Nachdem die Kulturfabrik hier bereits die Raab Galerie aus Berlin begrüßen durfte, sind jetzt die Kunstwerke der Schmalfuss Galerie zu Gast. Überzeugt vom Konzept der Kulturfabrik und der Idee, Kunst in eine Region fern der Metropolen zu bringen, ist die Galerie dem Ruf nach Apolda gern gefolgt. Dabei treffen etablierte Künstler auf den Nachwuchs – und auch die Kuratoren bringen frischen Wind ins Geschäft, denn die jungen Kuratoren Nils Hilkenbach, Katarina Lozo und Jonas Wietelmann haben sich in Zusammenarbeit mit Michael Schmalfuss der neun Künstler angenommen.

Herausgekommen ist dabei eine Schau, die Malerei und Skulptur, Installation und Videokunst vereint. Im ersten Raum begegnen dabei zunächst die großen Namen: Carlo Borer Objekte bewegen sich irgendwo zwischen Skulptur und Wandobjekt. »Cluster« und »Clouds« nennt er sie, diese miteinander verbundenen Blasen aus glänzendem Stahl. Sie treten in einen Dialog mit ihrer Umgebung, spiegeln und verzerren die Wirklichkeit (ja, auch den Betrachter!), lösen den Raum auf. Auch die »Matchstick Men« von Wolfgang Stiller werden so in diese gespiegelte und verzerrte Wirklichkeit Borers hineingesogen. Mannshohe, mal mehr oder weniger abgebrannte Streichhölzer zeigen Porträtköpfe, eben »Streichholzköpfe«. Das ist zuerst einmal ein humorvolles Wortspiel, kann aber auch als Gesellschaftskritik verstanden werden: der im wahrsten Sinne des Wortes austauschbare Mensch wird erst im Augenblick seines Niedergangs (des Anzündens) zum Individuum. Und auch die anderen Werke Stillers lassen einen an den kollektiven Menschen denken: die »Twins on Scale« zum Beispiel unterscheiden sich auf den ersten Blick nicht, doch die Waage offenbart einen (Gewichts-)Unterschied!

Nachdem die beiden hochkarätigen Künstler einen Einstieg in die Frage nach dem Wie unserer Wirklichkeit geliefert haben, nehmen sich einige junge Künstler mindestens ebenso kreativ des Themas an: Ludwig Kupfer präsentiert drei unbetitelte Bilder, irgendwie konstruktiv, irgendwie aber auch surreal. Man meint, darin Räume und Bauwerke zu erkennen, doch so ganz passt es nie. Ihm zur Seite stehen Sophia Hoses Installationen und Jin Ran Has Video-Installation »Einer für alle – alle für einen«, die ein bisschen auf Stillers Matchstick Men eine Etage tiefer antwortet: Hier sieht man Streichhölzer im Prozess des Abbrennens und sich so in die verkrümmten, im Erdgeschoss im Überformat stehenden Gebilde verwandeln. Sophia Hoses unbetiteltes Werk nimmt die Wirklichkeit um uns und vor uns auf die Schippe: Es mutet auf den ersten Blick an wie eine überdimensionierte Fernsehröhre, die uns eben kein klares Bild vermittelt, sondern das, was sie zeigen soll, pixelig und verschwommen wiedergibt: Hier wird nichts abgebildet, hier wird die Wirklichkeit mit einem Schleier aus Unwirklichkeit, Vereinfachung und Abstraktion belegt.

Zuletzt schließlich treffen sich bekannte und aufstrebende Künstler: Ulrike Bolenz‘ Werke teilen sich den Platz mit denen von Martin Paul Müller und »Columnar Theme« von Julia Langhammer und Thomas Schmelzer. Sie bilden einen würdigen Abschluss der Schau, denn hier trifft noch einmal alles aufeinander: Die erschreckend wirklichen Säulen Langhammers und Schmelzers, die aber natürlich herzlich wenig mit den antiken Säulen aus dem Schulunterricht zu tun haben, die unsere Lehrer stets so hoch lobten, scheinen dann doch realer als die antiken Werke. Martin Paul Müllers Bilder sind ebenso unwirklich wirklich wie die Ludwig Kupers; zwar sind sie gegenständlicher und ihre Bildobjekte, »Hunde« und »Läufer« klar zu erkennen, doch schälen sie sich aus einem unbekannten Hintergrund, der alles sein kann und nichts.

Ulrike Bolenz‘ Folien beschließen sodann den Rundgang und werfen noch einmal einen kritischen Blick auf unsere Gegenwart: Ihre Männer und Frauen sind im wahrsten Sinne des Wortes transparent; die Künstlerin druckt auf Plexiglas und Acrylfolie. So kann sie auch mehrere Lagen hintereinander anordnen, die zudem frei zueinander angeordnet werden können – der Mensch ist austauschbar, beliebig, kaum mehr als ein Rädchen im Getriebe. Das verdeutlichen auch Strichcodes und DNA-Ketten. Dabei liegen Wurzeln der Idee noch vor der Zeit der allgegenwärtigen Kopie: Die Künstlerin kam durch die Beschäftigung mit den frühen Fotografien, den Daguerrotypien, auf die Idee, durch die Transparenz des Materials auf die veränderten Sehgewohnheiten in Zeiten der Bildschirme und Computergrafiken einzugehen. Heraus kam eben der transparente und kollektivierte Mensch: die Wirklichkeit im 21. Jahrhundert.

Welchen Wirklichkeiten die Schau nun zeigt, das muss jeder Besucher für sich entscheiden. Auf jeden Fall aber lässt sie uns unsere Wahrnehmung neu entdecken, hinterfragen und entlarven und bringt uns unsere Gegenwart auf spannende Art und Weise nahe!

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