Ausstellungsbesprechungen

Ernst Ludwig Kirchner, Der Maler als Bildhauer

Lange hat man glauben können, die Werke der Expressionisten seien in den vergangenen Jahrzehnten durch ihre Omnipräsenz in Kunstkalendern und in Bergen von Bildbänden zu sattsam bekanntem Alltagsallerlei verkommen, das kaum noch wirklich wahrgenommen wurde. Doch da ist er wieder, von Washington bis Basel, von Davos bis Berlin: Der Expressionismus lebt in großartigen Ausstellungen wieder auf und scheint neben der Romantik gar die deutsche Seele, zumindest die Gemüter neu zu bewegen.

Die Stuttgarter Staatsgalerie leistet dazu einen wichtigen Beitrag mit ihrer Ausstellung von rund 60 Plastiken Ernst Ludwig Kirchners (1880-1938), ergänzt durch über 70 Gemälde, Wandteppiche, Zeichnungen, Grafiken und Fotografien. Nicht dass ein neues Werk zu entdecken wäre, ist das eigentliche Verdienst der Schau - und hier kommen dem Betrachter tatsächlich manche Arbeiten so ungesehen frisch vor, wie einst die klassischen Modernen aus der Barnes Collection in München -; das beeindruckende ist, Kirchners Oeuvre in einem neuen Licht sehen zu können. Dabei ist die Frage fast zweitrangig, ob man die Kirchner-Skulpturen nun gleichwertig neben Barlach, Lehmbruck oder Picasso stellen könnte.

Ernst Ludwig Kirchner ist bekannt als Großstadtmaler der Künstlervereinigung »Die Brücke«, dessen Gemälde und Grafiken sich durch überspitzte, kantige Linienführung auszeichnen (gegen den weicheren Stil Heckels oder die landschaftsorientierten Bilder Otto Muellers und Emil Noldes), was er freilich auch bleiben wird. Die Plastik spielte bislang eher die Rolle des Beiwerks - wie auch bei dem Malerkollegen Erich Heckel, der die dreidimensionale Kunst in der Gruppe einführte. Paul Gauguin war als Vorbild unverkennbar, und die so genannte Primitive Kunst zog die europäischen Künstler in ihren Bann. August Macke von der [>]Fraktion[<] der »Blauen Reiter«, die sonst weit weniger nach Zentralafrika oder Polynesien blickten, schrieb: »Die Bronzegüsse der Neger von Benin in Westafrika (im Jahre 1889 entdeckt), die Idole von den Osterinseln aus dem äußersten Stillen Ozean, der Häuptlingskragen aus Alaska und die Holzmaske aus Neukaledonien reden dieselbe starke Sprache wie die Schimären von Notre-Dame und der Grabstein im Frankfurter Dom.« Kirchner schloss sich dieser Sicht an und schuf geradezu Musterbeispiele für die symbiotische Annäherung der Moderne an die außereuropäische Plastik - gerade die Staatsgalerie besitzt mit den Aktfiguren »Adam« und »Eva« (1921) zwei Hauptwerke dieser Phase, die sich auszeichnet durch eine naturalistische Abstraktion im engsten Sinne. Was dies heißt, beschreibt Carl Einsteil so: »was hier als Abstraktion erscheint, ist dort [in der afrikanischen Kunst] unmittelbar gegebene Natur. Die Negerplastik wird sich im formalen Sinn als stärkster Realismus erweisen«, wobei die Abstraktion auch religiös motiviert ist; »ja auch im Bildwerk des gemeinen Mannes wird ein Göttliches angeschaut, ja verehrt [...]. In einer solchen Kunst finden individuelles Modell und Porträt keinen Platz«. Höhepunkt der künstlerischen Auseinandersetzung mit den »Primitiven« ist nach den Vorgaben Gauguins das Gemälde »Les Demoiselles d\'Avignon« (1907) von Picasso.

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Genau an dieser Schnittstelle einer grandiosen Wechselbeziehung (die erst wieder in den letzten Jahren auf vergleichbarer Höhe erreicht worden ist) setzt die Kirchner- Ausstellung an, um sogleich darüber hinaus zu gehen. »Es ist so gut für das Malen und Zeichnen, Figuren zu machen, es gibt der Zeichnung Geschlossenheit, und es ist ein sinnlicher Genuss, wenn Schlag auf Schlag die Figur aus dem Stamm herauswächst. In jedem Stamm steckt eine Figur, man braucht sie nur herauszuschälen.« Kirchners Begeisterung für die Plastik, die an Michelangelos Diktum erinnert, die Idee der Skulptur wäre bereits dem Stein (!) eingegeben, verrät Kirchners Selbstverständnis als Bildhauer - nicht als Maler, der beiläufig auch dreidimensional arbeitet. Und zunächst »schält« der Expressionist die Figuren aus jedem verfügbaren Material: Um 1910 entstehen vorwiegend kleinformatige Arbeiten aus Ton, Muschelkalk, Sandstein, gehämmertem Silberblech, getriebenem Silber, gegossenem Zinn - wobei er auch mal leere Farbtuben einschmolz und verarbeitete - und immer wieder Holz, das bald sein ausschließliches, »einzig künstlerisches« Medium wird; die Ernsthaftigkeit lässt sich an der Vielfalt der Holzarten ablesen, die zum Teil sogar angeschwemmte Fundstücke einbeziehen: Arven- und Föhrenholz, Erle, Kastanie, Lärche, Nussbaum, Platane, Schwarzpappel, schwarze Wassereiche oder auch nur Kistenholz. Über 140 Plastiken hat Kirchner geschaffen, fast 80 sind erhalten geblieben bzw. unmittelbar nachweisbar.

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Die Ausstellung, die zuvor im Kirchner-Museum Davos gezeigt und für Stuttgart noch erweitert worden ist, bietet durch Ausstellungskonzept und Hängung gleich mehrere Zugänge. Erstens: Die Korrespondenz von Kirchners Malerei und Skulptur fällt zunächst ins Auge. In seinen Bildern tauchen immer wieder Motive aus der figürlichen Plastik auf, die die Bildbetrachtung zur kleinen Entdeckungsreise machen und vor allem die Unterschiede zwischen gemalter Echtfigur und gemalter Kunstfigur deutlich werden lassen - ganz plötzlich wirkt die bei allen Expressionisten holzschnitthaft vereinfachte, häufig maskenhafte Menschendarstellung sehr viel lebendiger neben den skulpturalen Bildelementen. Die Korrespondenzen werden noch ergänzt durch die Fotografien, mit denen Kirchner seine Arbeit dokumentierte: sowohl die (lebendigen) Modelle wie die Plastiken selber (nebenbei werden mit den Fotos auch verloren gegangene Werke in die Ausstellung einbezogen).

Zweitens: Gegen den Trend zur Entindividualisierung und religiösen Überhöhung entfernt sich Kirchner mehr und mehr vom Brücke-Stil, hin zum Porträt und zur Darstellung des ländlichen Lebens - ohne den flüchtig-spontanen »Schlag-auf- Schlag«-Charakter aufzugeben. In den späteren Phasen findet Kirchner zu einem ruhigeren und geglätteten, nahezu neusachlichen Stil. So beeinflusste der Künstler noch die weitere Entwicklung der expressionistischen Plastik, wie sie bei seinem Schüler Hermann Scherer zu beobachten ist.

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Drittens: Die souveräne Ausstellungsgestaltung arbeitet ganz unaufdringlich einen weiteren, existenziellen Aspekt heraus. Den Kern des Ausstellungsraumes bilden die Gebrauchsobjekte und kunsthandwerklichen Plastiken, die auf das rein künstlerische Werk ausstrahlen. Kirchner schnitzte Portal- und Giebelfiguren, Möbel (Bett, Spiegel, Stühle, Türen), Holztruhen und -schachteln bis hin zu einer Kaffeemühle. Die Plastik bestimmte den Lebensalltag des Künstlers - sein Wohnhaus in Davos baute er regelrecht zum Gesamtkunstwerk aus.

Der Erfolg, der Kirchner in der Schweiz (1933 feierte Bern den Künstler mit einer großen Überblicks-Ausstellung; dazu kamen öffentliche Aufträge auch als Bildhauer) und bis in die 30er-Jahre in Deutschland zuteil wurde, konnte über die persönliche Tragödie nicht hinwegtäuschen. Bereits der Erste Weltkrieg stürzte den Maler in eine tiefe depressive Krise, die ihn zeitlebens begleitete. Die Präsentation einiger seiner Bilder in den USA 1937 wurde überschattet von der Diffamierungskampagne der Nazis, die Kirchner für »entartet« erklärten - rund 640 seiner Werke wurden beschlagnahmt und teilweise zerstört. Obwohl er die Schweizer Staatsbürgerschaft erwarb, hielt der psychisch labile Künstler die Angst vor der Nazibedrohung nicht mehr aus. Am 15. Juni 1938 nahm er sich das Leben.

Ergänzt wird die Ausstellung durch eine kleine Sonderausstellung »Kirchners Zeitgenossen«, die Werke von Ernst Barlach, Max Beckmann, Wilhelm Lehmbruck, Ewald Mataré und Henri Matisse aus dem Bestand der Staatsgalerie zeigt - mit ganz unterschiedlichen Positionen der plastischen Gestaltung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Außerdem ist neben dem vorzüglichen Katalog das von Wolfgang Henze erstellte Werkverzeichnis der Plastiken Ernst Ludwig Kirchners zum Preis von EURO 42 während der Ausstellung erhältlich. Das benachbarte Lindenmuseum bietet monatliche Themenführungen durch ihre Sammlung afrikanischer Plastiken an unter dem Titel »Ernst Ludwig Kirchner und die außereuropäische Skulptur«.

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