Buchrezensionen

Marina Abramovic. The Cleaner, Hatje Cantz 2017

Ihre Radikalität ist ihr Markenzeichen und vor allem der Grund für ihren Erfolg: Marina Abramovic legt den Finger in die eigenn Wunden, aber auch in die der Kunstwelt. Damit hat sie der Performancekunst geprägt und den Körper in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gestellt wie kaum ein anderer Künstler. Mit »The Cleaner« ist nun die große Retrospektive in Buchform erschienen. Vanessa Gotthardt hat sie gelesen.

Wer sich mit Performance Art beschäftigt, der kommt nicht an Marina Abramović vorbei, der maßgeblichen Wegbereiterin dieser Kunstrichtung. Spätestens mit ihrem 2013 erschienen Film »The Artist is present«, hat sie den Zugang zu dieser Kunstform auch jenseits der Kunstwelt für ein breites Publikum geöffnet.

Anlässlich einer Retrospektive, die in Zusammenarbeit der Bundeskunsthalle Bonn, dem Louisiana Museum of Modern Art und dem Moderna Museet Stockholm entstanden ist und die 2017/18 durch diese drei Museen wandern wird, ist Anfang des Jahres ein Katalog erschienen, der das schier Unmögliche vermag: auf nahezu 280 Seiten fängt er präzise das Œuvre einer Künstlerin ein, das sich aufgrund des der Performance inhärenten Charakters eigentlich gar nicht einfangen lässt.

Schon im Vorwort wird von den Machern der Ausstellung genau diese Problematik aufgeworfen: Wie bewahrt und – im Hinblick auf die Ausstellung – wie präsentiert man im Rückblick Kunst, die per se nur im Augenblick existiert, praktisch immer an ein Jetzt gebunden ist? Äußerst treffend wird hierzu später Peggy Phelan zitiert: »Das einzige Leben der Performance findet in der Gegenwart statt. Die Performance kann nicht bewahrt, aufgezeichnet, dokumentiert werden. […] Das Wesen der Performance […] bleibt selbst durch Verschwinden. «

Videoaufnahmen und Fotografien sind seit jeher ein bewährtes Hilfsmittel der Dokumentation. Der Katalog jedenfalls zeigt hinsichtlich der performativen Arbeiten eindrückliche Fotos und Film-Stills, die durch Abramovićs eigene Beschreibungen der jeweiligen Performance ergänzt und erklärt werden. Nicht selten ist eine blutende, weinende, verschwitzte und nackte Künstlerin zu sehen, die mal kämpferisch in die Ferne blickt, mal apathisch in sich selbst versunken ist, an manchen Stellen schließlich – und diese Dinge erfährt man in den Beschreibungstexten – gleich das Bewusstsein verlieren wird. Unterteilt wurde ihr aus Malerei, Fotografie, Filmen, Objekten, Installationen und performativen Arbeiten bestehendes Œuvre in drei große Einheiten: Das Frühwerk von 1965 bis 1975, das neben den frühen Performances sowohl ihre eher selten gezeigten Gemälde, als auch Fotos ihrer frühen Sound Environments im Student Cultural Center (SKC) in Belgrad zeigt, dann die Arbeiten, welche in Zusammenarbeit mit dem deutschen Künstler Ulay zwischen 1976 und 1988 entstanden sind und schließlich ihre »Solowerke« von 1991 bis 2017.

Die den Abbildungen vorangestellten Essays von Lena Essling und Tine Colstrup geben einen umfassenden Überblick zum über 5 Jahrzehnte umspannenden Werk der Künstlerin. Lena Essling, Kuratorin des Moderna Museet in Stockholm, ermöglicht hierbei einen kurzen, aber dennoch umfassenden Gesamtüberblick zu Abramovićs Arbeiten. Im Sinne der Retrospektive reist Essling mit dem Leser entlang der Zeitleiste und zeigt dabei versiert Abramovićs Entwicklung als Künstlerin. Gemäß der Einteilung des Katalogs schreitet sie die Anfänge in Belgrad, die intensive Zusammenarbeit mit Ulay und Abramovićs Entwicklung als Solokünstlerin ab, wobei sie anhand maßgeblicher und als wegbereitend geltender Werke die zentralen Themen der Künstlerin skizziert: die Grenzen des eigenen Körpers und die Zeit.

Tine Colstrup widmet sich in ihrem Essay vor allem dem eher unbekannten, malerischen Frühwerk Abramovićs, die 1970 die Kunstakademie Belgrad als »academic painter« verließ und sich danach nicht mehr mit der Malerei beschäftigte; zu eng waren ihr auch hier die Grenzen, vorgegeben durch Rahmen und Zweidimensionalität. Colstrup, welche die Ausstellung als Kuratorin des Louisiana Museum of Modern Art miterarbeitet hat, legt schlüssig dar, dass Abramović die zwei großen Werkformeln ihres Œuvres, den energetisch aufgeladenen Zusammenprall zweier Körper und das Interesse für das Spirituelle bereits in ihren sehr frühen Gemäldeserien klar formuliert hat. Sie bezieht sich hierbei auf die Reihe der Lastwagenunfälle (»Truck Accident« I-III, 1963) und die Wolkengemälde, wie »Clouds in the Shadow« (1969) oder »Black Clouds Coming« (1970).

Ebenfalls retrospektiv greift die Kunsthistorikerin Bojana Pejić, die wie Abramović in Belgrad aufgewachsen ist, in ihrem Essay vor allem Abramovićs Umgang mit dem Erinnern auf. Was bedeutet es für eine Künstlerin, welche die meiste Zeit ihres Lebens im Exil gelebt hat, kulturelle und persönliche Erinnerung in ihr Werk aufzunehmen? Abramović bezieht sich in ihren Arbeiten seit Beginn der 90er Jahre immer wieder andeutungsweise auf die historische und zeitgenössische politische Situation in Jugoslawien. Hatte sie vor der Vereinigung mit Ulay noch versucht, sämtliche Prägungen ihres Geburtslandes durch die Performances »Freeing the voice«, »Freeing the Memory« und »Freeing the Body« (1975) hinter sich zu lassen, blickt sie jetzt zurück und macht in der Theaterperformance »The Biography« (1992) oder Performances wie »Delusional« (1994), »Balkan Baroque« (1997) und »Count On Us« (2004) ihre kulturelle und persönliche Geschichte zum Gegenstand ihrer Kunst. Warum sie dabei niemals einen freundlichen Blick auf ihre Vergangenheit und ihre ehemalige Heimat werfen kann, erklärt Pejić mit einer Metapher: Jugoslawien, das sei für Marina Abramović weniger ein realer Ort auf einer Landkarte, als vielmehr gleichbedeutend mit ihrer eigenen Familiendynamik und ihrer von strikten Regeln durchzogenen Kindheit im lieblosen Elternhaus.

Devin Zuber unternimmt schließlich im letzten Essay eine Verortung des Spirituellen in Abramovićs Kunst und versucht dabei, wiederum ausgehend von Abramovićs gesamten Œuvre, eine Verbindung zum Mystizismus und der Ästhetik des schwedischen Naturwissenschaftlers Emanuel Swedenborg (1688-1772) herzustellen. Abramović, die schon zu Beginn ihrer künstlerischen Karriere und vor allem auch während ihrer Zeit mit Ulay Interesse für ritualisierte religiöse Praktiken zeigte, hat sich mit einigen Arbeiten immer wieder in die Tradition des Künstlers als Schamanen (wie sie vor allem von Beuys praktiziert wurde) eingereiht und bekennt sich heute offen zu ihrer Spiritualität und der für sie gültigen Tatsache, dass ein Kunstwerk immer auch eine spirituelle Komponente enthalten sollte.

Interessant ist, dass alle Essays des Katalogs immer in Hinblick auf einen ganz bestimmten Aspekt Retrospektion halten, sei es nun Spiritualität, die Entwicklung einzelner Werkformeln oder Abramovićs Kunst im Kontext von Historie und Politik. Die dadurch entstehende Multiperspektivität, die sich an den immer gleichen Hauptwerken Abramovićs abarbeitet, zeigt einmal mehr, dass sich ihre Kunst niemals auf eine einzige Deutung reduzieren lässt und von einer unglaublichen Vielfalt geprägt ist.

Ein Highlight des Katalogs ist sicherlich das Gespräch, das zwischen Marina Abramović und Adrian Heathfield stattgefunden hat. Heathfield erörtert mit der Künstlerin, was es bedeutet, dem Werk des ganzen bisherigen Lebens gegenüberzutreten. Wenn sie aus nahezu 70 Jahren Leben und Kunst berichtet, anrührende Anekdoten aus ihrer Kindheit erzählt und immer wieder die stetig fortwährende Entwicklung ihres künstlerischen Daseins erklärt, wird deutlich, wie sehr es ihr bis heute ein Anliegen ist, die der initiierten Kunstwelt eigenen Grenzen zu sprengen, neue Kanäle zum Publikum zu finden und ihr Medium, die Perfomancekunst, weiter zu entwickeln. Sie hat immer wieder versucht »[…] Systeme zu schaffen, die den Leuten Instrumente für sich selbst an die Hand geben. Man erlebt nicht etwas, weil ich da bin. Man selbst ist der Auslöser«

Auch der Katalog ist ein Erlebnis und macht in jedem Fall Lust auf eine tolle Ausstellung.  Ab dem 20. April 2018 wird sie in der Bundeskunsthalle Bonn zu sehen sein.

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